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Ausgabe:

1961 Nr. 6

Spalte:

453-458

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weischedel, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Wirklichkeit und Wirklichkeiten 1961

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 6

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PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Weischedel, Wilhelm: Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Aufsätze
und Vorträge. Berlin: de Gruyter 1960. VIII, 286 S. gr. 8°. Lw.
DM 24.-.

Dieser Band, der 20 Aufsätze bzw. Vorträge des — trotz
Berufung nach Freiburg — weiterhin in Berlin wirkenden Philosophen
Wilhelm Weischedel enthält, ist eine vorzügliche Einführung
in die Problematik des „Philosophierens" der Gegenwart,
jedenfalls im Bereich des sog. abendländischen Denkens sowie im
Bereich einer Philosophie, die ihre Problematik jenseits der
Probleme der Einzelwissenschaften (vor allem als die abstrakte
frage nach dem Sein oder einem ,Absoluten') sucht. Auf diese
beiden Einschränkungen wird am Schluß der Besprechung noch
einmal zurückzukommen sein. — Da es sich um 20 Aufsätze verschiedenster
Gebiete handelt, wäre es nicht sinnvoll, das Buch im
ganzen zu besprechen. Es wäre auch mißlich, auswahlweise einzelne
der Theologie thematisch besonders nahestehende Aufsätze
herauszugreifen. Denn nach welchem Kriterium soll man
eine solche Auswahl treffen, zumal wenn man vermeiden muß,
den Autor in ein einseitiges Licht zu rücken! So legt sich nahe,
jeden Aufsatz der Reihe nach kurz nachzuskizzieren. Jeder theologische
Leser wird sich alsdann den einen oder anderen als für
ihn besonders wichtig notieren können.

Weg und Irrweg im abendländischen Denken.

Zwei entgegengesetzte Kriterien zur Beurteilung der Philosophiegeschichte
stehen sich gegenüber: Die Aufklärung (bspw.)
mißt alles am Verstand und verwirft dem entsprechend alles
Mystisch-Spekulative, besonders das, was „die Spätantike, soweit
sie nicht Skepsis, sondern Gnosis und Neuplatonismus ist", sowie
„das Mittelalter, sofern in ihm nicht der reine Aristoteles wirksam
ist" (7), (und nachher der Deutsche Idealismus) als letzte Erfüllung
philosophischen Denkens verstanden. Doch dieser Rationalismus
verwirft nicht nur Denkmethoden, sondern ganze Gebiete
und Fragestellungen als solche, nämlich „die entscheidenden
metaphysischen Anliegen", die „Fragen nach dem Weltganzen
und dem Weltsinn, nach dem Weltgrunde und nach Wesen und
künftigem Schicksal des Menschen" (9). Der Rationalismus endet
— konsequenterweise — in Skepsis und Nihilismus. — Andererseits
ist die verabsolutierte Intuition (wonach „Erkennen . . .
nicht spontanes Tun des souveränen Verstandes, sondern schauendes
Hinnehmen des Seienden", 10, ein Erleuchtet w e r d e n
statt Aufklärung, 12, ist) ein Irrweg. — Das abendländische Denken
befindet sich dann auf dem richtigen Wege, wenn es beide
Momente in sich befaßt: Erleuchtung wie Aufklärung, Intuition
sowie die ratio (14). — Hinweise auf Martin Heidegger und
Nicolai Hartmann.

Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze
der Philosophie

Versuch einer philosophischen Auslegung der „Pensees"
des Blaise Pascal. — Pascal ist der klassische Vertreter jener
theologischen Konzeption, die den Menschen an den Abgrund
und die Grenzen seines Daseins führt, um ihn von
hieraus zum Glauben (der freilich nur wie das Wagnis
einer ,Wette' — bei gleicher rationaler Wahrscheinlichkeit für
Nichtexistenz oder Existenz Gottes — sein kann, 58) zu bringen.
Von dieser .Apologie' des Christentums (wie sich Pascal selber
verstand, 24) übernimmt W. den Gedanken, daß der Ausgangspunkt
des Philosophierens das Staunen, ja, das Betroffensein und
die Erschütterung (21) darüber sein muß, daß der Mensch, der
sein Dasein konsequent überprüft, am .Abgrund', genauer gesagt:
in einem Widerspruch (zwischen seinem Wesen und seiner faktischen
Lage, 49) steht. Vor allem ist es der Widerspruch zwischen
der Größe des denkenden Menschen und dem Elend des
existierenden Menschen (36); der Mensch steht „zwischen
Unendlichkeit und Nidits" (36 ff.), kommt vom Nichts und
drängt zur Unendlichkeit. „Die Grundlosigkeit ist der eigentliche
Grund, die Bodenlosigkeit der eigentliche Boden der Existenz.
Mensdiscin heißt Sein über dem Abgrund" (42).

