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Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

935-937

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Beckmann, Klaus-Martin

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher 1960

Rezensent:

Schultz, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

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der Weltmi6sionskonferenz in Jerusalem 1928 auch literarisch
zum Ausdruck gekommen. Der Weg der Ökumene ist nicht nur
durch faith and order und life and work bestimmt. Die für die
kommende Vollversammlung 1961 in Aussicht genommene Integration
des Weltmissionsrates in den Ökumenischen Rat der Kirchen
ist aber nur dann sinnvoll, wenn die gewordenen Kirchen-
tümer zu einer Überprüfung ihres Selbstverständnisse6 von ihrer
missionarischen Verantwortung für die Welt her bereit sind. Die
Kirche lebt aus der Sendung und i n der Sendung Gottes in die
Welt. In seiner Grundlegungsbesinnung hat Kinder darüber manches
Gute gesagt. Aber sein Buch würde als lutherischer Beitrag
zur ökumenischen Diskussion über die Kirche, und das heißt zugleich
über Kirche und Mission — der gegenüber mancherlei
aktualistischen Tendenzen, die die Kirche in die Mission hinein
auflösen möchten, sehr notwendig ist —, hilfreicher sein, wenn er
diese Seite der Kirche im ersten Teil noch stärker betont und im
letzten daraus für die ökumenische Problematik die Konsequenzen
gezogen hätte.

Neuendettolsau WilhelmAndersen

B e c k m a n n, Klaus-Martin: Der Begriff der Häresie bei Schleicr-
machcr. München: Kaiser 1959. 143 S. 8° = Forschungen zur Geschichte
und Lehre des Protestantismus, hrsg. v. Ernst Wolf, 10. Reihe,
Bd. XVI. Kart. DM 9.-.

Die Untersuchung des Verfassers gibt zunächst eine ausführliche
Interpretation der Grundthese Schleiermachers über die
Bestimmung der Häresie im Leitsatz des § 22 der 2. Auflage der
Glaubenslehre: „Die natürlichen Ketzereien am Christentum sind
die doketische und nazaräische, manichäische und pelagianische".
Im Anschluß an diese Interpretation wird dann die Frage erörtert,
wie eine Definition des Begriffs der Häresie in der gegenwärtigen
theologischen Situation mit ihren anderen Voraussetzungen neu
bestimmt werden müßte.

Der Verfasser hat sich die Erfüllung seiner Aufgabe, die an
6ich schwierig ist, nicht leicht gemacht. Gibt er in einem ersten
Kapitel eine gründliche Untersuchung des Sachverhalts der Häresie
in der Glaubenslehre unter Einschluß der von Schleiermacher in
dem gleichen Zusammenhang erörterten Begriffe Katholizismus
und Protestantismus, orthodox und heterodox, sowie der Begriffspaare
Indifferentismus und Separatismus, Häresie und Schisma in
der Enzyklopädie, so versucht er in dem zweiten Kapitel das
Häresieschema von der Christologie und Soteriologie Schleiermachers
aus zu durchleuchten. In dem dritten Kapitel der Arbeit
wird dann dasselbe Thema in Beziehung gesetzt zu Schleiermachers
Lehre von der Kirche und Schrift und seiner Deutung de6 Gegensatzes
der katholischen und protestantischen Konfession, während
dann in einem vierten Kapitel die vier genannten Häresien,
die von Schs. nicht als historische Phänomene, sondern als ideal-
typologische Begriffe verstanden werden, historisch überprüft
werden. Ein abschließendes Kapitel bringt den Versuch des Verfassers
, den Begriff der Häresie im Hinblick auf die gegenwärtige
theologische Situation neu zu bestimmen.

Die Untersuchung stellt vor eine Fülle von Problemen, von
denen hier nur einige wesentliche erörtert werden können. Un-
erörtert müssen die Feststellungen de6 Verfassers über die
Christologie und Ecclesiologie Schl.s bleiben. Nur hingewiesen
sei auf die schon an sich bestehende Schwierigkeit, über diese
diffizilen theologischen Sachverhalte auf wenigen Seiten Zureichendes
zu sagen, ohne ihre letzten Grundlagen ausführlich aufzudecken
, auch wenn man dem Verfasser in vielen seiner kritischen
Äußerungen, die mit Recht Schl.s Distanz zu Luthers sola
fide betonen, zustimmt. Aber kann man wirklich sagen bei der
Erwägung des heiß umstrittenen Problems Protestantismus und
Katholizismus bei Schi., dieser sei in der Bestimmung der Autorität
der Tradition und der Analyse des religiösen Menschen „in
den Katholizismus zurückgefallen", wenn man die Grundeinstellung
Schl.s zu dieser Frage bis hin zu den letzten Predigten über
die Augsburger Konfession sorgfältig erörtert? Fraglos liegt bei
Schleiermacher in wichtigen Punkten eine Annäherung an den
Katholizismus vor. Aber sind nicht auf der anderen Seite von
ihm so viele echte Kriterien der Unterscheidung beider Konfessionsformen
beigebracht worden, daß man seine Grundhaltung
wenn nicht als lutherisch, 60 doch als protestantisch bezeichnen

muß? — Um nur eines anzumerken: Der Verfasser findet einen
Widerspruch zwischen der Ablehnung des nulla salus extra nos in
der 4. Rede und der in der Glaubenslehre von Schi, selbst vorgetragenen
Bemerkung, daß in der Kirche allein Seligkeit sei. Aber
er beachtet nicht, daß der Kirchenbegriff Schl.s hier ein ganz anderer
ist wie der von ihm in der 4. Rede angegriffene: Kirche als
Familiengemeinschaft, zu der jeder von Natur gehört, deren
Gepräge die Gastfreundschaft ist und nicht Kirche als hierarchische
Anstalt mit der strengen Aus6chließlichkeitsforderung.

