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Ausgabe:

1961 Nr. 3

Spalte:

217-221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heidegger, Martin

Titel/Untertitel:

Unterwegs zur Sprache 1961

Rezensent:

Uhsadel, Walter

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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217

Theologische Literaturzeitung 1961 Nr. 3

218

Ritter, Karl Bernhard: Das Gebet des leibhaftigen Menschen.

Quatember 25, 1960/61 S. 21—24.
S ö h n g e n, Oskar: Grundsätzliche Überlegungen zum Problem der

gottesdienstlichen Musik.

Musik und Kirche 30, 1960 S. 179—186.
Weismann, Eberhard: Hymnologische Koexistenz?

Musik und Kirche 30, 1960 S. 199—203.

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPH1WS0PHIE

Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske
[1959]. 270 S. 8°. Lw. DM 18.—.

Der Band enthält sechs Arbeiten, die zum größeren Teil noch
nicht veröffentlicht worden sind: „Die Sprache" (Vortrag zum
Gedächtnis Max Kommerells 1951), „Die Sprache im Gedicht"
(erschienen im „Merkur" 1953, Nr. 61, unter dem Titel „Georg
Trakl, eine Erörterung seines Gedichtes"), „Aus einem Gespräch
von der Sprache" (entstanden 1953/54), „Das Wesen der Sprache"
(drei Vorträge im Studium generale, Freiburg 1957/58), „Das
Wort" (Rede in einer Morgenfeier des Wiener Burgtheaters 1958
unter dem Thema „Dichten und Denken, zu Stefan Georges Gedicht
Das Wort"), „Der Weg zur Sprache" (Vortrag im Januar
1959 in der Reihe der von der Bayr. Akademie der Schönen
Künste und von der Akademie der Künste Berlin veranstalteten
Vorträge, erschienen in „Gestalt und Gedanke IV").

Zur Form des Buches sei zunächst angemerkt, daß die
zusammengestellten Stücke sich vielfach überschneiden. Der Vortrag
„Das Wort" wiederholt sogar ziemlich ausführlich und fast
wortgetreu den ersten der Freiburger Vorträge zum Thema „Das
Wesen der Sprache". Auch die zahlreichen etymologischen Ausführungen
kehren mehrfach wieder. Dadurch wird das Lesen des
Buches keineswegs erleichtert.

Ein Versuch, den Inhalt wiederzugeben, wäre verfehlt. Er
wäre auch nicht im Sinne des Verfassers. In dem „Gespräch von
der Sprache" äußert der Gesprächspartner, ein Japaner: „Von diesem
Vortrag („Die Sprache", im vorliegenden Buch Seite 11—33)
habe ich Berichte und sogar eine Nachschrift gelesen." Darauf
Heidegger: „Solche Nachschriften, auch die sorgfältigsten, bleiben
, wie ich schon sagte, zweifelhafte Quellen, und jede Nachschrift
des genannten Vortrages ist ohnehin eine Verunstaltung
seines Sagens." Wir verzichten also auf eine inhaltliche Wiedergabe
. Aber die Antwort Heideggers veranlaßt uns doch zu einer
Frage, die bei allem Verständnis für die übliche Beteuerung, gewisse
Dinge könnten eben nur so und nicht anders gesagt werden
, gestellt werden muß: Müßte man nicht grundsätzlich damit
rechnen, daß jemand imstande wäre, das, was man hat sagen wollen
, einfacher und verständlicher auszudrücken? Im Blick auf ein
Buch „von der Sprache" haben wir doch wohl ein sachliches Recht,
diese schon oft aufgeworfene Frage nachdrücklich zu wiederholen.
Im allgemeinen nimmt man an, daß die Verzwicktheit des Stils
ein Zeichen dafür sei, daß der Sprechende oder Schreibende nicht
oder noch nicht in der Sache lebe, zu der er das Wort nimmt. Es
würde den Leser des Buches nicht überraschen, wenn Heidegger
darauf ganz im Sinne seiner Darlegungen antworten würde:
Genau dies ist bei mir der Fall. Ich bin — unterwegs zur Sprache. —
Dann muß die Frage neu gestellt werden, nämlich so: Gibt uns
die Sprache als Gemeingut, in dem wir tatsächlich schon leben,
nicht auch Hilfen, aus ihrem Wesen vernehmlich füreinander zu
sprechen? Es scheint, als mache Heidegger von diesen Hilfen allzu
wenig Gebrauch, Hilfen, die auch für den schon bereitstehen, der
noch unterwegs zur Sprache ist.

Diese Kritik richtet sich keineswegs gegen Heideggers Bemühung
um neue Wortbildungen oder ein neues Hören geläufiger
Wörter. Wenn aber der Stil durch solche Versuche überlastet
wird, verkehrt 6ich das nützliche Bemühen ins Gegenteil.

Es kommt hinzu, daß der Anschauungsgehalt der eigenen
Sprache Heideggers blaß ist. Dafür nur ein Beispiel: Im ersten
Stück des Buches finden sich folgende, einen Gedankengang
weiterführende Sätze: „Die Sprache selbst ist die Sprache . . . Die
Sprache spricht . .. Sprache ist Sprache . . . Der Satz: Sprache ist
Sprache, läßt uns über einen Abgrund schweben, solange wir bei
dem aushalten, was er 6agt." Ich muß gestehen, daß ich den Abgrund
nicht gesehen habe, obwohl ich lange ausgehalten habe.

