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Ausgabe:

1961 Nr. 6

Spalte:

427-433

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tödt, Heinz Eduard

Titel/Untertitel:

Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung 1961

Rezensent:

Grundmann, Walter

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 6

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— leider ganz ohne Berücksichtigung des rabbinischen Material» (vgl.
z.B. P. Abh. 6. 5: Katalog der 48 Eigenschaften, durch die die Tora erworben
wird). Lange Tugend- und Lasterkataloge nehmen in der Schultradition
der Stoa einen zentralen Platz ein; in der hellenistischen
Popularphilosophie wird diese Überlieferung aufgegriffen, jedoch der
streng systematische Aufbau des Schulkatalogs zugunsten einer lockeren
asyndetischen Aufreihung aufgegeben. In der Literatur des hellenistischen
Judentums finden wir den Einfluß dieser popularphilosophischen Stilform
bei Philo, der Sap. Sal. und im 4. Makk. wieder, freilich modifiziert
durch alttestamentlich-jüdische Frömmigkeit. Anderer Art 6ind dagegen
die Tugend- und Lasterkataloge in den Henochbüchern und in den
Testamenten der 12 Patriarchen; hier erscheinen die Kataloge im Rahmen
eines Zwei- Wege -Schemas, das, wie neuerdings die Qumrantexte
gezeigt haben, auf einer dualistischen Anthropologie beruht.

Diese dualistische Anthropologie ist das Kennzeichen des neuen
Textes, 1 QS 4, 2—14, den der 2. Teil der Arbeit (Die Tugend- und
Lasterkataloge in den neugefundenen Handschriften von Qumran am
Toten Meer, S. 43—76) behandelt. Wir erhalten eine gründliche Einzelauslegung
des Textes, für den neben dem Dualismus die eschatologische
Ausrichtung charakteristisch ist.

Was das NT anlangt (3. Teil: Die Tugend- und Lasterkataloge des
NT, S. 77—127), 60 sind hier die Kataloge nadi Form und Aufbau, weithin
auch im Inhalt, stark mit den zeitgenössischen verklammert.
Bemerkenswert ist die dualistische Struktur von drei paulinischen
Katalogen: Gal. 5,19—21 (aag^lnvev/ia); Eph. 5,3—5.9 (ox6ioilq>ü>g);
Rom. 13,13 (vv^/^iuega, oxAxosl<p&<;); nicht nur dieser Dualismus,
sondern auch das Vokabular und die eschatologische Ausrichtung verbinden
diese drei paulinischen Texte mit der uns jetzt durch die Sektenschrift
bekannt gewordenen Traditionsgestalt der Kataloge. Als das
Neue im ntl. Bereich gegenüber den Qumrantexten wird zutreffend
herausgestellt, daß es dem NT nicht um Werkgerechtigkeit und Leistung
geht, sondern um den Lebensvollzug der Zugehörigkeit zur xaivr/ xzioig.

Die Arbeit ist durch die Sorgfalt gekennzeichnet, mit der
das Material dargeboten wird. Es fehlt nicht an guten Einzelbeobachtungen
. Erwähnt sei der Hinweis, daß der Imperativ
jut] nXaväo&e (l. Kor. 6,9; 15,33; Gal. 6, 7) erst von dem
rt3>n der Qumrantexte (vgl. JiXdvt] in den Test. d. 12 Patr.) her
seinen vollen Klang erhält, wo die Vokabel das Stehen unter der
gottfeindlichen Macht der Finsternis bezeichnet (S. 116); also
nicht: „Irret euch nicht", sondern: „Laßt euch nicht verführen".
Das bedrängende religionsgeschichtliche Rätsel freilich, wie es sich
erklärt, daß in Qumran, in den Test. d. 12 Patr. und bei Paulus
die Kataloge mit einem — dem AT ebenso wie der Stoa völlig
fremden — dualistischen Weltverständnis verflochten sind, das in
den Henochbüchern und in Did. 1—6 in der abgeschwächten Form
des Zwei-Wege-Schemas anklingt, bleibt offen. Daß die Arbeit
nach dieser Richtung letztlich unergiebig bleibt, geht jedoch nicht
zu Lasten des Verfassers, da diese Aporie den heutigen Stand der
Forschung kennzeichnet.

Göttingen Joachim Je re m ia s

T ö d t, Heinz Eduard: Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung
. Gütersloh: Mohn [1959]. 331 S. gr. 8°. Lw. DM 9.80.

