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1961

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491

Theologische Literat

urzeitung 1961 Nr. 7

492

II. Die Frage nach der Wirklichkeit.

Wilhelm Weischedel hatte als Philosoph die Aufgabe, diese
Frage zu entfalten. Unter Wirklichkeit ist zu verstehen „wirksames
Gegenwärtigsein" (70). Verlust der Wirklichkeit meint
nicht Verlust an Realität, sondern „Entfremdetsein des Menschen
von den Dingen".

Der heutige Mensch hat einen doppelten Wirklichkeitsverlust
erlitten. Der Natur gegenüber ist er entfremdet durch die
technische Welt. Aber auch in der technischen Welt, die er doch
selbst geschaffen hat, ist er ein Fremdling. Außerdem hat der
moderne Mensch die Einheit der Wirklichkeit verloren. Er lebt in
einer Vielheit von Welten: In der Welt der Technik, der Dichtung
, der Religion usw. Jede dieser Welten will dem Menschen
die nächste sein. Im Blick auf die Atombombe scheint aber
unsere Wirklichkeit überhaupt zu Ende gehen zu wollen.- Der
philosophische Ausdruck für das Gefühl der Unwirklichkeit ist
die Angst.

Die Entwirklichung hat eingesetzt bei Plato mit der Erkenntnis
der Vergänglichkeit der seienden Dinge. Sie wird fortgesetzt
im christlichen Glauben. Das eigentlich wirksam Wirkliche ist in
der Welt nur noch mittelbar da. Die letzte Entwirklichung setzt
in der Neuzeit damit ein, daß nicht mehr Gott, sondern der
Mensch selbst zum eigentlich Wirkenden wird. Aber dieser
6elbstmächtige Mensch wird in der unwirklichen Welt sich und
den anderen Menschen immer fremder. Die vermeintlichen Herren
des Seins sind mit der Atombombe zu den „Herren der Apokalypse
" geworden (78).

Um dieses Geschick der Entwirklichung, die bis zum Nihilismus
führte, wenden zu können, muß es zunächst einmal ernst
genommen werden. Verf. warnt vor einer falschen biblischen
Ausdeutung, indem er fast im Sinne von Schiller diese Menschheitsentwicklung
bejaht. Dieser Ausweg sei nicht nur die Auswirkung
des Sündenfalls, sondern er ist unser geschichtliches
Schicksal, das wir auf uns zu nehmen haben (80). Durch diesen
Weg ist der Mensch zum Menschen geworden. Er sieht es als Aufgabe
der Kirche heute an, „die Entwirklichung der Wirklichkeit"
als unsere gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Fraglichkeit anzuerkennen
(81). Wer aber diese Fraglichkeit übernimmt, ist
offen für eine Antwort, die der Philosoph sich selbst nicht
geben kann, sondern die, ebenso wie die Entwirklichung in der
Geschichte gekommen ist, auch nur in der Geschichte auf uns
zukommen kann. Eine theologische Anwort, die den Verlust an
Wirklichkeit überwinden will, muß so von der Wirklichkeit
sprechen, daß sie in dieser eine neue Nähe des Menschen zur
Welt, zu Gott und zu sich selbst bekundet. Sehr nahe steht Verf.
der Theologie von Bultmann und von Gogarten, der die Frage
nach der Wirklichkeit für die wichtigste heute hält. Die Wirklichkeit
Gottes ist nicht objektiv oder dinghaft, sondern „worthaft
". Sie trägt den Charakter der Anrede (8 5). Die Wirklichkeit
im Glauben ist das Geschehen „in der unteilbaren Einheit
von Anrede und Angeredetsein" (86). Die Wirklichkeit des anredenden
Gottes ist seine Nähe zum Menschen, und damit ist
dieser wieder in die Nähe zur Welt und zu sich selbst gebracht.
Wirklichkeit besagt dann, daß auch Ferne nahe wird.

Trotz dieser Zustimmung erklärt Verf. am Ende, daß der
Philosoph diesen theologischen Aussagen sich nicht anschließen
kann, weil bei ihnen ein bestimmtes Geschehen dem allgemeinen
Wirklichkeitsverlust entzogen wird. Der Philosoph kann nur dem
kommenden Wirklichkeitsverständnis entgegenwarten. Dies wird
aber zwei Kennzeichen haben: l) Der Mensch ist nicht die beherrschende
Wirklichkeit; die Demut ist die Tugend der Zukunft.
2) Weil die metaphysischen Begriffe: das Absolute, der Seinsgrund
, causa prima nicht zum Nichts geöffnet sind, sondern noch
diesseits des radikalen Verlustes der Wirklichkeit stehen, 6ind
sie nicht für das Neue geeignet. Verf. schlägt vielmehr vor, von
dem „Geheimnis" zu sprechen und sieht sich in der Nähe einer
Theologie von dem Deus absconditus.

