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Ausgabe:

1961 Nr. 4

Spalte:

255-266

Autor/Hrsg.:

Dilschneider, Otto Alexander

Titel/Untertitel:

Die Geistvergessenheit der Theologie 1961

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 4

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1,24!), weil darin seine Botschaft der Welt glaubhaft wird und
sich das Heilsgeschehen erfüllt'3.

e) Ke<pah), in den griechischen Parallelen als physisches
Organ des Leibes verstanden, bezeichnet in der jüdischen Gedankenwelt
den Stammvater oder Anführer'3. Nicht eine physische
oder auch sakramentale Verbundenheit zwischen Christus

"-') Verkündigung ist also gerade nicht gnostische Mitteilung neuer
Weisheit, wo der Verkünder als der Besitzer rettender Offenbarung dem
armen Heiden gegenübersteht, sondern Dienst der Liebe, die 6ich dem
andern (vielleicht leidend und sterbend) unterordnet und gerade darin
die unbedingte Herrschaft Christi über alle und alles darstellt. Wachsende
Kirche ist nie fertige, besitzende Kirche. Sie weiß um das Gesetz
Christi, daß nur in ihrem Sterben sein Leben aufbricht (Mk 8, 34 f.;
2 K 4,7—18; 1,3—11). Das ist auch schon von R 12, 1 f. 14 ff. und
1 K 12, 7; 14, 1 ff. 16. 23 ff. wie von der skizzierten Korrektur an den
geschilderten Seiten- und Gegenbewegungen zu lernen.

a3) Vgl. Anm. 14. Philo Praem Poen 114. 125 ist besondere interessant
, weil dort ebensogut ein Volk wie ein Individuum diese Rolle
spielen kann. So versteht es wohl audi Th. Soiron, Die Kirche als der
Leib Christi, 1951, 106 f., wenn er erklärt, die Aussage Christus =
Haupt sei schon mitenthalten in 1 K 15, 12 ff.; R 5, 12 ff.

und Kirche wird damit betont", sondern sein Herrsein über die
Machte und über die Kirche, deren Wachstum er allein schenkt"'.

f) Dadurch, daß das Kreuz anstelle der Erhöhung ins Zentrum
gerückt wird**, wird sichtbar, wie wenig man gerade in der
Aussage vom Leibe Christi ein mystisches Geheimnis sehen darf,
das ontologisch zu erfassen ist. So ist es in der Gnosis eventuell
verstanden, wo es seinen Sitz im Leben in der Soteriologie hat,
nicht wie bei Paulus, im Kolosser- und im Epheserbrief, in der
Rede vom Leben der Gemeinde. Leib Christi ist die Kirche nur,
wo sie 6ich eingegliedert weiß in die Geschichte, die durch Jesu
Kreuz bestimmt ist. Gegen alle mythische Interpretation wird
festgehalten, daß sie nur als die durch ihn erlöste und 6ich von
ihm in die Völkerwelt hinaus gesandt wissende Leib Christi ist,
d. h. daß sie nur im Bereich des von Kreuz und Auferstehung ausgehenden
Segens und der darin errichteten, Gehorsam fordernden
Herrschaft Christi Kirche 6ein kann.

") So Benoit (Anm. 14) 7 ff.

•5) Das All, das Gott feindlich gegenübersteht, ist nicht Leib Christi,
wird aber von Christus durchdrungen. Es ist also ein herrschaftliches
Durchdringen (E. Käsemann, ThLZ 1956, 587).

") Ähnlich fügt Hb die Theologie des Kreuzes in eine ursprüngliche
Erhöhungschristologie ein (Schweizer [Anm. 12] 7g).

Die Geistvergessenheit der Theologie

Epilog zur Diskussion über den historischen Jesus und kerygmatischen Christus

Von Otto A. Dilschneider, Berlin

Die uns seit Jahren so bewegende und erregende Diskussion
um die Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft
hat eine Ausweitung und Zuspitzung hin zur Frage nach dem
historischen Jesus und dem kerygmatischen Christus erfahren.
Da6 kommt u. a. in einem kürzlich bei der Evangelischen Verlagsanstalt
Berlin erschienenen und von Helmut Ristow und Karl
Matthiae herausgegebenen Sammelband zum Ausdruck, in dem
48 evangelische und katholische, deutsche und ausländische
Theologen das Wort zu diesem Thema ergreifen1. Theologiegeschichtlich
gesehen handelt es sich um ein Problem jüngeren
Datums. Joachim Jeremias verweist uns in seinem Beitrag auf das
Jahr 1778, in dem Lessing das siebente Wolfenbütteische Fragment
,,Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment
des Wolfenbütteischen Ungenannten" veröffentlichte2. Also
von der Aufklärungstheologie her ist uns diese Fragestellung
überkommen, die dann nur scheinbar im theologischen Liberalismus
um die letzte Jahrhundertwende ihren Wendepunkt erreicht
zu haben schien. Heute sehen wir, daß hier ein nicht durchgestandenes
Problem des Liberalismus erneut in den Vordergrund der
Diskussion eingedrungen ist. Sicher hat Hermann Diem Recht,
daß die alte Unterscheidung zwischen liberal und positiv heute so
nicht mehr zutrifft und man besser von einer theologischen Linken
und Rechten sprechen sollte3. Zumindestens wenn man auf
die hier angewandten Methoden und Verfahrensweisen schaut,
geht es nicht, wie Rudolf Bultmann richtig zum Ausdruck brachte,
um eine ,,repristinierende Wiederholung" des alten Liberalismus
*. Das dürfte auch James M. Robinson neuerdings überzeugend
dargelegt haben5. Es geht aber sehr wohl darum, die legitimen
Motive des alten Liberalismus in einer verständlichen Reaktion
gegen eine „Neuorthodoxie" und einen „vulgären Barthia-
nismus", und das will letztlich heißen, gegen einen unkritischen
Offenbarungspositivismus, wie er noch in jüngsten dogmatischen
Neuerscheinungen anzutreffen ist, zur Geltung zu bringen*. So
ist es weder ein Unrecht noch eine Abwertung, die geistige

