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1961

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Systematische Theologie: Allgemeines

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611

Theologische LiteratuTzeitung 1961 Nr. 8

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über Gott als dem frei und grundlos Barmherzigen" (Kirchliche
Dogmatik Vi, S. 512 f.).

Der quantitativ verstandene, ,,nackte" Distanzgedanke kann
so wohl eingekapselt und vorläufig unschädlich gemacht werden,
aber er kann olfenbar nicht aus der Barthschen Dogmatik ausgestoßen
und ganz beseitigt werden. Die6e wird weiterhin von
einer zumeist latenten Tendenz geprägt, den qualitativen Unterschied
zwischen Gott und Mensch zu einem quantitativen werden
zu lassen. Diese Tendenz wirkt am stärksten, wenn Barth in eine
eindimensionale Auffassung des Gottesverhältnisses hineinrutscht,
und das geschieht besonders oft, wenn er gegen lutherische
Theologie polemisiert. Es ist, als hätte Barth, wenn er etwas über
lutherische Christologie und ganz besonders über lutherische
Abendmahlslehre liest, in sich ein so starkes Erinnerungsbild
von der die Grenzen zwischen Menschlichem und Göttlichem verwischenden
liberalen Theologie, welcher er in seiner Jugend den
Krieg erklärte, daß die6 Erinnerungsbild das, was er liest, gänzlich
umgestaltet. In seiner Kritik an der am Menschen orientierten
Theologie einer ungebrochenen Verbindung mit Gott
kommt er dahin, auch die lutherische Theologie mit Skepsis zu
betrachten — um nicht stärkere Ausdrücke zu gebrauchen. Jene
behauptet zwar niemals einen selbsterworbenen Zugang de6
Menschen zu Gott, wohl aber ein freies, nicht geschuldetes Sich-
selbst-ausschenken Gotte6 für den Menschen auf der dem Menschen
eigenen Ebene. Barths ständige Kritik an der lutherischen
Theologie ist, daß die Art, in der sie die Menschwerdung Gott«
darstelle, eine Tendenz zum „Umschlagen" habe mit dem Resultat
, daß der Mensch als Gott aufgefaßt wird. Ich habe in Svensk
Teologisk Kvartalskrift 1951 dargetan, daß eine solche ,,Umkehrung
" dort nicht einmal denkbar ist, wo das theologische
Denken von Gottes Handeln ausgeht, seiner eigenen Tat zur Erlösung
des Menschen im Kampf mit Sünde, Tod und Teufel. Dagegen
ist eine solche „Umkehrung" nicht nur denkbar, sondern
auch wahrscheinlich, wenn Gott und Mensch, jeder ausgerüstet
mit seiner Freiheit und seinem Lebensraum, einander die Balance
halten und das Böse eine Chaosmacht ist, die unter dem Schaukelbrett
lauert, ohne aber einen Einfluß auf den Balanceakt al6 solchen
zu haben. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung von
Interesse, daß die Voraussetzung für die Denkbarkeit jeder Überschlagstendenz
eine eindimensionale, quantitative Auffassung
des Gottesverhältnisses ist. Eine solche schreibt Barth der lutherischen
Theologie dadurch zu, daß er ihr vorwirft, sie ließe die
Partner des Gottesverhältnisses gleichsam die Plätze tauschen. Er
würde dies nicht tun, wenn er nicht das Risiko für eine solche
„Umkehrung" in seinem eigenen Denken erfahren hätte, und dies
so stark, daß er vom ersten Augenblick an die lutherische Christologie
als eine himmelstürmende Lehre aufgefaßt hat, welche
den Boden für die anthropozentrischen Tendenzen späterer Theologie
bereitete, die Barth mit seiner christologischen Totalanschauung
bekämpft. Diese ist, wie Wingren (a. a. O. S. 22) es ausdrückt
, „schon von Anfang an mit Affekt geladen gewesen".

