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Ausgabe:

1961 Nr. 7

Spalte:

536-537

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Plöchl, Willibald M.

Titel/Untertitel:

Geschichte des Kirchenrechts 1961

Rezensent:

Strasser, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 7

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Der Verfasser geht dabei vom Recht als auf ein ,,Es", das
heißt, auf einen Wert bezogene Norm aus (S. 15). Er befaßt sich
zunächst in einer für sein Thema fruchtbaren und aufschlußreichen
Antithese mit dem „katholischen Ganzheitsdenken"
(S. 19), das „offen für alle Lebensvorgänge" (S. 20) die Kirche
— auch als rechtliches Phänomen — in der vollkommenen Gestalt
einer „societas perfecta sibi sufficiens" (S. 21) erblickt.

Dieser 6ich selbst genügende, vollkommene Rechtskörper
wurde seit der Reformation in Frage gestellt. Luthers Tat bestand
in der „Vergeistigung der Kirche" (S. 25). Sie mußte zur Auflösung
festgefügter Begriffe führen, so daß in der werdenden
evangelischen Kirche, um sie vor völligem Aufgehen in einer
nicht mehr faßbaren reinen Geistigkeit zu bewahren, die Notwendigkeit
bestand, eine „Begriffsverstrebung einzubauen" (S. 26).
Hierin bestand die große Leistung Melanchthons, wie sie vor
allem in der Confessio Augustana, dem „irenischen Versuch eines
Kompromisses" (S. 27) zutage tritt. Seither 6teht die Kirche für
das Luthertum im „Doppelaspekt". Es sieht sich der schier unlöslichen
Aufgabe gegenüber, „etwas, was wesenhaft weder Begriff
sein will noch sein kann, begrifflich zu bestimmen". Es ist
eine „Janusköpfigkeit" der Kirche gegeben (S. 28 f.). Im Gegensatz
zum Luthertum hat die reformierte Kirche eine etwas greifbarere
Grundlage im Begriff der „Gemeinde". Aber auch hier ist
„das reformierte Verständnis der Kirche als „Gemeinde" begrifflich
mit größter Behutsamkeit aufzunehmen" (S. 37).

Aus alledem ergibt sich im Gegensatz zum statischen katholischen
Kirchenbegriff die „Dynamis protestantischen Kirchenverständnisses
," so daß „der eigentliche Protestantismus als solcher
in beständiger Bewegung verharrt" (S. 38 f.). In dieser Gemeinsamkeit
des Fluktuierens empfindet der Verfasser trotz allem
Trennenden, das von ihm nicht weggeleugnet und nicht verkleinert
wird, die „Fragwürdigkeit der Konfessionsunterschiede"
innerhalb des Protestantismus (S. 42 ff.). Bei beiden Konfessionen
bleibt die „Antinomie des evangelischen Kirchenverständnisses",
daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, aber die Kirche
auch nicht mit dem Reich Gottes gleichzusetzen ist. Deshalb ist
„das Paradoxon aus den evangelischen Aussagen über .Kirche'
nicht zu lösen", die als ein ewiges Geschehen und Werden in
Erscheinung tritt. „Die Paradoxie ist der .Kirche' im evangelischen
Verständnis — lutherisch einer heraklitischen Gemeinschaft;
reformiert, in schwankender Verfestigung, einer Gemeinde -*
wesenseigen" (S. 48 f.).

Mit Recht sieht der Verfasser das gewordene und ständig im
Werden begriffene evangelische Kirchenrecht als Produkt 6einer
historischen Entwicklung. Ihr Ausgangspunkt ist nicht zuletzt in
der Persönlichkeit der Reformatoren zu suchen. Dem unjuristischen
und unpolitischen Luther, dem nur das theologische Anliegen
zentral ist, während das Recht für ihn ein Adiaphoron darstellt
, stehen der Kirchenpolitiker Zwingli und der Jurist Calvin
gegenüber. So kommt es bei Luthers „spiritueller Schau" der
Kirche und bei der „Anspruchslosigkeit" seines Kirchenrechts zum
Kirchenrecht als einem von der Stunde gebotenen ^,Not"recht,
dem das „Programm fehlte" (S. 71). „Notrecht, Notbischof, Notepiskopat
, Nothilfe — diese Kriterien umschreiben den Notbehelf
Kirchenrecht, den bei Luther die Anwendung seines Gedankens
des Kirchenrechts als Adiaphoron zeitigt" (S. 75). Im
Gegensatz dazu konnte sich bei Zwingli und vor allem bei Calvin
echte kirchenrechtliche Systematik entwickeln. Sie hatte ihre
Grundlagen in der Gemeinde als Trägerin des ,,Kirchen"rechts
und im positiven jus divinum, das von Gott als Quelle allen
Rechtes ausgeht und letztlich zur Theokratie hinführt. Da der
lutherischen Kirche diese Grundlegung fehlte, mußte sie zwangsläufig
zwar nicht zum rechtsfreien, aber zu einem von eigenem
Recht leeren Raum werden, in den sofort das kirchenfremde,
staatliche Recht „für die Kirche" eindrang (S. 100).

