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Ausgabe:

1961 Nr. 5

Spalte:

362-363

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Murphy, John L.

Titel/Untertitel:

The notion of tradition in John Driedo 1961

Rezensent:

Beth, Marianne

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 5

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dition, a. a. O. S. 2 80 ff.) zuwenden können (wichtig bei Werbeck
S. 45 ff.).

W. unterrichtet zunächst (I.) über Leben und Werke des Jacobus
Perez: geb. um 1408, Eintritt in den Augustinerorden 1435 in Valencia,
Prof. für kanonisches Recht, seit 1479 Sentenzenprofessor, bereits vorher
Provinzial, Titularbischof von Christopolis u. Auxiliar des Kardinals
Rodrigo Borgia von Valencia, gestorben über SOjährig 1490. Die seit
Diestels „Geschichte des AT in der christlichen Kirche" (Jena 1869) verbreitete
Meinung, P. sei getaufter Jude, wird in Übereinstimmung mit
einer bereits 1930 erschienenen Arbeit A. Kaminkas auf Grund der
Quellen als unmöglich abgewiesen.

Als echte Werke werden genannt: a. Auslegung der Psalmen (1484
gedruckt), b. Tractatus contra Iudaeos, c. Auslegung des Hohenlieds,
d. Auslegung der Cantica officialia (Cantica aus dem AT und NT, die
nicht im Psalter stehen), e. Kommentar zum Tedeum. Über die verschiedenen
Drucke siehe S. 39 ff.

Unter II untersucht W. die im Psalmenkommentar zitierten Quellen
des Perez (S. 51—73). An erster Stelle, „die vornehmste Autorität in
der Tradition" (S. 53), steht Augustin, der im Psalmenkommentar rund
600 mal erwähnt wird. Begreiflicherweise werden Augustins Enarrationes
in Psalmos, bald mit, bald ohne Quellenangabe, ausführlich zitiert. Aber
auch die Benutzung anderer Werke des Kirchenvaters wird von W.
gewissenhaft nachgewiesen.

Aus der rabbinisch-jüdischen Literatur werden die älteren Rabbi-
nen der ersten Jahrhunderte selten, die jüdischen Exegeten des Mittelalters
dagegen häufig zitiert, vor allem Raschi und Kimchi (S. 59). Sie
sind für Perez die typischen Vertreter der falsae et ineptae glosae mo-
dernorum Iudaeorum (S. 19, Anm. 1). Die Annahme eines selbständigen
Quellenstudiums hält W. mit Recht für „wenig wahrscheinlich"
(S. 73). Hier ist vor allem wohl Lyra der große Mittler (S. 72).

In III „Die hermeneutischen Ansichten des Perez und ihre traditionelle
Verankerung" (S. 74—137) stoßen wir auf ein zentrales Kapitel
der Werbeckschen Untersuchung. Im 1. Abschnitt werden Aufbau und
Inhalt des Prologs zum Psalmenkommentar detailliert entfaltet. Entscheidend
für P. der traditionelle Gedanke, „daß die ganze hl. Schrift
im Buche der Psalmen enthalten sei" (S. 90). Ähnliche Aussagen finden
wir bei Lyra, dann aber auch in Luthers bekannter Vorrede auf den
Psalter! Ebenso traditionell die dem P. aus Augustin, Lyra u. A. bekannten
und übernommenen Regeln des Donatisten Tyconius zur Auslegung
der Schrift (zu Anm. 3 S. 91 wäre noch zu nennen: Traugott
Hahn, Tychoniusstudien, 1900).