Während es für Pascal darum ging, das Dogma von der Erbsünde

zu bewahrheiten (61) sowie zum Glauben als Wagnis aufzufordern (58),
ist das, was für W. Pascal so bedeutsam macht, offensichtlich dies: daß
Pascals existentiale (30) Anthropologie das Modell für eine Sicht des
Menschen gegeben hat, wie sie in der philosophischen Literatur heute
weit verbreitet ist (u. E. nur als Negativbild dessen, daß sich der faktische
Mensch ganz anders versteht) und wie sie auch in späteren Aufsätzen
W.s immer wieder die Konzeption bestimmt. — Säkularisierte
Theologie? oder das philosophische Urmodell, was man theologisiert
hat? Im ersteren Falle hätte der Philosoph heute Anlaß zu beachten,
daß in der Theologie (bes. Bonhoeffers und Barths) die Kontrast- und
Katastrophen-Konzeption, das (stereotype) Ausgehen von .Grenzsituationen
', umstritten ist.

Voltaire und das Problem der Geschichte.

War die Aufklärung wirklich so .unhistorisch'? Im Grunde
und im tieferen Sinne doch, weil die Maßstäbe der Gegenwart
an die Geschichte angelegt werden, sowohl hinsichtlich der
Kritik als auch hinsichtlich dessen, was man aus ihr als .Nutzen'
lernen möchte. Gewiß beschäftigt 6ich die Aufklärung sehr rege
mit der Geschichte, aber 6ie wertet sie nur als die Aufwärtsentwicklung
zut Gegenwart als dem erhabenen Gipfel. — Doch
kann man das nicht nur tadelnd feststellen (wie die Romantik),
sondern sollte man 6icb heute, wo sich die Gegenwart „fast nur
noch als Strandgut des historischen Stromes" (8 5) verstehen kann,
hiervon auch in gewisser Weise beeindrucken lassen.

Die Zeit der ursprünglichen Erfahrungen.

Zum Denken zwischen den beiden Weltkriegen. — Dieser
Aufsatz gibt eine Analyse der philosophiegeschichtlichen Situation
mit der Tendenz: daß unsere Gegenwart „keine Epoche des
bloßen Verfalls, sondern die Ankündigung einer echten Wende"
(100) sei, und zwar insofern, als sich in der Existenzphilosophie
— trotz ursprünglicher radikaler Begrenzung auf das Thema
.Mensch' — wieder echtes metaphysisches Denken (ein
Wissen „um die großen Mächte des Daseins: . . Liebe,. . Schicksal
, .. Gewissen, . . abgründige Erfahrungen", 96/97) rege und
darin sich „Fenster zum Absoluten hin auftun" (96); nachdem die
Philosophie immer mehr „der Ratlosigkeit des Historismus verfallen
" (91) war oder sich auf eine bloße Ontologie, die nur
„eine Durchleuchtung der faktischen Wirklichkeit auf die in ihr
geltenden Kategorien hin" (93) sein wollte (bei Nicolai Hartmann
), zurückgezogen hatte.

S. 94 f. eine leichtverständliche Zusammenfassung von Gedanken
Heideggers. — Die Formulierung auf S. 89: „großartige Erneuerung der
Metaphysik von Kant bis Hegel" erregt Befremden, da man Hegel doch
wohl im Gegensatz zum .spekulativen Karfreitag' Kants wird
verstehen müssen, aber nicht etwa noch als Vollender Kantischer Ansätze
(vgl. zum Schluß des nächsten Aufsatzes!).

Zum Problem der metaphysischen Erfahrung.

„Die alte Frage, ob Metaphysik möglich sei" (103), findet in
diesem Aufsatz zwar eine kräftige Bejahung, aber u. E. keine
wirkliche Neubeantwortung, da alles um die traditionellen Gedanken
kreist: daß bei noch so skeptischem Sich-Wegdenken der
Einzeldinge bzw. beim staunenden oder erschreckenden Gewahrwerden
„der Hinfälligkeit alles Seienden" (109) ein schlechthin
Seiendes und Gründendes begegnet. „Aus dem über dem Nichtsein
sich haltenden Sein der Dinge kommt dem Vernehmenden
der tragende Grund mächtig entgegen. Diese Erfahrung ist es,
die metaphysische Aussagen über den Seinsgrund möglich macht"
(109). Aber welche? Man vermißt die Ansatzpunkte zu konkreten
Entfaltungen, wenngleich W. die Weite des Feldes, auf dem
metaphysische Erfahrung begegnen kann (Gewissen, Schicksal,
Liebe, Kunst, Versenkung ins eigene Innere, 109), hervorhebt
und einer gewissen Enge oder Konzentration der religiösen
Erfahrung (auf die Offenbarungsquelle, theologisch ausgedrückt)
gegenüberstellt (106).

U.E. ist die Frage, ob Metaphysik möglich ist, nicht durch methodische
Vorerörterungen, sondern nur angesichts einer konkreten Konzeption
zu entscheiden, so wie Kants Kritik (von deren Radikalität man
nichts abmarkten sollte) nur durch den detaillierten Entwurf (bspw.)
Hegels als überwunden gelten kann.