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Ausgabe:

1961 Nr. 7

Spalte:

489-492

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Walz, Hans Hermann

Titel/Untertitel:

Wirklichkeit heute 1961

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 7

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mit dem Idealismus und dessen Ich-Philosophie. Könnte er aber
seine Behauptung auch gegenüber den Erkenntnissen der modernen
Existenzphilosophie aufrecht erhalten? Jaspers weiß von
Kommunikation als Grundbedingung menschlicher Geschichtlichkeit
, Heidegger redet vom Mit-sein als Existential, im Marxismus
versteht man den Menschen als soziales Wesen, M. Buber entdeckt
den Unterschied von Es und Du. Gewiß wird man hier
immer wieder auf die Zusammenhänge mit der christlichen Vergangenheit
des abendländischen Denkens stoßen, aber mit dieser
historischen Feststellung ist das hier gestellte Sachproblem noch
keineswegs gelöst: ob es nicht eine vom christlichen Glauben ablösbare
Erkenntnis des Menschen gibt, gerade auch in 6einer
kommunikativen Dimension, so daß der Satz, außerhalb des
Glaubens gebe es kein echtes Verständnis menschlichen Personseins
, nichts weiter bleibt als fragwürdige Apologetik. Der Verweis
auf den christlichen Glauben als Bedingung der Möglichkeit
anthropologischer Erkenntnis bleibt so ein Postulat, in dem sich

anzeigt, daß wir es hier noch mit einer sublimen Form von Historismus
zu tun haben. Die Überwindung des Umschlags der vom
Glauben herkommenden Säkularisierung in den gottverneinenden,
rein immanenten Säkularismus ist in dieser Theologie nicht geleistet
. Die formale Struktur der Personalität kann nicht allein
vom christlichen Glauben aus begründet werden, denn das würde
bedeuten, daß dem Nichtchristen die Qualität der Menschlichkeit
abgesprochen würde. Wohl aber kann die Frage nach der Erfüllung
dieser Struktur, bzw. der Überwindung der Entfremdung,
christlich gesehen nicht beantwortet werden, wenn sie nicht von
Christus her gelöst wird. Er ist als der Herr unserer Vergangenheit
derjenige, der uns in Vergebung Leben ermöglicht und Schuld
aufhebt; er ist als der Herr der Gegenwart derjenige, der echte
Kommunikation in Liebe ermöglicht und damit allererst echte
Gegenwart; er ist als der Herr der Zukunft derjenige, der durch
Hoffnung uns Zukunft erschließt und Angst überwindet.

ALLGEMEINES

Walz, Hans Hermann (Hrsg.): Wirklichkeit heute. Referate u. Arbeitsberichte
v. Kirchentagskongreß Hamburg hrsg. im Auftr. d. Dt.
Evang. Kirchentages. Stuttgart: Kreuz-Verlag [1958]. 149 S. 8°. Lw.
DM 7.80.

Im April 1958 fand in Hamburg eine Arbeitstagung statt,
einberufen von dem Deutschen Evangelischen Kirchentag. Es
wurde dort in Zusammenarbeit mit einem Kreis von fünfhundert
geladenen Teilnehmern au6 der Wissenschaft und aus der kirchlichen
Praxis nicht nur der Kirchentag für 1959 vorbereitet. Es
sollte zugleich auch versucht werden, über die Situation der
Gegenwart Klarheit zu bekommen und die Aufgabe zu bestimmen
, die sich für die Kirche ergibt (144). „In einer Welt am
Rande des Nihilismus" (von Thadden-Trieglaff) wird das Problem
der Wirklichkeit und damit der Wahrheit gestellt. „Gottesfinsternis
bewirkt Weltfremdheit". Von der Wirklichkeit Gottes
her soll die Wirklichkeit heute gesichtet und geklärt werden (7).

Der vorliegende Band bringt von der Gesamttagung nur
einen Ausschnitt und gliedert sich in vier Abschnitte:

I. Aspekte der Wirklichkeit.

Von 6 verschiedenen Seiten her wird die Wirklichkeit in den
Blick gebracht. In der anthropologischen Sicht geht
Gustav Bally, Zürich, von dem Spiel eines Knaben aus: Er vergräbt
im Sand einen wilden Tiger. Die Menschen bauen darüber
eine Betonstraße. Eines Tages bricht der Tiger hervor und zerstört
diese Straße und alles kommt um. Der Knabe ist beides: Der Erbauer
der Straße und der Vater des Tigers. Bally sieht die Wirklichkeit
des Menschen zweifach bestimmt. Der Mensch ist Produzent
und Konsument der Welt, und zugleich ist er in dieser Nutzwelt
von einer allgemeinen Unruhe erfüllt. Die Wirklichkeit ist
heute doppelgesichtig und dadurch unheimlich. „Wo sie perfektioniert
ist, da ist 6ie schal geworden. Wo die Menschen an
Grenzsituationen gelangen, da verläßt sie sie" (19). Dann entsteht
die Frage nach dem Heilsziel und damit nach dem Ursprünglichen
und Unmittelbaren, da es aus der begriffenen Welt vertrieben
ist, wie Spiele und Feste aus ihr verbannt sind (18).
Heilige Riten, z. B. die Taufe, deuten auf das Ursprüngliche noch
hin. Dagegen gibt es auch einen säkularisierten Empfang des
Menschen in der Welt, der keine Bindung an den Ursprung mehr
kennt, sondern die Ratio für den letzten Grund der Welt hält.
Hier gibt es keine Demut und keine Ehrfurcht mehr an der
Grenze der Menschenwelt (13).