Vor dieser Situation stehen alle modernen Lehren vom
evangelischen Kirchenrecht. Der Verfasser behandelt sie im einzelnen
ausführlich und kritisch von Rudolph Sohm bis zu Karl
Barth. Sie zeigen das evangelische Kirchenrecht nicht nur als eine
soziologische Notwendigkeit, die es von Anfang an gewesen ist,
sondern auch als eine „Flucht in die Ordnung" (S. 150). Das Endergebnis
ist, auch für die hier vorliegende in die Tiefe gehende
Abhandlung, das alte non liquet: „Es gibt im kontinentalen

Protestantismus nur bedingte Feststellungen zum .Kirchenrecht'.
In ihrer Zusammenfassung treffen wir auf ein bedingtes Nein des
Luthertums und ein bedingtes Ja der Reformierten zum .Kirchenrecht
' " (S. 199). Der Verfasser sieht den Grund für dieses in
ständiger Schwebe befindliche evangelische Kirchenrecht darin,
daß es eine Funktion des bis heute ungeklärten Kirchenbegriffes
darstellt.

Trotzdem i6t sein Ergebnis nicht nur negativ. Denn das
Kirchenrecht hat in der evangelischen Kirche seit der Reformation
bis heute sein „Da-Sein" trotz fehlender Grundlagen und
muß deswegen juristisch erfaßt werden. Es braucht ak „kircheneigenes
Recht" der evangelischen Kirche nicht inadäquat zu sein,
sondern kann in Erschließung des „approximativen Wertes" der
theologischen und juristischen Aussagen zur „Kirche" und
„ihrem" Recht innerhalb dieses „Approximationsfeldes" zu einer
„approximativen Adäquanz" gelangen (S. 203 ff.). Das endet in
der Suche nach der wertbezogenen Norm als Grundlage des evangelischen
Kirchenrechts und in der Frage, „ob die Kirche evangelischen
Verständnisses überhaupt der Norm fähig sei". Die
Möglichkeit eines evangelischen Kirchenrechts, das weder staatliches
Recht, noch kanonisches Recht, noch a-juristische bloße
„Ordnung" darstellt, ist gegeben, wenn kircheneigene Rechtsnormen
gefunden werden. „Das Problem des evangelischen
Kirchenrechts besteht in der Frage der Kirche nach der Norm"
(S. 213). Das Buch klingt in der Hoffnung aus, daß trotz unendlicher
Vielheit der Gedanken über die Kirche und ihr Recht
letztlich auch für die evangelische Kirche eine concordia discor-
dantium als kircheneigenes, echtes Kirchenrecht erwachsen werde.
Man kann sich dieser Hoffnung anschließen. Auch die hier ge-'
leistete Arbeit ist ein Stück auf dem Weg zu diesem fernen Ziel.

Erlangen Hans Liermann

Plöchl, Willibald M.: Geschichte des Kirchenrechts. Bd. III.: Das
katholische Kirchenrecht der Neuzeit. I.Teil. Wien-München: Herold
[1959]. 599 S. gr. 8°. DM 52.— ; Lw. DM 55.—.

W. M. Plöchl beweist mit der Herausgabe eines III. Bandes
seiner Geschichte des Kirchenrechts eine bewundernswerte Kenntnis
der vielschichtigen Materie und sein systematisches Vermögen
, die Fülle des Stoffes und der Probleme so zu ordnen, daß der
Leser ein sachliches Urteil gewinnt. Der inzwischen heimgegangene
Otto Weinberger kündigte bereits 1957 das Erscheinen des
III. Bandes der Geschichte des Kirchenrechts an. Erwartet wurde,
daß der III. Band das katholische Kirchenrecht bis 1917 umfassen
sollte. Weinberger erschien es fraglich, ob es möglich sein werde,
dieses Thema in einem einzigen Bande abzuhandeln. Das Titelblatt
des III. Bandes bezeichnet diesen als Ersten Teil, und
das Vorwort gibt den Zweifeln Weinbergers recht. Der vorliegende
1. Teil vermittelt den Eindruck von der staunenswerten
Stabilität der röm.-kath. Kirche, deren Bestand sich seit der
Glauben6spaltung mancherlei Krisen gegenüber als unüberwindlich
erwies. Der Verfasser zeigt auf Grund der Quellen und zuverlässiger
Forschungsergebnisse, wie sich das moderne Kirchenrecht
Roms dem Heilszweck der Kirche entsprechend formte. Der
Verfasser vereinigt in seiner Darstellung die Flüssigkeit eines
lesbaren Stiles mit der Gründlichkeit des sachkundigen Gelehrten
. Dadurch erweist sich sein Werk als ein brauchbares Lehrbuch
für den Studenten und als ein willkommenes Nachschlagewerk für
alle Interessierten. Hervorgehoben werden muß die Klarheit der
Einteilung, die Genauigkeit der Register und die Sachlichkeit,
mit welcher Fragen beantwortet werden. Der III. Band umfaßt
nach den einleitenden Worten des Verfassers die historische
Übersicht, das Kapitel über Kirche und Recht, die Verfassung und
das Personenrecht. DeT angekündigte IV. Band soll Sakramenterecht
, Sachenrecht, Gerichtsbarkeit, Strafrecht und die Übersicht
über die Quellen und die Kirchenrechtswissen6chaft enthalten.
Der Verfasser sagt: „Beide Teile, d.h. der vorliegende III. und
der noch ausständige IV. Band, stellen daher eine Einheit dar,
nämlich die Geschichte des Kirchenrechts in der Periode von 1517
bis 1917". Der III. Band beginnt nach einem Vorwort des Verfassers
mit einer Literaturübersicht und einer Tafel der Berichtigungen
. Dann folgt als V. Buch: das katholische Kirchenrecht
(von der Glaubensspaltung 1517 bis zur Promulgation des Codex
Juris Canonici 1917). Der 1. Teil gliedert sich in 9 Kapitel.