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Ausgabe:

1961 Nr. 1

Spalte:

7-20

Autor/Hrsg.:

Søe, Niels H.

Titel/Untertitel:

Römisch-katholische Sittenlehre 1961

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 1

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folgen, und der Verwegenheit dieser Theologie gegenüber uns
Bultmanns radikale Existentialinterpretation fast harmlos erscheint
. Ich weiß nicht, ob das katholisch ist, gestehe aber, von
Paulus bisher nichts begriffen zu haben, wenn das paulinisch ist.
Daß der Apostel die Unterwerfung des Alls nicht als kirchlichen
und kosmischen Reifeprozeß, sondern als Parusiegeschehen erhofft
, galt mir bislang als sicher. Von einer Erbauung des Alls
zugleich mit derjenigen der Kirche zu sprechen, ist im Atomzeitalter
zum mindesten mutig, angesichts der christlichen Erwartung
, daß Himmel und Erde vergehen, jedoch nicht ganz ungefährlich
. Den Skopus des Abschnittes würde ich nicht im Wachstum
der reifen und mündigen Kirche erblicken, obgleich die
Einzelausführung das nahelegt, sondern mit V. 10. 13 im Pleroma
Christi, der alles erfüllen will und mit seinem Leibe tatsächlich
erfüllt. Daß das trotz zugrundeliegender gnostischer Terminologie
und Motivation nicht ontologisch, sondern geschichtlich zu verstehen
ist, ergibt sich von da aus, daß hier die Briefparänese eingeleitet
und begründet wird: Wo Christen als Christen handeln,
richtet Christus durch sie seine Herrschaft auf Erden auf, und kein
Bereich des Lebens ist davon ausgenommen, Stätte christlicher
Bewährung zu sein. Zu den notae ecclesiae gehört eben auch, daß
die Kirche im Alltag der Welt und durch den Dienst ihrer Glieder
handelt und darin die Welt als Herrschaftsbereich Christi erweist
, sie damit entdämonisiert und als Schöpfung anerkennt.

Christus durchdringt im Handeln der Seinen den Kosmos in der
Tiefe wie mit der Heidenmission in der Weite. Das ist das esdha-
tologische Geschehen, von dem aus nach meiner Meinung die
Ekkle6iologie des Briefes verstanden werden will und muß.

Nun meine ich, abbrechen zu können, weil sich von hier aus
die Möglichkeit einer andern Interpretation andeutet. Nur eine
Sonderuntersuchung könnte sich auf die Exegese von 5, 22—33
einlassen, mit welcher der Kommentar in gewisser Weise seinen
Höhepunkt und seine Schlüsselstellung erreicht und deren reli-
gionsgeschichtliche Analyse gar nicht genug bewundert werden
kann. Wenn irgendwo, wird hier sichtbar, wie es vom Text her
zu Schliers Interpretation kommt, freilich auch, wie wenig dieser
Text mit seiner fast johanneischen Lehre, daß das Himmlische sich
im Irdischen abschatte, für Paulus reklamiert werden sollte und
wie sehr er sich Ignatius nähert. Der Protestant gerät damit allerdings
in Verlegenheit, die er nicht anders als sachkritisch überwinden
kann. Indem ich diese Verlegenheit eingestehe, möchte
ich abschließend herausstellen, daß alle Auslegung ein Wagnis
bleibt, das des menschlichen Einsatzes nicht entbehren kann. Was
immer gegen Schlier kritisch eingewandt werden mag, niemand
wird ihm absprechen dürfen, daß sein Kommentar gerade um
eines solchen radikalen Einsatzes willen faszinierend wirkt und
vorbildlich i6t.

Römisch-katholische Sittenlehre

Von N. H. S 0 e, Kopenhagen

Der einflußreichste englische Philosoph dieses Jahrhunderts
ist wohl der 1958 gestorbene Cambridge-Philosoph G. E. Moore,
Urheber der sogenannten „analytischen Schule". In seinen „Prin-
cipia ethica" (1903) hat er den Ausdruck „der naturalistische
Fehlschluß" (the naturalistic fallacy) geprägt. Er meint damit den
logischen Fehler, den Forscher auf dem Gebiet der Ethik so oft
machen, daß sie aus einer gegebenen Sachlage, einem Indikativ, ein
ethisches Gebot, einen Imperativ, deduzieren. Bekanntlich hat als
erster David Hume schon in seinem „Treatise of Human Nature"
(1739—40) auf diesen Fehlschluß aufmerksam gemacht, wie ja
auch Henri Poincare in einer oft zitierten Aussage sich dagegen
wendet. Von einem gegebenen Sein kann man nie auf ein aufgegebenes
Sollen schließen.

