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Ausgabe:

1960 Nr. 2

Spalte:

132

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Müller-Schwefe, Hans-Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Welt ohne Väter 1960

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 2

132

Von hier aus ist B. beTeit, das Anliegen der „psychosomatischen
Medizin" aufzugreifen und zu prüfen. So wie diese
heute meist verstanden wird, hat sie sich auf dem Boden der modernen
Psychotherapie, vor allem der Psychoanalyse von Freud
entwickelt. Diese Spuren trägt sie an sich, und bei aller Verehrung
für Freud muß doch gesagt werden, daß sie dadurch mit
einseitigen Grundvoraussetzungen belastet ist. Sie hat sidi die
Aufgabe gestellt, die Wurzeln von Krankheiten, auch von organischen
, in psychischen Bereichen aufzuklären. Dabei fragt sie
nicht nur nach dieser oder jener „Ursache", sondern nach all den
Einflüssen, an die Entwicklung, Gestaltung, Verlauf und Ausgang
der Krankheit gebunden sind. Analytische Deutungen mögen
wohl nicht selten wichtig sein, aber niemals reichen sie zu vollem
Verständnis der Lebensgeschichte aus. Die eingehende und hingebende
Zuwendung des Arztes zum Kranken möchte ich für
die wichtigste Methode halten. — Aber wenn nun Büchner „verschiedene
Krankheitsgruppen" unterscheidet, die im Sinne der
klassischen oder psycho-somatischen Medizin zu erklären seien,
so muß der Arzt Bedenken anmelden. Denn Büchner sagt selbst:
In alles, was in unserem Leben sich regt, sich bildet und wandelt,
sind Seele und Geist hineinverwoben. Gewiß kann niemand bestreiten
, daß große Unterschiede in der Wertigkeit der verschiedenen
pathogenen Momente bestehen. Man kann vielleicht sagen
, sie reichen von einer mehr oder weniger bestimmenden bis
zu einer nahezu verschwindenden Bedeutung dieser oder jener
Seite; aber unerläßlich ist die Aufgabe, immer nach den verschiedensten
Seiten zu suchen und zu fragen.

Büchner ist ein sehr bedeutender Vertreter der strengen
naturwissenschaftlichen Medizin, gerade darum ist seine große
Aufgeschlossenheit für die psycho-somatische Medizin so besonders
wertvoll. Er kennt freilich mehr als Naturwissenschaft, er
kennt die Grenzen für ihre Ansätze und ihre Möglichkeiten, er
kennt die Geschichte und die Ausrichtung des ärztlichen Auftrages
im Umgang mit kranken Menschen. Und nicht zuletzt: er
weiß sich fest begründet in den überpersönlichen und metaphysischen
Bindungen seines und jedes persönlichen Lebens in
unserer Gemeinschaft und unserer Geschichte. Für ihn ist es von
großer Bedeutung, daß die Aussagen seiner medizinischen Anthropologie
den entsprechenden Aussagen der theologischen
Anthropologie von Karl Barth begegnen, die dieser in seiner
kirchlichen Dogmatik (Bd. III/2, S. 500ff.) weder natur- noch
geisteswissenschaftlich, sondern theologisch begründet hat.

Sollte sich hier nicht ein Tor auftun, das zu einem so dringend
gebotenen besseren Verständnis der Fakultäten untereinander
und aus der gegenseitigen Aufgeschlossenheit von Medizin und
Theologie zu einer neuen, weiteren und tieferen Ausrichtung der
Wissenschaftsstruktur führen kann?

Heidelberg R. S i e b e c k

Espenschied, Richard: Der leistungskräftige Mensch. Die leibesseelischen
Kräfte im Werden und Wachsen unserer Leistungen. Hamburg
: Furche-Verlag [1957]. 188 S. 8° = Soziale Wirklichkeit. 5.
Lw. DM 13.80.

In einer Zeit, in der so große Anforderungen an die Leistungsstärke
der Einzelnen und der Massen gestellt sind und bei
dem häufigen Versagen durch Überlastung ist dies kleine Buch
nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Seelsorger sehr wichtig
. In ihm wird gezeigt, daß Leistung nicht aus einzelnen leiblichen
und seelischen Vorgängen verstanden werden kann, sondern
nur aus einem-ganzen Gefüge von in sich vielfach verschlungenen
Funktionskreisen. Denn Leistung entfaltet sich in
der Lebensgeschichte, in ihrer Entwicklung und Reifung, in ihren
Schwankungen, Spannungen und Krisen, im Ineinander von Innen
und Außen, von leiblichen und seelischen Bereichen. Leistung wird
durch Lebensmut und eine heitere Grundstimmung gefördert
und leidet in der Verengung durch Groll, Ärger und Angst. Je
besser die innere und äußere Ordnung im Verhalten des Menschen
zu sich selbst, zur menschlichen Mitwelt und zu den unserem
Begreifen und Begründen entzogenen „letzten Dingen" gelingt
, desto besser entspricht der Erfolg dem Aufwand. Eine Fülle
von eindrucksvollen Beispielen aus der Welt der Arbeit und des
Sportes regt immer wieder zu neuem Nachdenken an, aber bei
der Vielfalt der Beziehungen, die entfaltet werden, wird aufmerksames
Lesen verlangt. Was Entscheidung und Entsagung, was
Ehrgeiz, was Aufgeschlossenheit und Bereitschaft oder Verschlossenheit
und Bedrückung, wa6 Neurose „aus der Tiefe des
Leibes", was Gestimmtheit und Befindlichkeit, was Gehetztheit
oder lockeres Spiel bedeuten, wird deutlich gezeigt. Übung fördert
die Leistung, aber Drill kann bedenklich werden. Leistung
kann nicht mechanisch, nicht einmal biologisch gemessen, sondern
nur aus der Beobachtung im persönlichen Leben beurteilt
werden. Alle, die mit Problemen der Arbeit in persönlichen und
sozialen Bindungen zu tun haben, nicht nur Ärzte, auch Erzieher.
Seelsorger und Sozialpolitiker, werden aus dem Buche sehr viel
lernen und zugleich bemerken, wie bedeutsam eine neue „anthropologische
" Ausrichtung der Medizin i6t.