Schi, wußte um die Notwendigkeit der theologischen Kriterien
, aber fast noch mehr um die ungemeine Schwierigkeit ihrer
inhaltlichen Bestimmung. Der Verfasser hat diese Schwierigkeit
bei Schi, auch gesehen, aber zu wenig betont. So hebt er mit
Recht bei der Analyse der wichtigen 10. Erläuterung zur 2. Rede
in der 3. Auflage der Reden über die Religion den von Schi, gemachten
Unterschied von Ketzerausstoßung aus der Kirche und
der von der Dogmatik geforderten Systematisierung der Ketzerei
hervor und bemerkt: „Schi, fordert auch hier eine Formel für das
Wesen des Christentums, aus welcher der Umfang des Christentums
sich deutlich entwickeln läßt und folglich auch bestimmt
werden kann, was außerhalb des Christentums liegt" (25). Aber,
so ist zu ergänzen, Schi, vergißt nicht anzumerken, daß der Umfang
der christlichen Vorstellungen nur „durch Annäherung zu
beschreiben" ist, und daß das gesunde dogmatische Verfahren gar
zu leicht in die dogmatisierende Systemsucht der katholischen
Kirche umschlägt, wodurch alle Verschiedenheit ausgeschlossen
wird und die lebendige Erkenntnis Gottes in toten Buchstaben
verwandelt wird. „Denn eine so fest aufgestellte Regel, die alles
anderslautende verdrängt, drängt alle Produktivität zurück .. .".
In der an sich berechtigten, ja notwendigen Formulierung fester
Kriterien liegt also bereits 6elbst die Möglichkeit der Abirrung,
ein Grund vielleicht dafür, daß Schi, in der späteren 7. Erläuterung
zur letzten Rede den Ausdruck Häresie geradezu wieder zu
Ehren bringen will und ihm einen verwerflichen Sinn, der etymologisch
gar nicht begründet sei, nehmen will. Auf jeden Fall
weist Schi, besonders in der Glaubenslehre sehr betont darauf
hin, daß man manches sehr übereilter Weise für ketzerisch erklärt
habe, daß es etwas sehr unsicheres sei, zu bestimmen, was denn
eigentlich häretisch sei, wie schon die Art und Weise, das Wesen
des Christentums zu bestimmen, sehr verschieden sei, da das
Christentum wohl absolute Wahrheit sei, unser Verständnis der
christlichen Wahrheit aber zu jeder Zeit nur ein begrenztes sei
(Christliche Sitte, 90), daß es darum „so höchst wichtig" sei,
„mit der größten Vorsicht" zu Werke zu gehen, wenn es darauf
ankäme, etwas für häretisch zu erklären (Glaubenslehre I, S. 141).

Aber gerade dies für Schi, so typische Wissen um die Begrenztheit
menschlicher Möglichkeiten bei der Bestimmung theologischer
Kriterien hat ihn nun dazu geführt, diese vorhandenen
Möglichkeiten wieder aufzugreifen und auszuweiten, und es darf
daher nicht der Eindruck entstehen, als wenn die in § 22 der
Glaubenslehre angegebenen „festen" Häresien die einzigen Kriterien
gewesen wären, die Schi, zur Feststellung echten Christenrums
heranzieht. Bereits in den Reden, dann aber auch in der
Glaubenslehre und der Christlichen Sitte wird ein Stufungsschema
der Religionen nach besonderen Maßstäben vorgetragen und im
Anschluß daran die besondere Wahrheit des Christentums gegenüber
den anderen monotheistischen Religionen herausgearbeitet.
Außerdem wird die Echtheit wirklicher Frömmigkeit durch die
Betonung des Existentialverhältnisses des Frommen zu Gott im
Gegensatz zu dem toten Buchstabendienst dokumentiert und in
dem Vorgang der „Leichtigkeit" der Verbindung von Sinnlichkeit
und Vernunft in der christlichen Existenz ein wesentliches
Kennzeichen ihres Höhengrades gesehen. Die Frage des Verhältnisses
dieser Kriterien zu den 4 Grundhäresien zu erörtern, wäre
eine wichtige Aufgabe.

In dem letzten Teil seiner Untersuchung äußert sich der
Verf. u. a. über die Fehler Schleiermachers. Er findet einen „entscheidenden
Mangel" in der Schleiermacherschen Theologie in dem
Fehlen des Gegenüber der Wirklichkeit Gottes zu dem homo
religiosus. Das Kriterium der Theologie dürfe nicht in den
frommen Gemütszuständen gesucht werden, sondern in der dahinter
stehenden Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Jesus
Christus. „Dabei muß es innerhalb der Offenbarung Gottes