Der 2. Abschnitt über „Der vierfache Schriftsinn in Theorie und
Anwendung" macht deutlich, daß P. zwar grundsätzlich den üblichen
vierfachen Sdiriftsinn bejaht, in der Praxis „aber keinen durchgängigen
Gebrauch (davon) macht" (S. 104). Seine Absicht ist, die Psalmen iuxta
sensum litteralem et propheticum auszulegen (S. 110 Anm. 1). Auf das
Verhältnis von sensu« litteralis und sensus spiritualis geht daher der
3. Abschnitt (S. 112—137) ausführlich ein. Die dem Perez vorgängige
mittelalterliche Tradition bemüht sich um Klärung des sensus litteralis.
Neigt noch Andreas (Schüler des Hugo von St. Viktor) dazu, sensus
litteralis und sensus judaicus (jüdische Exegese) gleichzusetzen, so werden
durch Herbert von Bosham (gest. 1190) (S. 117), besonders aber durch
Thomas und Lyra die buchstäbliche Deutung und die prophetisch-geistliche
Auslegung als sich nicht notwendig ausschließend erkannt. So
kommt es bei Lyra, in der Fortführung bzw. Präzisierung von Ausführungen
des Thomas, zur Lehre vom „doppelten sensus litteralis"
(S. 121 f.), zum wörtlich-historischen Sinn (den die jüdische Exegese
herausarbeitet) und zu dem 6ensus litteralis, der der prophetischen Intention
des biblisdien Schriftstellers, d. h. aber seinen Hinweisen auf
die mysteria Christi, entspricht. So wird die christozentrisdie Exegese
des AT gerade als sensus litteralis möglich. Diese Lehre vom doppelten
Literalsinn verhilft P. dazu, „die Deutung der Psalmen auf Christus
konsequent durchzuführen" (S. 126). Dabei will P. die materia histori-
alis der at. Texte nicht leugnen. Er entwickelt daher die Theorie vom
zweifachen prophetischen Geist, der einerseits auf seine Zeit und Gegenwart
(materia historialis), andererseits auf Christus (materia mystica)
hinweise (Beispiele S. 125 und 131, Anm. 3). Wer wird bei solchen Gedanken
nicht an die Bemühungen um die typologische Auslegung in der
Gegenwart erinnert?!

Lyras Lehre vom doppelten Literalsinn hat über Faber Stapulensis,
der seinerseits wohl von Gerson her bestimmt ist, auf Luthers Hermeneutik
wie sie uns in der 1. Psalmcnvorlesung begegnet, eingewirkt
(vgl. Fr. Hahn, Faber Stapulensis und Luther, ZfKG 1938, S. 3 56—432
und: Zur Hermeneutik Gersons. ZfThK 51, 1954, S. 34—50).

„Die Exegese des Perez im Vergleich mit der Tradition" wird in IV
(S. 138—209) in detaillierter Analyse der Auslegungen zu den Pss. 26,
89, 39, 129 und 18 behandelt. Bei aller, im einzelnen genau von W. belegten
Anlehnung an die Tradition bekommt man „den Eindruck einer
ziemlich weitgehenden exegetischen Selbständigkeit des Spaniers"
(S. 185); vgl. auch S. 156, 194f„ 200). Dabei fällt besonders die Betonung
der heilsgeschichtlichen Aspekte auf (außer den eben notierten Seiten
auch S. 209).

Im abschließenden Kapitel V „Zum theologisdien Gedankengut des
Perez" (S. 210—258) wird zunächst „zum Problem einer spätmittelalterlichen
Augustinerschule" behutsam Stellung genommen. Sicheres läßt
sich nicht sagen, da die Augustinertheologie des 14. und 15. Jhdts. noch
längst nicht literarisch aufgearbeitet ist (S. 213). Die Untersuchung
wichtiger Lehrpunkte bei Perez (u.a. Urständ, Erbsünde, Konkupiszenz,
Taufe, außersakramentale Gnade, Werk Christi) führt den Verf. zu der
Feststellung: „Als gesichert darf gelten, daß Perez keinesfalls der occa-
mistischen Richtung angehört, ihr vielmehr kritisdi und mißtrauisch
gegenübersteht. Der Dissensus in der Erbsünden-, Gnaden- und — wenigstens
z. T. — Versöhnung6lehre ist offenkundig ..." (S. 257).
W. ordnet den P. daher theologiegeschichtlich der „älteren franziskanischen
und der thomistischen Theologie" auf dem Boden der Hochscholastik
zu.