Heidelberg R. Siebeck

Müller-Schwefe, Hans-Rudolf, Prof.: Die Welt ohne Väter.

Gedanken eines Christen zur Krise der Autorität. Hamburg: Furche-
Verlag 1957. 89 S. kl. 8°. Lw. DM 6.80.

Die Welt entbehre heute der Väter, so wird uns hier in
mannigfacher Variation gesagt. Die Ehe ohne Mann, die Schule
ohne Lehrer, der Staat ohne Herrn, die Kirche ohne Hirten ,— das
seien Abwandlungen des Themas „Die Familie ohne Vater". Die
Autorität in allen Lebensbereichen sei in eine tödliche Krise geraten
. Welche Ursachen führten sie herauf? Sünden der Väter und
Sünden der Söhne, über die es weit mehr zu berichten gäbe als
Verf. in weiser Zurückhaltung tut. Entscheidend ist ihm der
christliche Aspekt: Christus rief die Menschen zur Freiheit und
Mündigkeit. Alle Herrschaftsverhältnisse mußten seit ihm ins
Wanken geraten. Aus Fehlhaltungen, die nun möglich wurden,
aus Kleinglaube und Überhebung, Unglaube und Verzweiflung
entstand die „Mündige Welt". „Damit ist der Schlüssel gegeben,
der das Geschehen der Neuzeit aufschließt." Da Mündigkeit das
Ziel bleibt, zu dem Christus die Welt beruft, da dies Ziel letztlich
ein eschatologisches ist, gilt es einerseits, die Autoritätsverhältnisse
auf Christus hin auszurichten, anderseits die Versuchung
dämonischer Autonomiesucht abzuwehren. Letztlich gesundet
die Autorität nur am Opfer, das Christus für die Welt
gebracht hat. Das wertet der Schlußteil aus, der aufs neue zu den
Fragen der Ehe, Familie, Schule, Öffentlichkeit, Kirche zurückkehrt
.

Indem der Verf. seine Ausführungen bescheiden „Gedanken
eines Christen" nennt, wehrt er vermutlich eine Kritik an Einzelheiten
aus theologischer Prinzipienstrenge im voraus ab, weswegen
wir auch hier solchen Versuchungen entsagen. Es wird ihm
um die Intuition des Ganzen und um die Offenheit, und das heißt
auch Ungesichertheit eines Gespräches gehen, das sehr aktuell ist
und Viele in seinen Bann ziehen möchte. Solch Ziel wird erreicht;
das Büchlein entfesselt eine erregende Diskussion um Lebensfragen
der Gegenwart. Was werden die Gesprächspartner, die
sicherlich sich finden werden, sagen? Zweifellos werden sie fragen
, ob nicht allzu vereinfachend in Schwarz-Weiß gemalt ist,
ob das Übermaß des Negativen nicht eine verzerrte Sicht verrät,
ob das Verhältnis von natürlicher und soziologischer Ordnung
zum Wort in Christus richtig bestimmt ist, ob man überhaupt von
einem „Zeitalter der Mündigkeit" reden kann, wenn die Mündigkeit
doch als ein eschatologisches Gut erscheint, ob nicht zu
vieles locker in die Diskussion gezogen wird, was nicht in sie
gehört u. a. m. Wird — um ein Beispiel zu geben — Freuds Ödi-
pusmythus zu Recht herangezogen? Indem der Vater getötet
wird, um die Mutter zu gewinnen, wird ja die Autorität nicht
nur zerbrochen, sondern gleichzeitig neu gesetzt. Kann man
Schelskys wohlbegründete Feststellung, daß im Zusammenbruch
nach dem letzten Krieg die Familie sich überraschend festigte, mit
drei Sätzen umgehen? Wird die Theologie- und Weltgeschichte
nicht bisweilen simplifiziert? Was werden die Theologen dazu
sagen, daß statt vom Vollzug oder existentiellen Einsatz vom -
Experiment geredet wird? Hilft diese Vokabel aus dem pragma-
tistischen und neuthomistischen Wortschatz wirklich weiter? Doch
genug der Fragen! Wahrscheinlich sind sie vom Verf. provoziert,
um dem notwendigen Gespräch den notwendigen Leidenschaftsgrad
zu geben.

Rostock Gottfried H o 11 z