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Ausgabe:

1961 Nr. 8

Spalte:

571-574

Autor/Hrsg.:

Matthias, Walter

Titel/Untertitel:

Der historische Jesus und der irdische Jesus 1961

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 8

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die den Anspruch erhebt, die Losung dieses Problems zu sein:
Konstanten, Gesetze, Normen, Werte, Allgemeingültigkeiten
ausschließlich dadurch zu begründen, daß man sie im Fluß des
Erfahrungslebens aufweist und endgültig darauf verzichtet, sie
metaphysisch einzurahmen und abzukapseln und als solche dann
allem Erfahrungsleben als „das Eigentliche" entgegenzusetzen.

Natürlich darf man diese Auflehnung gegen die Metaphysik
nicht mißverstehen. Als Metaphysik bezeichnet man in der philosophischen
Tradition nicht eine Wahrheit, die es jenseits der
Physik gibt, sondern eine Erfahrungswirklichkeit, die nach dem
erstmalig von Parmenides vorgemachten Verfahren von dem
übrigen Erfahrungsleben isoliert, zu einer höheren Würde erhoben
, auf einen streng begrifflichen Ausdruck gebracht und dann
als die eigentliche Wirklichkeit und der Grund des Seins aller
anderen Wirklichkeit vorgeordnet wird.

Von Ritsehl her ist auch heute noch das Bestreben in der
Theologie lebendig, diese Art von Metaphysik au6 der christlichen
Glauben6erkenntnis hinauszuweisen. Wir stimmen diesem
Bestreben zu und sehen darin die rechte Lösung der von Haikola
vorbildlich angegriffenen, von uns hier nach einigen ihrer Modalitäten
erwogenen Aufgabe. Aber 6eit Ritsehl hat auch die Erfahrung
gezeigt, wie schwer es ist, diese Befreiung von der Metaphysik
wirklich durchzuführen. Luther schilt Plato und ist doch
nicht von ihm frei geworden. Oft schilt der Theologe die Philosophie
oder Spekulation oder Metaphysik, wobei er die eine
meint und von der anderen nicht loskommt. Wir erwähnen nur
ein neuestes Beispiel dieses Vorgangs. Fr. Gogarten (Entmytho-
logisierung und Kirche, Stuttgart 1953, S. 41—45) schreibt ein
Kapitel über „die Ablösung des metaphysischen Denkens durch
das geschichtliche" und stellt darin nach dem alten und doch
immer neu abgewandelten Muster einen neuen metaphysischen
Begriff auf, die „Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz".

Denn einerseits löst er die damit gemeinte erfahrbare Wirklichkeit
aus dem Zusammenhang des übrigen Erfahrungslebens und
im besonderen der empirischen Wirklichkeit des objektiven
Geschichtsverlauf6 heraus, indem er den objektiven Geschichtsverlauf
und die Geschichtlichkeit der Existenz als zwei mögliche
Gesichtspunkte, zwischen denen die Theologie zu wählen hat,
einander gegenüberstellt; andererseits bezeichnet er die Geschichtlichkeit
der Existenz als die Voraussetzung jenes objektiven
Geschichtsverlaufs. Genau so haben Parmenides das Sein,
Demokrit die Atome, Plato die Allgemeinbegriffe über den Dingen
, Aristoteles die Artbegriffe in den Dingen, Spinoza die Substanz
, Hegel den Geist aus dem Gesamtzusammenhang der
erfahrbaren Wirklichkeit gelöst und zur letzten Voraussetzung
oder auch metaphysischen Ursache gemacht, von der au6 alles andere
zu verstehen ist. Das ist nicht bloß ein völlig willkürliches
Verfahren, sondern auch ein unberechtigter Eingriff in den unbegrenzten
Fluß des Erfahrungsleben6, dem man von außen Grenzen
errichten und Gesetze machen will.

Nur eine große Philosophie kann das Vorhaben verwirklichen
, diese Art von Metaphysik endgültig au6 dem menschlichen
Geistesleben auszuweisen und im Erfahrungszusammenhang selbst
das Allgemeine als die Konstanten desselben aufzuweisen, es
„von unten" zu begründen statt „von oben" (was in Wahrheit
heißen würde, es von außen und aus der Willkür zu dekretieren).
Wir sind der Überzeugung, daß die phänomenologische Philosophie
Edmund Husserls diese große Philosophie ist und diese Aufgabe
gelöst hat. Von dieser Überzeugung her haben wir hier einige
kritische Fragen an die Leistung Lauri Haikolas gerichtet. Darum
wollen wir es nicht unterlassen, diese Überzeugung als unser
Ceterum censeo hier auszusprechen. Aber wir wollen es auch
nicht unterlassen, dem Verfasser für die hervorragende Leistung,
die wir besprechen durften, unseren Dank zu sagen.