Alles in allem ein sehr ergiebiges, zur Erhellung der Hermeneutik
, Exegese und Theologiegeschichte des 15. Jhdts. und
damit indirekt zum Problem der hermeneutischen und exegetischen
Quellen Luthers aufschlußreiches Werk.

Darmstadt Friedrich Hahn

Murphy, John L.: The Notion of Tradition in John Driedo. Dissertation
. Milwaukee: The Seraphic Press 1959. XIV, 321 S. gr. 8° =
Pontificia Universitas Gregoriana. $ 3.—.

Das Problem der Bedeutung der Tradition ist seit den Zeiten
der Reformation niemals zur Ruhe gekommen. In neuerer Zeit
hat es sowohl in innerkatholischen Diskussionen wie in Auseinandersetzungen
mit Protestanten und nun ganz besonders im
Hinblick auf das geplante Konzil an Wichtigkeit gewonnen.
Beweis dessen ist die Fülle von Literatur, die sich mit dieser
Frage beschäftigt.

Verf. geht in seinen sehr eingehenden und auf viele Zitate
aus Driedo's wichtigstem Werke ,De ecclesiasticis scripturis et
dogmatibus' gestützten Ausführungen davon aus, daß eine genauere
Kenntnis des vortridentinischen Denkens und der vor-
tridentinischen Terminologie moderne Theologen davor bewahren
würde, Ausdrücke und Gedankengänge des 16. Jahrhunderts
so zu interpretieren, als ob sie dieselbe Bedeutung besäßen wie
im 20. Jahrhundert. Das ist an Diskussionen mit Deneffe
(S. 248 ff.), Lodrioor (S. 253 ff.) und Geiselmann (S. 273 ff.)
exemplifiziert.

Driedo wurde als Repräsentant dieser Ära gewählt, weil es
nicht unmöglich ist, daß seine Anschauungen über das Verhältnis
zwischen hl. Schrift und Tradition das Konzil von Trient beeinflußt
haben. Driedo besaß überdies eine Sonderstellung. Er war
ein führendes Mitglied der theologischen Fakultät der Universität
Louvain, die als eine der ersten gegen Luther Stellung genommen
hatte. Er verkörperte den Übergang von der Scholastik zum
Humanismus, leider auch in seinem Stil. Er war einer der ersten,
die sich mit der patristischen Literatur eingehender beschäftigten
und ihre Rolle zu präzisieren versuchten. Seine Besonnenheit,
auch in dieser polemischen Schrift, erhöht seine Bedeutung.

Leider sind, wie Verf. hervorhebt, eben dieser polemischen
Form wegen Driedo's Ausführungen und Terminologie nicht
immer so klar, wie es wünschenswert wäre. Seine Gedankengänge
sollten daher immer aus den grundlegenden und immer wiederholten
Anschauungen heraus interpretiert werden. Verf. meint,
daß man dieses Verständnis am leichtesten gewinnt, wenn man
sich stets vor Augen hält, daß für Driedo hl. Schrift und Tradition
zu allen Zeiten eine lebendige Einheit waren. Christus und die
Apostel überlieferten die Offenbarung der „Urkirche", d. h. der
Kirchen, wie sie zu Zeiten der Apostel bestand. Diese Botschaft
fand erst später ihren schriftlichen Niederschlag in den Evangelien
. Die Urkirche glaubte und lehrte die christliche Wahrheit,
bevor die Bücher de6 Neuen Testaments geschrieben waren. Nach
dem Tode des letzten Apostels war die christliche Offenbarung
abgeschlossen. Nichts konnte weggenommen werden; nichts Neues
konnte hinzugefügt werden (S. 230).

Alle heilsnotwendigen Wahrheiten sind in der hl. Schrift
enthalten, ausdrücklich, stillschweigend oder in Andeutungen
(S. 241). Diese heilsnotwendigen Wahrheiten werden nur durch
die Tradition (oder Traditionen) ergänzt, ausgedeutet, entwickelt
und voller verständlich gemacht. Auf der anderen Seite