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Ausgabe:

1961 Nr. 3

Spalte:

226

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Keßler, Paul

Titel/Untertitel:

Die Sozialethik Richard Rothes 1961

Rezensent:

Wendland, Heinz-Dietrich

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Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 3

226

Roelirs, Walter R.: Die Einheit der Schrift.
Lutherischer Rundblick 8, 1960 S. 154—179.

Rondet, Henri: De l'Actualite historique.

Recherches de Science Religieuse XL VIII, 1960 S. 578—587.

Semmelroth, Otto: Die gottmenschliche Wirklichkeit des Glaubens
.

Trierer Theologische Zeitschrift 1960 S. 338—3 54.
Torrance, T. F.: Justification: Its Radical Nature and Place in Re-
formed Doctrine and Life.

Scottish Journal of Theology 13, 1960 S. 225—246.
Zander, Leo: „Ecclesia Extra Ecclesiam".
ICerygma und Dogma 6, 1960 S. 214—226.

ETHIK

Cilleman, Gerard, S. }., Prof.: The Primacy of Charity in Moral
Theology. Transl. from the 2"d French edition by W. F. R y a n, S. ].,
and A. V a c h o n, S.J. Westminster/Maryland: Newman Press 1959.
XXXVIII, 420 S. 8°. Lw. $ 5.50.

Der Verfasser, belgischer Jesuit, legt seiner Studie den Satz
des Thomas von Aquino zugrunde: Caritas forma omnium vir-
tutum und will damit der gegenwärtigen katholischen Moial-
theologie einen neuen Ansatzpunkt geben. In den Lehrbüchern
der Moraltheologie trat bisher der Gesichtspunkt des Gesetzes
und die negative Aufgabe der Bestimmung der Sünde sowie der
ethischen Minimalforderungen stärker hervor als die positive Entfaltung
dessen, was im Zentrum des christlichen Lebens steht,
die Liebe. Die aus der Beichtpraxis der katholischen Kirche stammende
Übung der Sündenbestimmung hat die positive Seite der
Moraltheologie verkümmern lassen. Gilleman will einerseits die
Ethik stärker mit der Dogmatik verbinden, andererseits der
Moraltheologie einen kerygmatischen Charakter verleihen. Sie
muß positive Darlegung dessen sein, was Leben in der Nachfolge
Christi ist. In thomistischer Terminologie sucht G. die Ganzheit
des sittlichen Aktes zu beschreiben, d. h. er lehnt die isolierte
Betrachtung einer Handlung und ihrer Motive als in sich ruhender
und verstehbarer Größen ab, denn jede Einzelhandlung oder
jede Werthaltung ist nichts anderes als Mediation, Vermittlung
der Grundhaltung der Liebe. Eine sittliche Handlung kann weder
von ihrem Ursprung noch von ihrem Ziel isoliert werden, und das
ist beim Christen die Liebe. Moralität ist Transparenz der Liebe.
So gewinnt G. eine personali6tische Perspektive und verbindet
auf diese Weise moderne Tendenzen mit thomistischer Tradition.
Die von G. geübte Methode der Mediation ist sowohl existentiell
wie essentiell, insofern in ihr jede moralische Handlung auf
ihren ontologischen Grund zurückgeführt wird. Dabei sieht G.
selbst die Schwierigkeit, daß Thomas die Ethik im 2. Teil seiner
Summa, die Christologie jedoch, die doch der Sache nach den
ontologischen Grund der Ethik ergeben 6ollte, erst im 3. Teil behandelt
. Ist damit nicht doch eine Verselbständigung der Ethik
gegenüber der Dogmatik angedeutet? G. verneint dies und erklärt
den Aufbau der thomistischen Theologie aus der besonderen
intellektuellen Situation des Mittelalters, wo man mehr synthetisch
als analytisch orientiert war, aber im Grunde doch immer
die Einwohnung im Corpus Christi mysticum vor Augen hat.
Darum ist auch eigentlich alle Moraltheologie eine Form der
christlichen Mystik. Im letzten Teil 6eines Buches entfaltet G. die
praktische Anwendung seiner Auffassung auf die verschiedenen
Lebensdimensionen (Religion, brüderliche Liebe, Leiden, Keuschheit
, Gerechtigkeit). — Vom Standpunkt evangelischer Theologie
ist begrüßenswert, daß sich die katholische Moraltheologie um
eine stärker christologische Vertiefung bemüht und offenbar ihren
üblichen Legalismus zu überwinden bestrebt ist. Es bleibt dann
freilich immer noch die Rückbeziehung der Liebe auf den Glauben
offen, wovon bei G. nichts zu lesen ist, wohl weil auch bei
ihm die ontologisch unzureichende Auffassung vom Glauben als
einem Fürwahrhalten von Glaubenswahrheiten vorherrscht. Im
ganzen erscheint fraglich, ob diese angestrebte Erneuerung wirklich
an einer Interpretation des Thomas zu gewinnen ist, oder
nicht besser ohne die thomistische Belastung durch griechische
Kategorien im unmittelbaren Rückgang auf das NT erreicht werden
könnte.

Kessler, Paul: Die Sozialethik Richard Rothes. Diss. Marburg 1955.
147 S. 8°.