Die vorliegende Arbeit nimmt die seit Jahrzehnten in der
internationalen neutestamentlichen Wissenschaft immer wieder
erörterte Frage nach der Bedeutung und dem Sinn wie nach dem
Ursprung der Menschensohnworte in den Evangelien und der in
ihnen erscheinenden Heilsgestalt von neuem auf. Der Verfasser,
der in der Einleitung einen Überblick über die wichtigsten
Forschungsergebnisse gibt, verbindet literargeschichtliche Fragestellung
mit form- und redaktionsgeschichtlichen Erwägungen,
erörtert die religionsgeschichtliche Seite der Fragestellung, wenn
auch beschränkt auf das Spätjudentum, und geht an den historischen
Problemen der Verkündigung Jesu nicht vorbei. Er will
die Menschensohnsprüche in Verbindung mit den ihnen zugehörigen
Niedrigkeits- und Hoheitsvorstellungen herausarbeiten und
erblickt in der Begriffswahl von Erhöhung und Erniedrigung
eine die Erfassung des Tatbestandes trübende und belastende
Vorentscheidung, die er mit Recht vermeidet.

In einem ersten Abschnitt wird auf Grund von Dan. 7, IV. Esr. 13
und den Menschensohnaussagen der Bilderreden des äth. Henoch die
Menschensohngestalt der spätjüdischen Apokalyptik in ihren verschiedenen
Ausprägungen an den einzelnen genannten Stellen, die je ihre
Eigenart und Eigengestalt haben, dargestellt; daraus erwächst die Frage,
wie diese transzendente Gestalt auf dem Hintergrund eines klaren
Dualismus vom gegenwärtigen und kommenden Äon mit dem irdischgeschichtlichen
Jesus verbunden werden konnte.

T. untersucht in drei Kapiteln, die die Mitte seines Werkes bilden,
die drei Aussagenkomplexe, in denen die Menschensohnaussage begegnet.

Er beginnt mit den Sprüchen vom kommenden Men-
schensohn, zunächst bei Markus: 13, 26 f., unter dem Einfluß von
Dan. 7,13 formuliert, 14,62 mit deutlichen Spuren christologischer
Reflexion, 8,38 mit seiner Unterscheidung von Jesus und Menschensohn,
das durch die Q-Tradition (Luk. 12, 8 f.; Matth. 10, 32 f.) bestätigt
wird und unter den drei Markusworten das einzige ist, das, in der Tradition
breit verwurzelt, sich mit Wahrscheinlichkeit auf Jesu Verkündigung
zurückführen läßt. Dieses Wort hat soteriologisdien Charakter und
hat einen auch für andere Menschensohnworte bezeichnenden Gegensatz
zwischen der Zugehörigkeit zu Jesus und zu „diesem Geschlecht". Während
bei Markus der kommende Menschensohn als der Retter derer erscheint
, die Jesus nicht verleugnen, ist er in der Q-Fassung ihr Anwalt,
Zeuge und Bürge im Gericht. Das Wort zeigt: die Relation der Jünger
zu Jesus verbürgt, wenn sie in ihr bekennend stehen, ihre eschatologische
Rettung durch den kommenden Menschensohn. Einige weitere
Q-Aussagen — Matth. 24, 27 par. 37—39 par. Luk. 17,28—30 — fallen
durch ihre Kargheit auf, sind als Parallelen der Aussagen vom kommenden
Reich zu verstehen und sind mit Luk. 11, 30 und Matth. 24, 44 im
Munde Jesu möglich, während Matth. 10, 23 und 19, 28 als Weiterentwicklungen
auf älterem Hintergrund (Luk. 22, 28—30 ist zu vergleichen
) zu verstehen sind. Das würde bedeuten, daß die Menschensohn-
vorstellung der Verkündigung Jesu zugehört, die die Züge apokalyptischer
Ausmalung und Theologie abgestreift hat und eine eigene Auffassung
vom kommenden Menschensohn erkennen läßt. Matthäus und
auch Lukas geben dem Bilde der Überlieferung eigene Züge. Matthäus
nimmt eine Reihe von Vorstellungsmomenten auf, die den Bilderreden
des Henoch entstammen; 13, 37 und 40 lassen erkennen: der Menschensohn
stellt die Seinen als guten Samen in das Reich des Menschensohnes
und liest sie daraus aus für das kommende Reidi seines Vaters; diese
Auslese erfolgt in Matth. 25, 31—46 nach Kriterien, die dem mes6iani-
schen Erdenwirken Jesu entnommen sind und der Nachfolgeverbundenheit
der Jünger mit ihm entspredien; die Anrede „Herr" an den Richter
(25,37.44) zeigt die Nähe von Menschensohn- und Kyriosaussagen.
Der Menschensohn ist bei Matthäus der Richter und sein Reich ist die
Kirche. Matthäus führt den urchristlichen Ausdrude „Panreie" im Dienst
der Paränese ein (24, 27. 37. 39). Lukas tilgt die Beziehung des Menschensohns
zu den Engeln, vor denen nach Luk. 12, 8 f. da6 Gericht stattfindet
und ordnet ihn den Gläubigen zu, deren Glauben er sucht
(18, 8b); er ist die beherrschende Gestalt der bei Gott schon wirklichen
transzendenten Welt (22,68) und des definitiven Endes (21,36 und
18, 8b). Durch 17, 25 verbindet Lukas die sonst geschiedenen Worte von
der Parusie und vom Leiden des Mensdiensohnes.