Die Aussprache über diesen und den ersten anthropologischen
Vortrag führte nicht recht weiter. Der Vorwurf
gegen Weischedel, er sei kulturpessimistisch (109), trifft nicht zu.
Es ist aber die von ihm selbst gestellte Frage, ob die Philosophie
der Theologie das Feld räumen müsse, nicht so zu beantworten,

wie er es tut. Er bekennt sich zum Deus absconditus, zum „Geheimnis
" in einer Welt, der das Evangelium verkündet ist. Wenn
wir den Menschen, der für eine Antwort offen ist, als existierend
begreifen, kann die von Weischedel vorgetragene Trennung
zwischen einem philosophischen und einem theologischen Denken
nicht mehr bestehen. In der Geschichte kommt die christliche
Antwort auf uns zu, ohne dem Wirklichkeitsverlust in der
Geschichtswissenschaft unterworfen zu sein, weil es sich in ihr
nicht um ein ausgespartes historisches, aber absolut gesetztes
Ereignis, sondern um Gottes uns ergreifendes Wort handelt.
Christus ist dieses abschließende Wort.

III. Die Wirklichkeit Gottes.

Im Schlußvortrag ging Gerhard von Rad auf die Wirklichkeit
Gottes ein, die er besonders vom Alten Testament her aufzeigte
. Er sieht seine theologische Arbeit nicht als eine Antwort
auf alle bisherigen Fragen, sondern als einen wissenschaftlichen
Beitrag neben den anderen. Die Theologie warnt vom Worte
Gottes her vor dem Mythus, auch vor dem der Wissenschaft und
vor den absoluten Setzungen — auch vor denen der Theologie —,
die den Menschen davor abschirmen, die Offenbarung Gottes
wahrzunehmen.

Die Frage des Scheins und der Wirklichkeit Gottes wird im
Alten Testament vom 1. und 2. Gebot her klar beantwortet. Wie
die Propheten immer wieder die Bilder und die Nichtse zerschlugen
, damit sie sich nicht als Bilderwand zwischen Gott und den
Menschen stellen können, so will er auch heute zwei Begriffe
ihrer mythischen Dignität entkleiden, die sich zwischen uns und
Gott stellen könnten: Natur und Geschichte. Von Rad will mit
dieser Destruktion der falschen Verabsolutierungen das Wächteramt
der Kirche ausüben. Es sei überhaupt eine unerlaubte Abstrahierung
, die vor dem Alten Testament nicht zu Recht bestehe,
von dem Menschen zu sprechen, der über seine Beziehung zu
Gott reflektiert. Das Wort von der Gottesebenbildlichkeit des
Menschen meint, daß der Mensch überhaupt nur von Gott her zu
begreifen ist. An diese Wirklichkeit Gottes zu glauben, ergibt
sich aus der Botschaft und ist ein Geschenk des Heiligen Geistes.

IV. Arbeitsberichte.

Hier fällt auf, daß kaum auf die Vorträge selbst zurückgegriffen
wird, außer der bereits erwähnten und von uns kritisierten
Stellungnahme zu Weischedel. Dagegen ist in dem Bericht
der Physiker bedeutsam, daß von der heutigen Physik gesagt
wird, sie nehme das Nein, das im 19. Jahrhundert gegenüber
der Wirklichkeit Gottes gesprochen worden sei, wieder
zurück. Aber diese „doppelte Verneinung" sei noch keine
. Bejahung und gebe keine Grundlage dafür ab, im Namen der
Physik einen neuen Gottesbeweis zu führen. Sie bleibe damit
durchaus am Rande des Nihilismus.

Ein Mangel bleibt bei diesem Buch, der wohl auch auf dem
Kongreß selbst zutage getreten ist: Es ist zu keiner begrifflichen
und ontologischen Klarstellung und Feststellung in dem Wirklichkeitsbegriff
gekommen. Auch Weischedel hatte in der versuchten
Definition das zu Definierende 6elbst wieder aufgenommen
, wenn er Wirklichkeit mit „wirksames Gegenwärtigsein"
umschreibt. Weischedel verstand unter Verlust der Wirklichkeit
die Entfremdung, während in dem Bericht über die Wirtschaft,
ebenso wie bei dem physikalischen Aspekt, ein Verlust an
Wirklichkeit bestritten worden ist. Die Wirtschaft könne lediglich
von einer Veränderung der Wirklichkeit sprechen. Der
Herausgeber gab zu, daß dieser Tagung keine Lösung dieser
äußerst schwierigen, aber brennenden Fragen gelungen ist. Es
bleibt aber eine dringende Aufgabe, den modernen Wirklichkeitsbegriff
der Wissenschaft in seiner Verchlossenheit oder
Geöffnetheit für die Wirklichkeit des Glaubens zu prüfen und
Relationen, die neu sich zeigen, fruchtbar werden zu lassen.

Eisenadi Heinz Eridi E i sen h u t h

H o m r i g h a u s e n, E. G. u. a.: Hebrew, Greek — and All That.

The Princeton Seminary Bulletin 54, 1961 S. 18—33.
M c C o r d, Jas. I.: Theological Implications of the Relation of the

Church and Theological School in America.

The Princeton Seminary Bulletin 54, 1961 S. 4—11.