Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1961 Nr. 6

Spalte:

458-459

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Peursen, Cornelis Anthonie van

Titel/Untertitel:

Leib, Seele, Geist 1961

Rezensent:

Köberle, Adolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

457

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 6

458

im Widerstreit: das griechische Bild vom Menschen
als selbstverantwortlichem Vernunftwesen (in Ablösung einer
noch früheren Vorstellung vom Menschen als naturverwoben in
eine dämonisch-göttliche Weltordnung), das biblische Bild
vom Menschen als Geschöpf Gottes (im Zwiespalt zwischen sündiger
Verderbtheit und der Aufgabe, der Herrschaft Gottes auf
Erden zu dienen), das rein biologische Menschenbild (der
Mensch eine winzige Welle im Strom des Lebens) sowie das Bild
vom Menschen als Techniker, welches den Menschen dazu
bestimmt sieht, im praktischen Handeln „sich die Natur zu unterwerfen
und die gesellschaftlichen Verhältnisse menschenwürdig
zu gestalten" (223). Wird der Streit der Menschenbilder in einem
kommenden seine Schlichtung erfahren? Über ein künftiges Verständnis
vom Mensdien deutet W. dies an: daß sich die „Beziehungen
von Mensch zu Mensch" (228) einem einfacheren und ursprünglicheren
Verhältnis nähern werden, wie es der Ausdruck
„Solidarität" zu umschreiben vermag: Solidarität, die einerseits
weit entfernt ist „von der stolzen Einsamkeit der freien Persönlichkeit
, die nur auf sich steht und der anderen Menschen nicht
bedarf" (228), die andererseits weniger massiv („weniger künstlich
und gewaltsam", 228) verpflichtet als gewisse überlieferte
Formen der Gemeinschaft.

Recht und Ethik. Zur Anwendung ethischer Prinzipien in
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

In der Rechtsprechung ergeben sich immer wieder Fälle (z. B.
geschlechtliche Unzucht, Selbstmordversuch, Hilfeverweigerung), in
denen sich der richterliche Spruch nicht nur auf juristische Paragraphen
stützen (auch nicht einfach an der „Natur der Sache" orientieren
, 23 3 ff.) kann, sondern auf allgemeinverbindliche ethische
Normen beziehen muß (das Recht auf Ethik gründen muß). Aber
g i b t es absolut geltende ethische Normen oder Werte? W. verwirft
diese Auffassung, indem er einerseits dartut, daß aus Kants
rein formalen moralischen Prinzipien nichts Konkretes für die
Rechtspraxis mit Sicherheit gefolgert werden kann und daß
andererseits die sog. materiale Wertethik bes. M. Schelers nur die
Absolutsetzung einer bestimmten Spielart abendländisch-christlichen
Denkens sei, desgleichen, wenn der Bundesgerichtshof sich
auf absolut gelten sollende Normen beruft (hinsichtlich der vorhin
angedeuteten Beispiele). W. will damit nicht einem Relativismus
oder Skeptizismus dienen, sondern aus der „Redlichkeit des Denkens
, das der Grenzen des menschlichen Wissens ansichtig geworden
ist" (264), die Illusion zerstören: als sei Tradition dasselbe
wie absolut geltende Wahrheit. Dermaßen desillu6ioniert möge
der Richter durchaus die Tradition hochschätzen, dabei sich aber
offen halten für den geschichtlichen Wandel, der zu „neuer Ethik"
und „neuem Recht" (264) drängt.

Wahrheit und Unwahrheit der öffentlichen
Meinung.

Daß die öffentliche Meinung der Wahrheit (und Gerechtigkeit
) dient wie bei der Affäre Dreyfus, ist eine Ausnahme
und wird mutigem Einsatz weniger Einzelner verdankt. Typischer
ist der Fall Sokrates. Die eigentliche öffentliche Meinung hat kein
selbständiges Interesse an der Wahrheit. Ihre Merkmale sind:
„Durchschnittlichkeit und Oberflächlichkeit, Hang zu Allgemeinurteilen
und Liebe zum Schein, Leichtgläubigkeit, Neugier, Hang
zum Gewohnten und utilitaristische Wandelbarkeit, Inhumanität
und Flucht vor der Verantwortung" (271). Ihre Waffen sind: „die
Diffamierung und die Auslieferung an die Lächerlichkeit" (271).

Zum Atomproblem.