Der Verf. bemüht sich redlich, den Aufbau der Rothe'schen
Ethik und Sozialethik, insbesondere Rothes Lehre von der Struktur
der sozialen Wirklichkeit und vom Staate als der christlichen
Gesellschaft nachzuzeichnen, was gewiß keine leichte Aufgabe ist.
So kommt denn auch weder Kühnheit der Spekulation noch die
Macht der ethischen Utopie R.s voll zum Ausdruck, die ja beide
mit manchen Wunderlichkeiten verknüpft sind. Schwerer wiegt
es, daß dem Verf. ein klarer Ansatz der theologischen Kritik an
R. fehlt, der eine kritische Durchdringung der Theorien R.s ermöglicht
hätte, vor allem seines Hauptanliegens, der Verchristli-
chung und Heiligung der Welt. Die Kritik kommt hintennach:
R. fehle eine klare Trennung von Natur und Gnade, eine tiefere
Erkenntnis der Dämonie, sein Offenbarungsbegriff sei ungenügend
(S. 132ff.) — aber diese Kritik ist mehr angedeutet als durchgeführt
und begründet. Das dürfte wohl mit dem Interesse des
Verfs. zusammenhängen, uns R. als einen „Theologen der Zukunft
" vorzustellen, wie auch damit, daß er der neuesten Theologie
seit Barth, die ziemlich summarisch als Neuorthodoxie
verstanden und so auch mißverstanden wird, gar nicht gerecht
wird. Was Keßler von Rothe aus gegen die moderne Theologie
ins Feld zu führen versucht, ist unzureichend und erfaßt weder
deren Problemstellung noch ihre Leistung. Wenn er uns aber R.s
Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung deutlich machen wollte —
und ohne Zweifel gibt es von Rothe gestellte Probleme, die noch
unerledigt sind —, so muß es um so mehr auffallen, daß P. Tillich
nicht genannt wird, der in universaler Weite und auf einer neuen
Basis Grundprobleme Rothes, wie z. B. dasjenige der „heiligen
Profanität" oder der letzten Einheit von Kirche und Kultur, wieder
aufgenommen hat. — Trotz vieler einzelner, richtiger Hinweise
auf Schleiermacher, Hegel, die Romantik usw. wird auch
die Stellung Rothes im Zusammenhang der Geschichte des theologisch
-ethischen Denkens nicht wirklich klar, obwohl die lehrreichen
Ausführungen über R.s Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit
seiner Tage und seine Gedanken über Industrie, Handwerk,
Arbeiterklasse usw. dafür einen guten Ausgangspunkt hätten abgeben
können. Die eigentliche Frage: Welche Art von Begegnung
mit der sozialen Wirklichkeit ist in einer Theologie und Ethik
überhaupt möglich, die in der Weise R.s idealistisch-spekulativ
arbeitet, ist nicht scharf gestellt, obwohl der Verf. manches Material
beibringt, wobei R.s Auffassung der Wirtschaft als der
„unentbehrlichen Grundlage der gesamten moralischen Gemeinschaft
" (S. 75) besonders wichtig und bemerkenswert sein dürfte.
Die Verwendung von Vorstellungen wie Stand, Korporation,
Organismus u. ä. zeigt andererseits, daß sich auch R. nicht von
jener Einwirkung der antirevolutionären Romantik hat befreien
können, die es der ev. Theologie und Ethik im 19. Jahrhundert
so schwer gemacht, die neuen Realitäten der gesellschaftlichen
Revolution in den Griff zu bekommen. Daß R. nicht als einer der
geistigen Väter des Totalstaates angesehen werden darf, hat der
Verf. mit Recht herausgearbeitet. Er unterscheidet vier Staatsbegriffe
bei R.: die bürgerliche Gesellschaft oder den Notstaat,
den Nationalstaat, die christliche Gesellschaft oder den Vollstaat,
den eschatologischen Staat oder das Reich Gottes. — Natürlich
konnte K. nicht die ganze Theologie R.s darstellen. Wenn er aber
von der Idee „Christuserfüllter Humanität" bei R. ausgeht
(S. 23 ff.), so hätte er doch würdigen müssen, wie R. Christus als
den zweiten Adam versteht und von hier aus sich wichtige
ethische Konsequenzen ergeben; es genügt nicht, hierauf nur hinzuweisen
(S. 107). Wenn wir heute von der Christusherrschaft
über die Welt sprechen, so sind wir wieder genötigt, von dem
Verhältnis Christus-Mensch auszugehen. Die Frage, was wir in
dieser Hinsicht von R. zu lernen hätten, bleibt leider in der
Arbeit Keßlers unerledigt. Man wird aber die Ethik R.s nicht voll
verstehen und würdigen können, wenn man nicht diesen christo-
logischen Ansatz interpretiert, — vor allem nicht das, was doch
dem Verf. das Wichtigste ist, die Ideen der christlichen Humanität
und Weltlichkeit, der Zurückdrängung der Kirche durch die
christliche Gesellschaft und Menschheit.

Münster/W. Heinz-Dietrich Wendland

Berlin

Heinz-Horst S c h r e y