Ich habe mir klar gemacht, daß das Sätzchen „Sprache ist Sprache"
sehr einfach gebaut ist. Es müßte also leicht verständlich sein.
Ich habe ähnliche Sätze gebildet: Leben ist Leben, Leiden ist Leiden
, Singen ist Singen. Ich habe auch den Satz „Die Sprache
spricht" zu Rate gezogen und entsprechend gebildet: Das Leben
lebt, das Leiden leidet, das Singen singt. Es hat mir nicht zu der
Vorstellung vom Abgrund verholfen. So muß man wohl annehmen
, daß für Heidegger zwischen dieser Vorstellung und
jenem Sätzchen eine längere Reihe von Gedanken und Vorstellungen
liegt, die er dem Leser nicht mitteilt. Daher fehlt dem
Leser die Anschauung, die das Verstehen ermöglicht. Heideggers
Aussagen werden ihm nicht „Er-äugnis". Wir verzichten darauf,
weitere Beispiele zu nennen. Sie würden ein Buch füllen.

Doch nun können wir hier gleich zu inhaltlichen Fragen vordringen
. Im Zusammenhange mit den eben erwähnten Sätzen
heißt es weiter: „Die Sprache ist: Sprache. Die Sprache spricht.
Wenn wir uns in den Abgrund, den dieser Satz nennt, fallen
lassen, stürzen wir nicht ins Leere weg. Wir fallen in die Höhe.
Deren Hoheit öffnet eine Tiefe. Beide durchmessen eine Ortschaft,
in der wir heimisch werden möchten, um den Aufenthalt für das
Wesen des Menschen zu finden" (S. 12 f.). Eben glaubte ich, verstanden
zu haben, daß wir über einen Abgrund hinweg schweben
, wenn wir nur aushalten. Ich nahm an, daß mich jenes Sätzchen
also in ein Land hinübertragen würde, in dem sich das Wesen
der Sprache zu erkennen gibt. Nun aber sollte ich mich in den
Abgrund fallen lassen. Hier erwog ich, ob es im vorhergehenden
Satze vielleicht heißen sollte: „über einem Abgrund". Dann
wäre mir das Bild einigermaßen einleuchtend. Doch mein Interesse
blieb an den folgenden Aussagen stärker haften; so ließ ich
die Frage fallen.

Im folgenden wird nämlich der Sturz in den Abgrund als
ein Fallen in die Höhe (zwar nicht beschrieben, aber) gekennzeichnet
. Ich erinnerte mich des Märchens von „Goldmarie und
Pechmarie" und fragte mich, ob dies Märchen etwa zum Verstehen
des Wesens der Sprache etwas eintragen könnte. Das schien mir
durchaus möglich. In den anschließenden Ausführungen Heideggers
findet sich jedoch keine Spur mehr, die das Bildwort vom
Abgrund hätte weiterverfolgen lassen.

Hält man sich nun, abgesehen von dem einzelnen Bildwort,
an die Aussageform im ganzen (Wir stürzen nicht ins Leere, wir
fallen in die Höhe, Hoheit eröffnet Tiefe, wir durchmessen eine
Ortschaft), so fällt die Verwandtschaft mit der Sprache der Mystik
auf. Dafür ließen sich viele Beispiele beibringen. Ich greife
einige beliebig heraus: „Und Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle
, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können,
daß sogar der Weg zurück uns erst vorwärts führt" (S. 99), „Das,
wovon wir sprechen, die Sprache, ist uns schon stets voraus. Wir
sprechen ihr ständig nur nach. So hängen wir fortwährend hinter
dem zurück, was wir zuvor zu uns eingeholt haben müßten, um
davon zu sprechen" (S. 179), „Die Schritte ... fuhren nicht fort,
sondern zurück, dahin, wo wir schon sind . . . Meinen wir Nähe,
meldet 6ich Ferne (S. 208 f.)." Das klingt wie Mystik, ist es aber
nicht. Es ist lediglich eine Mystifikation der Sprache, die
wie jede Mystifikation nebelhaft-unanschaulich bleibt.

Neben der Mystifikation zeigt Heideggers Buch eine starke
Neigung zu Identifikationen. Er bedient sich dazu mit
Vorliebe der das ganze Buch durchziehenden Floskel „das heißt":

„was dies heißt. . ."......heißt demgemäß", „erörtern heißt

. ..", „was heißt sprechen?", „dies würde heißen", „erfahren
heißt", „Rhythmus heißt", „was heißt Nähe?", „was heißt
dichten?", „reich heißt", „zart heißt". Daneben stehen verwandte
Formeln, vielfach abgewandelt: „Was ist...?": „Was
ist Nennen?", „Was ist Stille?", „Was ist ein Weg?". Solche
Fragen werden in vielen Fällen durch etymologische Ableitungen
beantwortet, die in unabsehbare Umdeutungen des heutigen
Sprachgebrauchs führen. (Walter Muschg hat sich zu diesem etymologischen
Verfahren Heideggers in seinem Buch „Die Zerstörung
der deutschen Literatur" 1956 (S. 93 ff.) geäußert. Es sei
darauf verwiesen. Vgl. auch Mario Wandruszka, Angst und Mut,
1950, und ders.: Was weiß die Sprache von der Angst? in: Angst
und Schuld in theol. und psychoth. Sicht, hrsg. W. Bitter, 1953,
S. 12 ff., und ders.: Etymologie und Philosophie, in: Der Deutschunterricht
, Jhrg. 1960, S. 7 ff.).