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Ausgabe:

1961 Nr. 5

Spalte:

365-367

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Röbbelen, Ingeborg

Titel/Untertitel:

Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts 1961

Rezensent:

Beyreuther, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 5

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mehr so bei ihm, daß sein universaler Menschheitsglaube als
einzige Möglichkeit einer die ganze Menschheit umfassenden
neuen Form von Religion das Christliche zwar als besondere Ausprägung
dieses Glaubens verstehen und aufnehmen kann, ohne
daß umgekehrt die Idee der Humanität von der des Christlichen
abhängig sein müßte? Unbeschadet dieser Anfragen ist das Buch
von Bodenstein eine höchst lesenswerte, sorgfältig aus den Quellen
gearbeitete Darstellung, die nicht nur Troeltsch selbst reden
läßt, sondern sowohl die Quellen aufdeckt, aus denen Troeltsch
geschöpft hat, wie das Echo zeigt, das sein Werk in seiner Zeit
hatte.

Berlin Heinz-Horst Seh rey

Röbbelen, Ingeborg: Theologie und Frömmigkeit im deutschen
evangelisch-lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
. Berlin: Evang. Verlagsanstalt u. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht [1957]. XII, 470 S. gr. 8°. DM 24.80.

Die aus einer Dissertation herausgewachsene Arbeit will
einen Beitrag zur hymnologischen Forschung im Rahmen einer
hochnötigen Aufarbeitung des ganzen Gebietes der sogenannten
kirchlichen Erbauungsliteratur, zu der auch Predigtliteratur, An-
dachts- und Gebetbücher, Katechismen und Agenden gehören,
leisten. In der Tat liegt hier ein sehr wichtiger Baustein vor.
Schon der Umfang der herangezogenen Gesangbuchliteratur ist
beachtenswert. Wenn die Verfasserin mit Recht darauf hinweist,
daß es noch keine umfassende und ausreichende Darstellung der
Geschichte des Gesangbuches gibt, geschweige eine wirkliche Geschichte
der Frömmigkeit innerhalb der lutherischen Kirche
Deutschlands, so können wir ihre Arbeit als einen weiteren
Schritt auf dieses Ziel hin begrüßen.

Der Einsatz ist gut gewählt. Das 17. und das frühe 18. Jahrhundert
, die Zeit von der Orthodoxie bis zum Spätpietismus und
zur Frühaufklärung bilden eine in sich geschlossene frömmigkeitsgeschichtliche
Epoche. Dem wird m. E. jeder Kenner des
17. Jahrhunderts zustimmen, daß dieser Zeitraum eine seltsame
Abgerundetheit, theologie-, wie frömmigkeitsgeschichtlich gesehen
, aufweist. Daß dieser Epoche eben nicht mit den alten einseitig
festgefahrenen Begriffen wie Orthodoxie, Pietismus und
Rationalismus allein beizukommen ist und in ihnen nicht die
Fülle der nicht nur destruktiven, sondern auch schöpferischen und
fruchtbaren Tendenzen und Erscheinungsformen dieser doch reichen
Zeit eingefangen werden können, ist durchaus richtig. Aber
hier setzt sofort unser Vorbehalt ein. Ist diesem Reichtum, dieser
verwirrenden Fülle wirklich mit den Urteilskategorien beizukommen
, die von der Verfasserin in deutlicher Anlehnung an
Karl Barths ,,Die Protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts"
entwickelt werden? Von Karl Barth ist doch nach Erscheinen
dieses gewichtigen Werkes im Jahre 1947 manches eben sehr
deutlich modifiziert worden. Die Verfasserin versucht sich hier
mit dem sehr stark betonten Vorbehalt, der durchaus anzuerkennen
ist, zu decken, zuletzt vieles, wenn nicht alles angesichts der
komplexen Mannigfaltigkeit der behandelten Phänomene und
ihrer vielschichtigen und vielseitigen theologie-, geistes- und
frömmigkeitsgeschichtlichen Bezüge, in einer teils fragmentarischen
, teils sachlich bedingten Offenheit und Unabgeschlossenheit
zu belassen. In Wirklichkeit aber werden durchlaufend bestimmte
und m. E. viel zu enge Urteilskategorien angewendet, ohne dabei
das Gewicht vieler wertvoller Einzelbcobachtungen dadurch
abschwächen zu wollen. Ist wirklich das lutherische Gesangbuch
des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ein Dokument menschlicher
Frömmigkeitsäußerungen und menschlicher Frömmigkeitspflege,
in dem die kritische Frage, ob das Menschenwort, d. h. damals
die Modesprache zum Dienst des Wortes Gottes geeignet sei,
verstummt ist? Die enge Bezogenheit auf daß „objektive Wort"
sei damals durch das Nichtauf treten einer kritisch fragenden
Theologie aufgelöst worden. Hier wird die Position der Verfasserin
deutlich, ihre in der Einleitung skizzierte Bestimmung
■des Verhältnisses von Theologie und Frömmigkeit. Sie will in
ihrer großen Untersuchung eine theologie- und frömmigkeits-
geschidhtlichc Epoche analysieren, von deren Ergebnissen wir
heute weitgehend in Theologie, Kirche und Gemeinde leben,
woran ,,selbst die Luther-Renaissance wenig zu ändern vermochte
". Die sichernde und kritische Funktion des lutherischen

Rechtfertigungsartikels als Mitte und Grenze aller Verkündigung
bis hin in die Erbauungssprache habe sich also bis heute noch
nicht recht durchgesetzt. Wenn es auch nicht ausgesprochen wird,
die Feststellung, wie weit dort die Theologie und Frömmigkeit,
die sich im lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts
niedergeschlagen hat, hier zurückgeblieben ist, soll also
dazu helfen, davon heute nunmehr Abstand zu gewinnen.

