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1960 Nr. 2

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Systematische Theologie: Ethik

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 2

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Denken war das Wesen das Allgemeine, während das Individuelle
dem Bereich der Erscheinung zugerechnet wurde. Aber nun hat
Schleiermacher bei der Lösung dieser Problematik auch hier neue
Wege eingeschlagen. Er unterschied, was der Verfasser zu wenig
beachtet, zwischen Individuum und Person, und stellte das Individuum
in die Oszillation mit dem Allgemeinen, wodurch es immer
reiner — wenn auch nie vollendet — durch Überwindung des personhaft
Subjektiven — Goethe sagt durch Entselbstung zur Ver-
selbstung — zu dem wird, was es eigentlich ist. Für die Klärung
dieses Vorgangs ist nun der für Schleiermacher ungemein wichtige
Sachverhalt der freien Geselligkeit, der von dem
Verf. eigentlich nur berührt wird, von ungemeiner Bedeutung.
Dieser Begriff ist der Grundbegriff jedes echten, ethischen Verhaltens
bei Schleiermacher, der sein ethisches Denken begleitet
von den ersten Fragmenten der Jugend bis zu den letzten ethischen
Entwürfen. „Die freie Geselligkeit ist aber zugleich in allen Sphären
, denn in allem Tun des Menschen, Staat, Kirche, Akademie:
wo Leben ist, da ist auch die Individualität tätig, und jede gemeinschaftliche
Tätigkeit dieser muß auch jenen Charakter haben
." (Auswahl der Werke, Braun, II, 138.) ,,Geselligkeit ist
Wechselwirkung der Individualitäten" (Dilthey, Denkmale 146).
Den letzten Sinn aber dieser Geselligkeit, die Schleiermacher auch
mit Gastfreundschaft identifiziert, könnte man am besten mit
einer Formulierung Wennings wiedergeben: „Gewährung von
Freiheit gegen freie Wesen aus eigener Freiheit" (Wehrung.
Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 1927, 226). Auch in
diesem Gewähren schwingt die Oszillation von Individuellem und
Allgemeinem, von Idealem und Realem, der die Vollendung zwar
versagt ist, die aber doch auch nie der Willkür verfallen kann,
eben weil immer beides sein muß: das Individuum und das Allgemeine
oder mit Bezug auf die Kirche: der Einzelne und Christus.

Ist aber freie Geselligkeit die Grundstruktur der Gemeinschaft
, also auch die der Kirche, dann fällt von da aus ein klärendes
Licht auf Schleiermachers Verhältnis zu dem Gegensatz von
Katholizismus und Protestantismus, auf den der Verf. — vorsichtig
ein letztes Resultat vermeidend — in dem letzten Teil
seiner Untersuchung eingeht. Gewiß ist das Verhältnis Schleiermachers
zu den genannten Zusammenhängen nicht einfach zu be

Poetsch, Hans-Lutz: Der Christ und der moderne Staat. Studie

auf Grund von Römer 13.

Lutherischer Rundblick 7, 1959 S. 164—184.
Storni, F.: Justicia legal de hoy.

Ciencia y Fe XV, 1959 S. 3 5—41.
Thomas, George F.: Political Realism and Christian Faith.

Thcology Today 16. 1959 S. 188—202.
W a 11 h e r, Christian: Die Abschaffung der Todesstrafe und die

Theologie.

Kirche in der Zeit 14, 1959 S. 313—317.
Wen dt, Siegfried: Sozialethische Probleme des Geldes in der neozeitlichen
Industriewirtschaft.

Zeitschrift für evangelische Ethik 1959 S. 291—303.

GEGENWARTSPROBLEME

Büchner, Franz: Vom geistigen Standort der modernen Medizin.

Gesammelte Vorträge und Reden zur medizinischen Anthropologie.
Freiburg/Br.: Hans Ferdinand Schulz Verlag 1957. 157 S. 8°. DM 8.50.

Unter diesem weitgespannten, aber durch den Inhalt wohlbegründeten
Titel hat Verfasser seine Vorträge allgemeineren
Inhalts aus den Jahren 1939—1957 zusammengestellt und damit
seine grundlegenden Ansichten über die wichtigsten Probleme
der Medizin und Anthropologie mitgeteilt. Jeder, der sich um
den Umgang mit Kranken bemüht, nicht nur der Arzt, sondern
auch der Seelsorger, kann hier sehr viel Entscheidendes lernen.