Jürgen Rausch wendet sich unter dem Titel „Kommunikation
" den Mächten des Rundfunks und des Fernsehens
zu, die nicht mehr am Rande der Wirklichkeit stehen, sondern
zu ihrer Struktur gehören.

Hierdurch ist der Mensch heute vor eine Verantwortung
gestellt, nicht, wie er technisch die Naturrealität, sondern wie

er human die technische Wirklichkeit bewältigt. Der Mensch kann
ohne Verantwortung gar keine echte Wirklichkeit erfahren.
„Wirklichkeit im geschichtlichen Sinne ist immer Korrespondenz,
das heißt, wer nicht antwortet, kommt nicht zur Wirklichkeit"
(30). Die technischen Mittel sind nicht dämonisch. Aber nur
durch eine neue Konzeption vom Menschen kann er die Gefahren
der technischen und institutionalisierten Welt überwinden.
„Alles ist im Grunde eine Verantwortungsfrage." Die Selbstentfremdung
des Menschen kann nicht überwunden werden durch
die Umgestaltung der Mittel, sondern durch die Neuaufrichtung
des Menschen (33).

Der Aufsatz von Georg Süßmann über den physikalischen
Aspekt der Wirklichkeit meint nicht einen Teil, sondern
das Ganze der wirklichen Welt. Die grundlegenden Begriffe für
ihre Erfassung sind: Raum, Zeit und Materie. Raum und Zeit
sind im Unterschied zu Kant nicht lediglich Anschauungsformen,
sondern Realitäten. In der realen Zeit 6ind z. B. Beschleunigung,
Rotation und Lichtgeschwindigkeit absolut (51). Materie ist
„Strahlung" und „Stoff". Die atomaren Gebilde haben nicht nur
„Teilchen-, sondern auch Wellen- oder Feld-Eigenschaften" (53).
Auch die mathematische Wissenschaft von der Steuerung, die
Kybernetik, mit den elektronischen Rechenmaschinen gehört zur
Wirklichkeitsbewältigung. Von einem Wirklichkeitsverlust kann
man in der modernen Physik nicht sprechen. Dieser tritt nur dann
ein, wenn die Natur vernachlässigt wird.

Es werden außerdem noch die Aspekte von der Kunst
und Politik her grundsätzlich behandelt von G. R. Sellner
und A. Arndt.

Bei der abschließenden Frage nach der Wirklichkeit
der Kirche geht der inzwischen verstorbene W. Freytag auf
drei konzentrische Kreise dieser kirchlichen Wirklichkeit ein:

1) Kirche und Nicht-Kirche. Obwohl die Kirche
wächst, bleibt sie doch Minderheit. Allerdings ist sie heute
weiter gestreut als vor 50 Jahren. Die „Nicht-Kirche" dagegen
ist wie in der Wirtschaft, Politik und Sprache nachweisbar ist,
weithin „christlich" geworden. Sie kommt ohne die christlichen
Vokabeln nicht aus, hat jedoch keinen Bezug zu dem biblisch
bezeugten Christus.

2) In dem Kreis „Die Kirchen", die einander der Irrlehre
bezichtigen, ist heute eine Bewegung zur Einheit hin aufgebrochen
. Aber auch ein größeres Ganzes wird doch immer nur ein
Teil der Kirche bleiben.

3) In der Einzelkirche geht es um das Verhältnis der eigentlichen
Gemeinde zur Randgemeinde.

In allen drei Kreisen haben sich die Grenzen verschoben:
der Welt und den anderen Kirchen gegenüber und bei der Unterscheidung
zwischen Kerngemeinde und den am Rande Stehenden
. Die kirchliche Gestalt lebt immer von der Wirklichkeit des
Auferstandenen. Keine Gestalt ist im Verhältnis zu dieser anderen
Wirklichkeit endgültig (62). Gestalten der Kirche können
auch zerbrechen. Wort und Sakrament aber bleiben. Trotz aller
Verschiedenheit der Gestaltungen können aus allen echte Früchte
des Glaubens erwachsen.