') Der historische Jesus und der kerygmatische Christus. Beiträge
zum Christusverständnis in Forschung und Verkündigung, hrsg. von
Helmut Ristow und Karl Matthiae. Berlin: Ev. Verlagsanstalt 1960.
Eine ausführliche Besprechung erfolgt in einem späteren Heft der ThLZ.

2) Ebd. S. 13.

') Ebd. S. 222.

*) R. Bultmann, Geleitwort zu A. v. Harnack, Das Wesen des Christentums
. Berlin: Ev. Verlagsanstalt (Lizenzausgabe des J. C. Hinrichs
Verlags, Leipzig) 1950, S. XVI.

6) James M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus, 1960.

«) R. Bultmann, desgl. S. XVI.

Grundhaltung, die uns hier begegnet, als Neo-Liberalismus zu
bezeichnen. Dafür sprechen die Daten selber. Im Jahre 1906 kam
Albert Schweitzer mit seinem Werk „Von Reimarus zu Wrede"
heraus, dem er mit der zweiten Auflage 1913 den uns heute geläufigen
Titel gab „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung".
Dieses Standardwerk erlebte nunmehr 1951 seine sechste Auflage
. Im Jahre 1905 hatte Rudolf Bultmann das Manuskript seines
Jesus-Buches abgeschlossen, das 1926 erschien und nunmehr 1951
seine zweite Auflage erlebte7. Diese Daten berichten uns, wie
die Fragestellungen des Liberalismus um die Jahrhundertwende
nunmehr in der Mitte unseres Jahrhunderts wieder aufbrechen.
Man könnte sagen, daß diese Probleme in ihrer Legitimität das
Zwischenspiel eines Offenbarungspositivismus überlebten und so
heute vordringlichst auf die Tagesordnung gelangt sind.

Die Ausgangsstellung Rudolf Bultmanns in 6einem Jesus-
Buch 1926 (1905) erweist sich als die eigentliche Schlüsselstellung
seines Programms einer existentialen Interpretation des Neuen
Testamentes. Was an diesem Programm und dieser Methode
gültig und vertretbar ist, kommt in dieser Diskussion zur
Sprache, die sich hier um den historischen Jesus und kerygmatischen
Christus bewegt. Das Feld der Auseinandersetzung ist
terminologisch so durchgepflügt, daß hier jede Vorstellung, jeder
Begriff vieldeutig wurde, je nach dem geübten Sprachschatz der
einzelnen Autoren. Das gilt für Worte wie Mythos, Kerygma,
Geschichte, Historie u. s. w. Eine sachgemäße Aufnahme dieser
so umfangreichen Diskussion, wie sie in dem vorgelegten Sammelband
geübt wird, setzt ein Hinhören auf die sehr individuell geprägte
Terminologie der Autoren voraus. Darin bekundet sich
aber auch die sprachliche Bemühung und Präzision, die zur Klärung
des Problems aufgewendet wird. Wie sich zugleich damit
auch die Bedeutsamkeit des Themas ausspricht, nicht zuletzt für
den Dogmatiker, der hier zur grundsätzlichen Vorbesinnung auf
seine Ausgangsstellung gerufen ist. Es dürfte ja kaum noch zu
übersehen sein, welche eminente Bedeutung diese Diskussion um
den historischen Jesus und kerygmatischen Christus für die systematische
Theologie und also für die heutige Dogmatik hat.
Das zeigt auch der Anteil der dogmatischen Disziplin an dem uns
vorgelegten Sammelband. Der Dogmatiker muß sich für seine
Ausgangsstellung Rechenschaft um diese Problematik geben, will
er nicht in einem ungeschützten, unkritischen Offenbarungspositivismus
einfach nur die großen Daten des Credo durchhalten.
Der Dogmatiker ist, wie es Hermann Diem richtig sah, in das
geistige Spannungsfeld von Historismus und Existentialismus ge-

7) R. Bultmann, Jesus, Deutsche Bibliothek Berlin 1926. L Auflage.