ist Pathologe und geht als solcher von der Morphologie aus,
aber seine Morphologie ist vom ersten Ansätze an in ihrer ganzen
Entwicklung durchaus biologisch orientiert; er versteht Form und
Gestaltung vom Leben aus. Das „Eigenste" ist der eigene Leib,
er ist das Fühlbare und Tastbare; wir haben und wir sind Leib,
der Leib ist plastisch verfügbares Organ. So verstanden, ist der
Leib keineswegs nur eine Masse von Materie, er ist vielmehr
geformte Materie. Gestalt, die einen Gehalt hat. Er ist Ausdruck
eines Inneren, das im und mit dem Leibe im Erbgut angelegt ist
u"d mit ihm zusammen sich in dauernder Auseinandersetzung
mit der LImwelt befindet, indem es sich dieseT anpaßt und zu-
I gleich sie sich aneignet. So ist der Leib beseelter Leib. Menschstimmen
, wie ich ausführlich in meiner Schrift: Schleiermacher und | licher Ldb .st dsätzlich Ausdruck der menschlichen Seele

der Protestantismus (1957) gezeigt habe. Und es fällt nicht
schwer, auf krypto-katholische Tendenzen bei Schleiermacher aufmerksam
zu machen. Ist aber auch die Grundstruktur der Kirche
in dem genannten Sinne freie Geselligkeit, in der der Einzelne
und Christus im Brennpunkt der Oszillation stehen, und wirkt
sich diese Oszillation — wie in der Familie — als freie, vertrauensvolle
Hingabe aus, dann ist damit ein letztes, deutliches protestantisches
Wort gesprochen über die Trennung von Priester und
Laien, über die Verabsolutierung kirchlicher Formen, über die
Identifizierung von Menschenwort und Gotteswort.

Daß ich der theologischen Kritik des Verfs. in dem Verhältnis
etwa von philosophischer und christlicher Ethik, von Philosophie
und Christentum, von Sünde und Gnade, von Vernunft
und Pneuma bei Schleiermacher weitgehend zustimme, sei noch
zuletzt erwähnt. Die Untersuchung entläßt den Leser mit hoher
Achtung vor der gewaltigen Gedankenarbeit Schleiermachers und
mit reichen Anregungen zu weiterer Forschung, die dann vielleicht
auch sichtbar werden läßt, daß Schleiermacher wohl wußte um
die Verantwortlichkeit des Einzelnen und um Maßstäbe echten
und unechten religiösen Lebens.

Klel Werner Schult*

Coffey. Thomas P.: Moral Systems and a Defense of Compensa-
tionism.

r Anfica" Theo,°gicaI Review 41. 1959 S. 199-211.

strafe nse,is*en Kirche im Rheinland: Zur Frage der Todes-

Kirche in der Zeit H> 19<;9 s 422_^2,

Linz. Manfred: Sklaverei als ethischer „Modellfair.
Evangelische Theologie 19, 1959 S 569-584

Mathieu, J.C.: Das Absurde und die Schuld. Albert Camus' Auseinandersetzung
mit der christlichen Ethik
Monatschrift für Pastoraltheologie 48. 1959 S 196-208

Auch die Strukturen des Leibes, gewissermaßen fixierte Funktionen
, sind keineswegs starr, sie bilden, entwickeln und wandeln
sich im Laufe des Lebens. Ein radikaler Stoffstrom durchfließt
den Organismus, kein Element bleibt dauernd an der gleichen
Stelle, aber bei stofflicher Unruhe bleibt die Gestalt erhalten
. So ereignet sich im geformten und immer bewegten Leib
eine gerichtete Antwort des im Leibe Angelegten auf die Umwelt
, ein Dialog zwischen Leib und Umwelt, der dauert, so lange
das Leben währt. — Das Reale im Leben und in der äußeren Wirklichkeit
ist von jeher aufeinander zugeordnet in engster Korrelation
, „in schöpferischem Kontakt" zwischen Organismus und
LImwelt. Schöpferisch aber heißt: in der Schöpfung begründet und
zugleich zu einem immer Neuwerden bestimmt, in einem un-
wiederholbaren Prozeß von der Zeugung bis zum Tode, ein gerichteter
Zeitwandel in Zeitgestalt. — Im Leben werden Gestalten
und Strukturen immer mehT ausgeformt, werden damit für die
Umwelt immer offener und zugänglicher, zugleich ist die zunehmende
Differenzierung mit einem Verlust an Plastizität verbunden
, so daß Leben dem Tode ausgesetzt ist und ihm entgegeneilt
.

Bei aller Bedeutung der Biologie darf Biologismus nie zur
Weltanschauung werden, denn der Mensch hat Anteil am Geist.
Die geistige Welt hat er in Kultur, Sprache, Wissenschaft, Kunst.
Ethos und Religion verobjektiviert. Er vermag Tradition und
Geschichte zu stiften, und sie zu Mächten seines Daseins zu erheben
. Auch im Geistigen besteht „eine unverrückbare Hierarchie
" der Wesenheiten und der Werte. In der Einheit von Leib,
Geist und Seele wird das Eine von den anderen mitgeprägt, jedes
kündet vom anderen; darin erscheint der tiefste Sinn dieses Bundes
. Das sich entfaltende Geistige wirkt auf unseren Leib zurück:
das Leben des Menschen ist ausgespannt zwischen Natur und
Personalität, zwischen Gebundenheit und Freiheit - es ist Geschichte
. —