W. will nicht nur das selbstverständliche und darum unverbindliche
Nein zum Atomtod' (im allgemeinen) sprechen, sondern
er richtet sein Nein ganz konkret „gegen die atomare Aufrüstung
der Bundesrepublik" bzw. gegen den Beschluß hierzu (277), und
zwar deswegen, weil ein solcher Verzicht — an einem bestimmten
konkreten Punkt — den Kreislauf des Wettrüstens zum Stehen
bringen könne (einer muß den Anfang machen, 284), im entgegengesetzten
Fall jedoch das „Näherrücken der Gefahr eines
atomaren Krieges" nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich
werde (280). Beachtlich ist auch der Satz: „Mir scheint es unwahrscheinlich
zu sein, daß ein auf Wettrüsten — und damit faktisch
auf dem Willen zum Vorsprung — beruhendes Gleichgewicht
auf die Dauer stabil bleiben kann" (280). Als Alternative
verlangt W. Verhandlungen (und Respektierung, auch sittliche, der
Gegenseite), zumal das Gespräch (und dieses im tiefsten Sinne
als der Logos und dasdialeyeoßai, 283) „das Fundament ist, auf
dem der Westen steht und mit dem er fällt" (283). „Sich auf ein
ernstzunehmendes Gespräch einlassen aber bedeutet konkret: es
sich nicht von vornherein dadurch abschneiden, daß man den
Kreislauf des Wettrüstens durch die Aufrüstung der Bundesrepublik
befördert" (282).

Abschließend noch eine kurze zusammenfassende Charakteristik
und Wertung des Gesamtwerkes. W. drängt wieder zum
Absoluten und zur Metaphysik und dies mit einem nicht selten
theologisch anmutendem Eifer. Das macht das Buch zu mehr als
nur einer Einführung in den gegenwärtigen Stand der Dinge in
der Philosophie, und das beflügelt auch W.s Stellungnahme zu
Fragen der Politik. Er beruft sich hierfür sogar auf eine „Art
von Wächteramt", welches die Philosophie auszuüben habe (276),
und spricht vom „Glauben an die Kraft des Geistes" (275), in
dem man es wagen kann und muß, der öffentlichen Meinung zu
widerstehen. Man kann dies nur anerkennend mitteilen, fern
davon, als ob nur die Theologie in praktischen Anliegen' ausmünden
dürfe. Und dann ist lobend hervorzuheben der klare, eindrucksvolle
und äußerst gepflegte Stil, der zugleich den geübten
Didakten verrät. — Andererseits ist es nun gerade die durchsichtige
Klarheit, die gewissen Einwänden eine Handhabe gibt,
vor allem dem: die rein abstrakte Frage nach dem Sein sei
eine leere Scheinfrage, die der Philosophie geschichte angehöre
; Philosophie heute sei unlösbar von konkreten Problemen
der Einzelwissenschaften. Man sollte diesen Einwand sehr ernst
nehmen und nicht vorschnell als .positivistisch' abtun (wie häufig
). Ein zweiter Einwand muß der sein: daß W. in zu grundsätzlicher
, manchmal fast monotoner Weise eine gewisse Art von
Skeptizismus und Nihilismus zum Geburtshelfer der Metaphysik
benötigt (s. etwa S. 109, 114 f., 121/2, 147, 184, 233, vgl. 194).
Aber offenbar ist der Ansatzpunkt bei der „Verzweiflung", beim
„Entgleiten", bei der „Hineingehaltenheit in das Nichts" (Heidegger
, 121/2) oder beim „Schweben über dem Abgrund" in der heutigen
.abendländischen' Philosophie (jedenfalls der Existenzphilosophie
) so selbstverständlich geworden (als ob allein dies
radikales und philosophisches Fragen wäre), daß
man etwas außerhalb stehen muß, um hier betroffen innezuhalten.
Schließlich fällt der mangelnde Kontakt zur Naturwissenschaft
auf, obwohl man meinen möchte, daß heute auf ihrem Boden
eine Neugeburt der Metaphysik in erster Linie ihren Ausgangspunkt
nehmen müsse; kann man doch vielleicht sagen, daß
naturwissenschaftliches Fragen und Grübeln dei
klassische Ausgangspunkt des Philosophierens gewesen ist, wie
fast alle großen Philosophen zugleich Naturwissenschaftler gewesen
sind. Leider fehlt dieser ,,Wirklichkeits"bereich in W.s
sonst vorzüglich gelungenem Unternehmen, offenbar deswegen,
weil der unglückliche Dualismus von .Geisteswissenschaften' und
.Naturwissenschaften' (als ob die „Wirklichkeit" nicht eine
wäre) immer noch nachwirkt. So bleibt W.s Philosophie thematisch
ganz auf der Basis der sog. Geisteswissenschaften, ein Umstand
, der — im Zusammenhang mit den anderen beiden Einwänden
— trotz allen Lobes, welches W.s Buch gebührt, zuletzt
nadidenklich stimmen muß.

Berlin . Hans-Georg F ri t z s che

Peursen, C. A. van: Leib — Seele — Geist. Einführung in eine
phänomenologische Anthropologie. Deutsche Übersetzung von L.
Delfoss und I. Schollmeier. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn [1959]. 192 S. 8°. Lw. DM 14.80.

Die aus dem Holländischen übersetzte Studie ist zunächst
wertvoll durch den umfassenden Überblick, wie verschiedenartig
Leib, Seele und Geist in der Geschichte der Philosophie zueinander
in Beziehung gesetzt worden sind. Bei Piaton gilt die
Priorität der Seele vor dem Leib, während Aristoteles Leib und
Seele zusammenfaßt in ihrer Spannung zum Geist. Nachdem
Descartes die res cogitans und die res extensa in der menschlichen
Existenz schroff voneinander getrennt hatte, war sowohl