Daß diese Kritik berechtigt ist, scheint mir unleugbar. Man
kann zwar sehr leicht den logischen Fehler dadurch verschleiern,
daß man den imperativischen Satz in einen rein formell indikativischen
umformt. Das ändert aber natürlich nichts an der Tatsache
, daß man aus einem Sein ein Sollen ableitet. Wenn das nicht
möglich ist, ist doch wohl schon aus rein logischen Gründen die
viel besprochene „deutsch-christliche", aber auch in anderen Kreisen
eingebürgerte „Ethik der Schöpfungsordnungen" hinfällig.
Und wie ist es in dieser Hinsicht mit der römischen Tradition?
Lebt nicht hier ziemlich unangefochten die alte Verwirrung weiter
, wo man sorglos das Wort Gesetz sowohl in dem indikativischen
Sinn „Naturgesetz" als in dem imperativischen „Moralgesetz
" verwendet und unbekümmert von der einen Bedeutung
auf die andere hinübergleitet? Bekanntlich war im Griechentum
das Wort „logos" nicht nur das, was man theoretisch ergreift,
sondern auch eine für das wahrhafte Leben und Handeln verpflichtende
Norm. Oder etwa das Wort „gut". Wie A. Messer
einmal sagt, war noch für Sokrates „der Doppelsinn", der auch
für uns in diesem Wort liegt, ungesondert.

Wir stehen hier vor der Hauptanklage, die Karl Barth in der
prinzipiellen Einleitung zu seiner Ethik gegen die katholische
Theologie vorführt (Kirchliche Dogmatik II. 2, S. 586 ff., bes.
S. 591). Ohne, wie es scheint, die logischen Einwände zu berücksichtigen
, sagt Barth eigentlich dasselbe wie die heutige britische
Philosophie der analytischen Schule. Die römische Moraltheologie
begründe das Sollen im Sein, und „die auf die Ordnung des Seins
aufgebaute Ordnung des Sollens kann als solche keine Ordnung
des Sollens sein: keines göttlich gebietenden Sollens
jedenfalls, wie es in Jesus Christus . . . auf den Plan getreten
ist". An der Stelle des in seiner Herrschaft sich offenbarenden
Herrn der Bibel stehe in der römischen Theologie „das Gottesbild
des Seins, der Gottesbegriff der antiken Philosophie". Und
ungeheuer scharf konkludiert Barth: „Dieses Gottesbild mag, wie
es solchen Dämonengestalten zusteht, vieles können. Es kann
aber nicht eigentlich gebieten." „Was hat jene Metaphysik des
Seins mit dem Gott zu tun, der der Grund und der Herr der
Kirche ist?" (S. 5 89) Barth konstatiert eine enge Verwandtschaft
zwischen der römischen Moralphilosophie und dem Geist des
Neuprotestantismus. Nur daß bei den Römischen „Meisterschaft"
am Werk ist, bei den Neuprotestanten hingegen „handgreiflicher
Dilettantismus" (S. 593).

Die zentrale Frage, wenigstens an die philosophischen
Grundlegungen der Ethik, ist nun, inwiefern diese Anklage Karl
Barths sich als richtig erweist.

Wendet man sich zunächst an Ludwig Bergs „Sozialethik"1,
kann man nur mit einem klaren Ja antworten. „Welches Gut
kann den Willen 60 verpflichten, daß er sich ihm nicht entziehen
darf?" wird gefragt (S. 28). Und die Antwort ist keineswegs das
urchristliche Bekenntnis „Jesus ist Kyrios", sondern folgendes:
„Es kann nur ein solches Gut sein, worin der Mensch seine Vervollkommnung
findet. Das Gut der Gemeinschaft ist ein derartiges
Ziel für den Willen. Darin kommt die Sozialnatur des
Menschen zur Verwirklichung." Und diese Antwort ist typisch.
Der Mensch weiß von Natur um sein Wesen und die Vervollkommnung
dieses Wesens und strebt von Natur auf dieses Ziel
hin. Natürlich muß der Einzelne zu klarer Einsicht in die Sachlage
hingeleitet werden. Das ist Aufgabe der Philosophie, der Metaphysik
. Und klipp und klar wird behauptet: „Die Metaphysik des
Sozialen begreift das Ordnungsganze in seinem Wesensgesetz
und gewinnt hier den Maßstab für Gemeinschaft überhaupt. ..
Die Sozialethik ist eigentlich nichts anderes als die Metaphysik
des Sozialen, angewandt auf das menschliche Handeln"
(S. 68). Von einem klaren Indikativ geht somit ein eindeutiger
Weg zu dem ethischen Imperativ hin. „Das Wesensgesetz des
Sozialen ist zugleich das Gesetz für das soziale Handeln" (S. 69).
Das ethische Sollen ist somit nur der Ausdruck des von der
Metaphysik richtig verstandenen menschlichen Wesens. „Werde,
was du bist, ist die sozialethische Grundforderung" (S. 77), wie
es schließlich auch die personalethische ist. Kein Spinoza könnte
das schöner ausführen. Aber natürlich wird nicht auf ihn, sondern
auf Piaton, Aristoteles, Plotin und dann selbstverständlich auch
auf Thomas hingewiesen.

') Berg, Ludwig: Sozialethik. München: Hueber 1959. XII, 249 S.
8° = Handbuch der Moraltheologie, hrsg. von M. Reding, Bd. IX.