Dagegen sind doch Bedenken von der Sache her anzumelden.
Tatsache ist, daß bei der starken gottesdienstlichen Bindung des
einzelnen Christen in jenem Zeitraum, die wir un6 nicht kräftig
genug vorstellen können und bei der ungebrochenen Herrschaft
des alten reformatorischen Liedgutes im De-tempore-Lied des
Gottesdienstes, das Choralgut des 17. Jahrhunderts weitgehend
eine Ergänzungs-, Auslegungs- und Aneignungsfunktion gewiß
oft auch mit polemischem Akzent annahm. Es fehlt in diesen
untersuchten Gesangbüchern m. E. keines der tragenden Stücke
aus dem reformatorischen Liedgut, das bei der starren Agendengebundenheit
des Gottesdienstes bis zur Aufklärungszeit einfach
dominiert. Man wird also von einer eigenmenschlichen Frömmigkeit
als einem ausschlaggebenden Faktor in der Frömmigkeit und
Theologie jener Zeit nur sehr bedingt sprechen können. Es ist
doch merkwürdig, wie erstaunlich viel am Evangelium, d. h. von
der Rechtfertigungsbotschaft damals festgehalten, ja, lebendig geblieben
ist. Man muß also beides nebeneinander sehen, um die
ganze Wirklichkeit zu haben.

Es bleibt unbestritten, daß bei der Entdeckung des Individuums
in der Seelenformung des 17. und 18. Jahrhunderts und bei
dem Erwachen des Willens, den Menschen zu formen und zu
bilden, die Elemente greifbar werden, die zu einer Verkürzung
der Rechtfertigungsbotschaft führen konnten und führten. Aber
die Rechtfertigungsbotschaft ist dadurch durchaus nicht den Zeitgenossen
unverständlich geworden! Daß das geistliche Lied alle
geistlichen Wandlungen der Zeit widerspiegelt, bedeutete doch
nicht nur Preisgabe der Botschaft, sondern missionarisch gesehen,
verhinderte es das Unverständlichwerden der Evangeliumsverkündigung
durch Konservierung einer vergangenen Problemstellung
und Gemütslage. Gab es damals wirklich im Choralgut
eine von dem Bezug auf das Wort losgelöste menschliche Religiosität
? Wird hier nicht das Signum späterer Zeiten, das Produkt
einer mehr oder minder vollendeten Säkularisation, in jene
Epoche hineingetragen? Bei der Behandlung der Unio-Mystik
wird die Enge der Position besonders deutlich. Die Tatsachen,
die Werner Eiert im 1. Band seiner Morphologie des Luthertums
hier angeführt hat, treten überhaupt nicht in das Gesichtsfeld
. Liegen die Dinge wirklich so einfach? Es gibt nicht wenige
lutherische Unio-mystika-Lieder dieses Zeitraumes, die keinesfalls
richtig interpretiert werden, wenn man sie in den Linien der
Verschmelzungstheorie mittels eines Weges der ekstatischen Erhebung
bzw. des geregelten quietistischen Exerzitiums beurteilt.
So müssen wir starke Bedenken gegen die Ausführungen über
.Jesusfrömmigkeit und mystischen Eros in ihrer Funktion als
Ersatzbildungen füT die Rechtfertigungsanschauung" anmelden.
Das wird besonders deutlich, so wertvoll eine Unzahl an Einzelbeobachtungen
sind, an der Beurteilung Paul Gerhards. Hier hat
die an bestimmte Urteilskategorien gebundene theologische
Kraft der Verfasserin doch wohl nicht zugereicht, das Phänomen
Paul Gerhard wirklich sichtbar zu machen. Bei Paul Gerhard und
später bei Zinzendorf fließt die süßliche Sprache, die ein scheinbar
einseitig-vermenschlichtes und sentimentales Christusbild zeichnet
, aus der theologia crucis, die beide deutlich als Grundposition
ihrer ganzen Frömmigkeit und Theologie aufweisen, aus einer
Huldigung des Christus incarnatus. Ausgangspunkt ist nicht der
vermenschlichte und sentimentalisierte Jesus, sondern der Chri-
tus, den aller Erdkreis nie umschloß, ist zeitgebundene Anbetung
der Kondeszendenz Christi. Wir gehen wohl nicht fehl,
beide, Paul Gerhard wie Zinzendorf, als Vertreter einer gewiß
zeitgebundenen, aber doch echten lutherischen Kondeszendenztheologie
anzusprechen.

Man könnte u. a. noch darauf hinweisen, daß zweifelsohne
Luther bei seinen Urteilen über Lieder, die einen anderen, einen
fremden und gefährlichen Geist zeigen, an das reiche Liedgut
der Täufer mitgedacht hat. Als eine andere Einzelheit auf Seite 91
über die stoische Lebenshaltung des 17. Jahrhunderts könnte