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Ausgabe:

1960

Spalte:

93-102

Autor/Hrsg.:

Haenchen, Ernst

Titel/Untertitel:

Jesus vor Pilatus (Joh. 18, 28-19,15) 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 2

B. weiß genau, daß er es sich und uns nicht leicht machen kann,
sagt er doch ausdrücklich im Blick auf die von uns herausgehobenen
Problemkreise: „Wie kann ein Sein als ein Akt, ein Akt
als ein Sein, wie kann Gott, wie kann der Mensch, wie können
beide in ihrer Einheit in Jesus Christus als Geschichte interpretiert
werden? Wie kann Erniedrigung zugleich Erhöhung 6ein?
Und wie kann von einer damals geschehenen Geschichte gesagt
werden, daß sie als solche noch heute geschieht und als die damals
geschehene und heute geschehende wieder geschehen wird?
Wieviel einfacher erscheint es auf den ersten Blick, von dem damals
geschaffenen Faktum dieser Person und deren Struktur, und
dann eben von deren .Werk' oder in der Sprache neuerer Theologie
: von ihrer .Bedeutsamkeit' für alle Folgezeit und von ihren

Nachwirkungen in ihr zu reden? Wie kann und soll die Geburt,
das Leben, der Tod Jesu Christi heute und morgen Ereignis werden
? Sind das alles vollziehbare Gedanken und Sätze? Aber
wiederum: wenn es hier ein Müssen gibt, dann wird auch das
Bedenken angesichts der Schwierigkeiten des Könnens nicht als
letztlich durchschlagend zu anerkennen 6ein, sondern ob hart
oder nicht: es wird dann eben dies zu denken und zu sagen versucht
werden müssen" (IV, 2, S. 120). Wer um dies Müssen weiß,
der wird nicht an der von B. hier geleisteten Arbeit vorüberkönnen
, er wird in großer Dankbarkeit von ihr lernen und, wo er
meint, nicht folgen zu können, es sich nicht leichter machen dürfen
, als es der Verfasser getan hat.

Jesus vor Pilatus (Joh. 18,28—19,15)

(Zur Methode der Auslegung)

Von Ernst Haenchen, Münster/W.

L „Man hat keine rechte Distanz gegenüber dem Texte, man
läßt ihn nicht so auf sich wirken, als läse man ihn zum ersten Mal,
man stimmt neu ab über die alten Fragen. Man seiht Mücken und

handelt mit Jesus nur unter vier'Augen im Prätorium. Die Juden
draußen erfahren nur durch ihn, wie die Verhandlungen stehen
(84). Dazu muß er beständig hin und her laufen, hinein ins Präverschluckt
Kamele, man achtet über die Einzelheiten nicht genug i torium, heraus aus dem Prätorium. „In diesem Wirrwarr finde

auf den Faden der Rede, man wundert sich zu wenig über Knoten
und Risse darin. Wenn überhaupt Anstöße im Zusammenhang
bemerkt werden, so machen die Apologeten sie durch Besprechung
unsichtbar."1 So klagt Wellhausen (= W.) in seiner Schrift „Das
Evangelium Johannis" 1908 die Ausleger des vierten Evangeliums

sich zurecht wer kann"". Nachdem W. so seinem Herzen Luft gemacht
hat, geht er rasch die Aporien in den einzelnen Abschnitten
durch.

18,28 — 32: Pilatus kommt aus dem Prätorium und fragt
nach der Anklage. Die Juden geben ihm zu verstehen, er habe nur

an. Im Bunde mit Eduard Schwartz (= S.)2 hält er ihnen die j den Spruch zu vollstrecken. „Zwischen den Zeilen" liest W., „daß
.Knoten und Risse im Faden der Rede", die „Aporien" vor. Es j das Verbrechen nur religiös, nicht politisch sei . . . und daß darum

werden so viele, daß sich S. versucht fühlt, „ermüdet und mutlos ; pilatus gidl um dje Sdiuldfrage nicht kümmern dürfe"7,
das kritische Messer aus der Hand zu legen" . Denn es scheinen
weithin nur unvcrbundene Fragmente übrig zu bleiben. S. denkt
sich die Lösung so: ein „Bearbeiter" und ein „Interpolator" haben
eine „Grundschrift"aufgefüllt; vor allem haben sie sie den
Synoptikern angeglichen4. W. nimmt freilich auch eine „Grundschrift
" an. Aber sie „ist keineswegs intakt und vollständig erhalten
" (7). Sie „wird an Umfang von den" Erweiterungen „weit
übertroffen" (6). Sie i6t nicht „das eigentliche johanneische Evangelium
", sondern nur einer von dessen Bestandteilen (7). An
diese Grundschrift, die nur in einzelnen charakteristischen Stücken
erhalten ist, „haben sich schichtenweis Erweiterungen angeschlossen
" (ebd.). „Mit einem einzigen ergänzenden und verbessernden
Epigonen kommt man nicht aus . . ., auch nicht mit einem
Interpolator neben dem Bearbeiter" (100). Es gehört ein fast
verzweifelter Mut dazu, in diesem „formlosen und monotonen
Chaos" eine gewisse Ordnung herstellen zu wollen. Aber W. und
S. haben nicht kapituliert: denn „in der neutestamentlichen
Wissenschaft, vor allem in der des vierten Evangeliums, sind das
Bewußtsein, alles verstehen zu müssen, und die Zuversicht, alles
verstehen zu können, noch immer so stark, daß wieder und wieder
am Objekt demonstriert werden muß, wie viel richtiger und
nützlicher für die Wissenschaft es oft ist, auf die Erklärung zu
verzichten, als sie zu erzwingen"6.