Studieren wir nun wieder die beiden oben gebrachten Figuren
, so i6t unmittelbar deutlich, daß auch für Barth das Risiko
des Umschlags, wie er selbst sagt, prinzipiell ausgeschlossen ist:
„daß das Gottesverhältnis wirklich prinzipiell als ein unumkehrbares
Verhältnis zu denken" ist (Die prot. Theol. im 19. Jahrh.,
S. 488). Es ist ausgeschlossen, solange Barth konsequent die
qualitative, zweidimensionale Betrachtungsweise anwendet. Aber
ebensowenig wie der Distanzgedanke ist der Gedanke der „Möglichkeit
einer Umkehrung von oben und unten, Himmel und Erde,
Gott und Mensch" mit diesem Schema vereinbar. Für jeden, der
Barths Denken etwas kennt, ist nun freilich deutlich, daß der
Kampf gegen die Umschlagstcndenz sich durch seine gesamte
Theologie hindurchzieht. Er flackert nicht nur gelegentlich auf,
etwa in polemisch gefärbten Darlegungen, sondern er ist überall
vernehmbar. Barth zeigt ständig eine geschärfte Wachsamkeit
gegen die Neigung des natürlichen Menschen, sich auf Gottes
Thron zu setzten — auch und nicht zuletzt in der Theologie. Darum
muß das kalvinistische Korrektiv unaufhörlich in Erinnerung
gerufen und Gottes Superiorität und des Menschen Inferiorität
eingeschärft werden. Bei der Erfüllung dieser dringenden Aufgabe
verläßt Barth Mal für Mal die qualitative Sicht des Verhältnisses
Gott —Mensch und legt seine Argumentation prinzipiell eindimensional
und damit quantitativ an. Wenn Gott und Mensch
in so starkem Kontrast einander gegenübergestellt werden, wie
Barth es tut, hat es den Anschein, als befänden sie sich in einer
Dimension, jeder an seinem Endpunkt auf ein und derselben Linie.
Alles kommt dann auch darauf an, daß sie weit genug voneinander
entfernt gehalten werden, daß die Distanz gebührend groß
bleibt. Eliminiert man die eine Dimension aus dem qualitativen
Ansatz, den wir an Hand von Barths Anknüpfung an Kierkegaards
Wort von dem unendlichen qualitativen Unterschied von Zeit
und Ewigkeit, Menßch und Gott, oben studierten, dann ist das
Resultat — „falls nun Gottes Herrschaft statt der des Menschen
betont werden 6oll" (G. Wingren, Die Methodenfrage
der Theologie, Göttingen 1957, S. 46) — dies, daß in einer vertikalen
Dimension Gott zuoberst und der Mensch zuunterst plaziert
wird.

Gott

Mensch

Hier muß man offensichtlich mit der „Möglichkeit einer Umkehrung
von oben und unten, Himmel und Erde, Gort und
Mensch" rechnen.

Das Problem des Anknüpfungspunktes gehört nun ebenso
zu dieser hier skizzierten eindimensionalen Fragestellung. Dabei
ist es belanglos, ob der Anknüpfungspunkt idealistisch gedacht
wird oder, wie bei Brunner, dialektisch odeT, wie bei Barth, als
etwas, was Gott für jeden besonderen Fall schafft.

Wo man mit dem Satz von dem unendlichen qualitativen
Unterschied Ernst macht und Göttliches und Menschliches ak
zwei verschiedene Dimensionen ansieht, da verliert die Frage
nach dem Anknüpfungspunkt die Bedeutung, die sie zu Unrecht
im theologischen Denken bekommen hat. Dann geht es nicht um
eine Möglichkeit desMenschen, mit Gott in Kontakt
zu kommen, sondern um die in der Schrift bezeugte göttliche
Aktivität zur Erlösung des Menschen.

Natürlich läßt sich diese Aktivität in einem so einfachen
Schema, mit welchem wir die zweidimensionale Auffassung des
Gottesverhältnisses illustriert haben, kaum ausreichend andeuten.
Aber es dürfte wohl veranschaulicht haben, daß die konsequent
durchgeführte qualitative Sicht die Theologie von den Scheinproblemen
befreit, die durch den eindimensionalen, quantitativen
Ansatz hervorgerufen werden. Die Frage des Gottesverhältnisses
ist nicht eine Frage von Kontinuität oder Diskontinuität, sondern
von Erlösung und Verurteilung.

Zum Schluß sei noch gesagt, daß diese hier in aller Kürze
herausgearbeitete Distinktion zwischen Eindimensionalität und
Zweidimensionalität in der Auffassung de6 Gottesverhältnisses
nicht nur für die systematische Theologie von Bedeutung ist, ßon-
dern auch für die Religionspsychologie. Die ältere spekulative Religionspsychologie
bewegte sich ganz innerhalb des eindimensionalen
Schemas. Es ließ sich keine Grenze ziehen zwischen faktischen
Beobachtungen und religionsphilosophischen Hypothesen und
Konstruktionen. Die Frage des Anknüpfungspunktes begegnete
hier in religionspsychologischer FoTm als das Problem religiöser
Anlagen und dergleichen. So wurde das Verhältnis zwischen
dieser Religionspsychologie und einer systematischen Theologie
im Zeichen der Distanz ein gespanntes. Indem sie die mit der
qualitativen Sicht des Verhältnisses Gott — Mensch vereinte Zweidimensionalität
interpretiert, kann eine moderne systematische
Theologie die empirische Religionspsychologie dazu ermuntern,
möglichst reiches Material und Erfahrungsdaten zu sammeln und
zu bearbeiten. Zugleich wird die systematische Theologie 6elbst
versuchen, die Natur des christlichen Gottesverhältnisses auf die
beste Weise zum Ausdruck zu bringen.

Eskilstuna Benkt-Erik Be n k t s on

Aagaard, Johannes: Revelation and Religion.
Srudia Theologica XIV, 1960 S. 148—185.

Bartsch, Hans-Werner: Die Bedeutung des Anwendungsbereiches
der existentialen Interpretation innerhalb der Theologie.
Evangelische Theologie 21, 1961 S. 224—234.

B r a n d en b u r g, Albert: Bischofsamt nach evangelischem Verständnis
.

Catholica 15, 1961 S. 78—80.