Die vom Erdenwirken des M e n s c h e n s o h n e s
handelnden Sprüche stehen unter der Frage, wie die Unterscheidung
zwischen Jesus und dem kommenden Mensdiensohn bis in
späte Formulierungen hinein hat aufrecht erhalten werden können, wenn
Jesus sein gegenwärtiges Ich mit dem Menschensohn identifiziert hat.
Mit Bultmann antwortet T.: diese Sprüche sind Formulierungen der Gemeinde
, freilich nicht, wie Bultmann annimmt, der hellenistischen Gemeinde
, sondern, wie von ihm begründet wird, der palästinischen Gemeinde
, die in diesen Sprüchen das vollmächtige Hoheitshandeln des
geschichtlichen, in seine Nachfolge rufenden Jesus zum Ausdruck bringt
und mit ihm an einigen Stellen ihr eigenes Handeln begründet (Mark.
2,10; 2,28; aus Q Matth. 11, 19par.; 12, 32 par.; 8, 20par.; Luk.
6,22. 23; Luk. 19,10; Matth. 13,37). Nur Mark. 10,45 kennt die
Paradoxie zwischen Hoheit und Niedrigkeit des Menschensohnes; es
bildet die Brücke zur dritten Aussagegruppe.

Sie handelt vom Leiden und Auferstehen des Menschensohnes
und findet sich in zwei deutlich als Kompositionsarbeit
des Markus erkennbaren Zusammenhängen, die von den anderen
beiden Evangelisten übernommen werden: Mark. 8,27 — 10, 35 und
14,1—42, während in dem mit 14,43 beginnenden Teil des Passionsberichtes
die Bezeichnung „Menschensohn" — außer 14,62! — fehlt.
In Auseinandersetzung mit Lohmeyer, Jeremias und Michaelis bestreitet
T. eine Beeinflussung dieser Worte durch Jes. 53. Für sie ist die Frage
nach der ££ovoia Jesu bestimmend. Sie wollen die Frage beantworten,
wie e6 möglich sei, daß Gott sich nicht auf die Seite seines Bevollmächtigten
stelle, sondern ihn an die gottfeindlichen Mächte ausliefern lasse,
was den Juden zum Vorwurf gemacht wird. Darin wird Auseinandersetzung
zwischen Jesusjüngern und Juden deutlich. Die Sprüche zeichnen
Jesus nicht als den „total Entleerten", den „Ohnmächtigen", den „alle
Menschen in der Radikalität seiner Zernichtung Übertreffenden", sondern
als den, der seinen Weg wunderbar vorauskennt, nidit unwissend
in eine Katastrophe hineingestoßen wird, sondern im Gebrauch seiner
Vollmacht den Weg in die Finsternis vollendet, wie es die Schrift (fist)
ihm weist. So zeigen auch diese Worte den Gegensatz zu „diesem Geschlecht
". „Erweckt die Verwerfung und das Leiden den Anschein, als
habe der Menschensohn seine Vollmacht verloren, so beweist die Auferstehung
ihre Gültigkeit und Kraft" (185). Gehören die Worte vom
leidenden und auferstehenden Mensdiensohn auch der Gemeinde an, so