Der historische Jesus und der irdische Jesus1

Von Walter Matthias, Mainz und Darnistadt

Martin Heidegger sagt in einer Anmerkung: „Der Aprio-
rismus ist die Methode jeder wissenschaftlichen Philosophie, die
6ich selbst versteht."2 Das gilt analog auch von der Theologie
als Wissenschaft. In ihr ist der „phänomenale Boden", den die
Aprioriforschung bereiten sollte, die Offenbarung Gottes, wie
sie von Aposteln und Propheten bezeugt wird3. Der Apriorismus
wird aber gerade in den führenden Richtungen der heutigen
Theologie völlig vernachlässigt, was zu einer Blindheit für
ontologische Problematik geführt hat — gerade indem
allzu oft „ontologisch" geredet wird. Wie könnte es aber anders
6ein, wo doch überlieferte ontologische Entwürfe geradezu
kanonisches Ansehen genießen?4 Mit dem Hinweis auf dieses
Fehlen ist über die positive Arbeit der historischen Disziplinen
in der gegenwärtigen Theologie kein Urteil gefällt5.

Es verdient aber besondere Beachtung, daß das Apriori-
problem bei der Frage nach Jesus von Nazareth erstmals wieder
in Hermann Diems vorliegender Schrift — des Verfs. Tübinger Antrittsvorlesung
— diskutiert wird. Seit Reimarusund bis zu der neu-

') D i e m, Hermann, Prof. D.: Der irdische Jesus und der Christus
des Glaubens. Tübingen: Mohr 19 57. 20 S. gr. 8° = Sammlung gemein-
veretändl. Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und
Religionsgeschichte 215. DM 1.00.

2) Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 50.

3) Vgl. Walter Matthias, Die Kategorienlehre Karl Barths, Diss.
Mainz 1956.

*) Die Blindheit für ontologische Problematik zeigt sich etwa in der
oft vorgetragenen These, es gebe keine theologische Ontologie (vgl. etwa
Biehl, ZThK 1956, S. 370: ders.: ThR 1957/58, S. 59). Eine solche
These gewinnt nicht an Überzeugungskraft, wenn sie oftmals wiederholt
wird. Man sollte sich die Mühe machen, sie zu begründen. Einen
positiven Beitrag zum Apriorismus liefern vor allem K. Barth, aber
auch Heinrich Ott in neuerer Zeit.

5) Vgl. meine Diskussion mit H. Diem: Exegese, Dogmatik, Verkündigung
, EvTh 1959, S. 243 ff. und Dogmatik zwischen Historismus
und Existentialismus .. . ThLZ 1958, Sp. 561 ff.

eren Jesus-Literatur" wird, wie Diem einleitend und zutreffend
feststellt, nach dem „Verhältnis des historischen Jesus zu dem
Christus des Glaubens gefragt" (3). Alle Lösungen liegen im
Bereich dieses Horizontes, ganz gleichgültig, ob das ganze Interesse
dem historischen Jesus gilt (Reimarus), ob der Christus des
Glaubens allein zum Gegenstand der Theologie gemacht wird
(Bultmann), ob man zwischen der Verkündigung des historischen
Jesus und der Lehre der Kirdie unterscheidet (Loisy) oder ob
man 6ich um eine historisch aufweisbare Kontinuität zwischen
dem Christus des Kerygmas und dem historischen Je6us bemüht
(Käsemann). Formal und fundamental liegt diesen Arbeiten bei
all ihren sich widersprechenden, ergänzenden und 6idi unterscheidenden
Ergebnissen ein einheitliches Denken zugrunde: Das
Apriori und also das schlechthin Gegebene ist das Bewußtsein
als reine und als praktische (und also als historische und als
glaubende) Vernunft. Wirklich ist, was damit wenigstens potentiell
sich erfassen läßt. (Zur Kritik vgl. Diem S. 9—10.) Unter reiner
und unter praktischer Vernunft verstehen wir selbstredend nicht
Kants Problemlösung, sondern den Sinn seines Fragens. — Wenn
nunmehr Diem postuliert, man müsse nach dem irdischen Jesus

6) Eine Übersicht über die neuere Leben-Jesu-Forschung gibt James
M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus, Zürich 1960. Im übrigen
ist dieses Buch ein treffendes Beispiel für die verbreitete Ahnungs-
losigkeit gegenüber ontologischen Problemen. Das zeigt sich u. a.
an der Behandlung von Diems Arbeit. Sie wird daraufhin abgehört
, ob er dem historischen Jesus theologische Bedeutung beimißt.
Mit einer gewissen Genugtuung stellt der Verfasser fest, daß seit
Diems Dogmatik eine dahingehende Wendung eingetreten ist (18).
Nun ist die Abfragemethode ohnehin wissenschaftlich schon recht bedenklich
. Ob der Verfasser aber nicht gemerkt hat, daß Diem unter
„historisch" etwas ganz anderes versteht als er selbst und daß das
Problem des irdischen Jesus und das des historischen fundamental verschieden
sind? Gewiß hat Diem seit seiner „Dogmatik" seine Positioa
präzisiert. Trotzdem sollte nicht übersehen werden, daß er — wenn
auch mit ähnlich lautenden Formulierungen — etwas ganz anderes
meint als die gegenwärtige „Leben-Jesu-Forschung".