IL Damit diese Rede von den „Aporien" nicht eine vage
Redensart bleibt, wollen wir eine Probe davon geben. Wir wählen
dafür die berühmte Szene „Jesus vor Pilatus", Joh 18,28
-19, 15. W. tadelt sogleich (83), daß Pilatus als bekannt auf-

°bne schon erwähnt zu sein. Wenigstens mußte doch der
Chiharch ihm Meldung erstatten, der die verhaftende Kohorte
kommandierte (18, 12). Aber auch mit den Juden ist die Sache

soll ih" u rdnung- Sie klapen vor PiIatus an' at,er dieser Richter
o#fSllM Altei1 nur vollstrecken - und doch haben sie vorher keins
gerann Aber auch Pilatus hält kein formelles Verhör ab. Er ver-

(146 sV"^1"5 s^Cl'cauSen' Das Evange,iu'n Johannis. Berlin 1008
Evangelium".' Bcr„Ü ,f£ft ^weitermgen und Änderungen im vierten

S) Eduard SAwartTXror- V0.ran*e.SiT*en,: ,. - .. , ,
k-„i r . A Wie Aporien im vierten Evangelium I, Nachr. v. d.

st, 7, II m ,Götti"gen. Philol.-hist. Klasse. Berlin ,907.

TsTwa«zS.4987.S-,15-,48: "l=S.M9-,68; IV, S. 497-560.
') Schwartz S. 5 59.
5) Schwartz S. 498.

18, 33 — 38a: Pilatus geht ins Prätorium, wo Jesus nun vorausgesetzt
wird. Plötzlich kennt Pilatus die ahla und „gesteht
indirekt, daß er sie von den Juden habe", ohne daß er sie jedoch
ans ihnen herausgeholt hat. Er als Römer wäre nie darauf gekommen
. „Er findet... in dem Anspruch Jesu auf das Königtum
nur ein spezifisch jüdisches Verbrechen, wovon er als römischer
Beamter nichts verstehe." Befragt, bestätigt Jesus „den unpolitischen
Charakter" seines Anspruchs auf eine ßaodela. Daraus
schließt Pilatus, daß er König sei. Jesus bejaht das mit dem „synoptischen
ab Heyeis", beschreibt aber nicht das Amt des Herrschers
; „denn es gibt keinen König der Wahrheit, sondern nur
ein Reich der Wahrheit'"*. Der Ausdruck „Reich Gottes" wird
vermieden, „weil er", Jesus, „nicht an die zukünftige Herrlichkeit
denkt". Auf die Frage „Was hast du getan?" ist diese (Mk
14,62 widersprechende) Auslassung keine passende Antwort,
meint W.

18, 38b- 19, 8: Pilatus draußen bei den Juden. Allerdings
ist er 19, 1 — ohne daß gesagt wird, wie — wieder bei Jesus drinnen
, den er 19, 4 in Purpur und Dornenkrone mit herausnimmt,
um ihn so den Juden vorzustellen (85). Trotzdem ist Jesus 19, 9
noch im Prätorium und wird nochmals den Juden vorgeführt (und
dazu, ohne daß dies durch ein nAXiv angedeutet würde!). Die
Vorführung gehört an den Schluß; Jesus kann auch nicht vor der
Verurteilung gegeißelt worden sein. In 19,6 treffen wir da ein,
Wo wir 18, 38 schon waren". D. h.: die Geißelung und die Episoden
von Barabbas und von Purpur und Dornenkrone sind aus
der synoptischen Tradition später hier eingeschoben worden. In
Wirklichkeit antworten die Juden mit 19, 7 f. auf 18, 38. Sie ge-

') Wellhausen S. 84. , _

') Wellhausen S. 84. Aber was W. zwischen den Zeilen des Textes
liest, ist hineingelesen; s. Sp. 97.

8) Wellhausen S. 84. Daß ßaadda „Königreich" besagt, hat W.
nicht bedacht. Trotzdem hat er hier eine wichtige Schwierigkeit gespürt.
S. dazu unten Sp. 98.

") Schwartz hatte schon S. 3 56 dieses Stück als nachträgliche Einfügung
aus den Synoptikern bezeichnet. Emanuel Hirsdi hat (Studien
zum vierten Evangelium, Tübingen 1936 (190 S.), S. 12l) diese Ausscheidung
übernommen. Er meint aber, der Redaktor habe die Worte

tXrißev xnv '[rjnnvv ... panla/iata. xni . . , 6 /Märnc nach 19, 1_4

vorausgenommen; sie hätten.- ursprünglich nach Xöymv rovrcoy in
19, 13 gestanden.