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Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

928-929

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vogels, Heinrich Josef

Titel/Untertitel:

Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments 1960

Rezensent:

Schmid, Josef

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

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Jesus heraus; diese Akzentuierung lasse sich „am leichtesten erklären
" durch den Gegensatz zu den Libertinisten (143). Nun
geschieht diese „Aufrichtung des Rechtes Gottes" nach Barth auch
durch Jesu „Heilstat in Tod und Auferstehung" (149; das Sterben
ist Gehorsamstat des Sündlosen, der bereits mit seiner Taufe in
die Reihen der Sünder und für sie eintritt, 128. 132); aber sie
geschieht auch durch die „Aufrichtung der Gebote" (in deren
Dienst die Verkündigung der Kirche steht, 133), im (Matth, mit
dem Rabbinat verbindenden) „Festhalten am ganzen Gesetz"
(einschließlich des Zeremonialgesetzes, 84), das aber (im Unterschied
zum Rabbinat) vom Liebesgebot her ausgelegt wird (79,
bzw. von der „Nachfolge" her, 97; Matth, lehnt jedoch die rab-
binische Tradition „nicht prinzipiell und als Ganzes ab", 83;
Barth will die Spannungen in den Aussagen aus der „doppelten
Frontstellung gegen Antinomisten und Rabbinat" erklären, 88).
Ist für Matth, nach Barth „die Vollkommenheit" (die in der Nachfolge
besteht) „das entscheidende Merkmal der neuen Gemeinde"
(93), so ist doch die Gerechtigkeit (im Sinn der Rechtbeschaffenheit
, 130) bei Matth, „nicht nur Forderung, sondern zugleich
eschatologische Gabe" (131). „Die Jünger sind... hilflos in be-
zug auf ihre eigene Errettung" (115); „da6 ständige Wertlegen
auf die Werke führt zu keinem Sichstützen auf die eigene Leistung
" (113).

Barth hat die Frage nach den theologischen Besonderheiten
des Matth, an der wohl entscheidenden, jedenfalls schwierigsten
Stelle angefaßt; schon dadurch verdient 6eine Arbeit Aufmerksamkeit
. Er gibt dazu nicht wenige gute Beobachtungen im einzelnen
und mancherlei anregende Gesichtspunkte für die Zusammenschau
der 6pannungsreichen Aussagen; zweifellos treffen
auch bestimmte zusammenfassende Sätze Barths das Verständnis
des christlichen Glaubens im Matth., wenngleich seine Hauptthesen
(die z.T. schon durch bestimmte lexikalisch-exegetische
Voraussetzungen nicht richtig begründet sind) zu gewissen
Fragezeichen veranlassen. Vielleicht sollte auch der Hinweis Barths
nicht übersehen werden, daß Matth. — gemeint ist doch wohl:
als Tradent, der nicht immer ausgleicht — mitunter „auch Widersprechendes
mitteilt" (80). Daß Barth selbst mit dieser Möglichkeit
nicht weitergehend Ernst macht, hängt wohl auch damit zusammen
, daß Matth, für ihn in besonderer Weise (im Unterschied
zu Mark, und zu Luk.) „in der Komposition des ganzen Evangeliums
" die Zeit des Lebens Jesu mit der Zeit 6einer Kirche gleichsetzt
(103).

Den Arbeiten der Schüler sind zwei bereits veröffentlichte
Aufsätze des Lehrers voTangesetzt. Ein kürzerer über die Sturmstillung
(48—53, aus „Wort und Dienst", Jahrb. d. Theol. Schule
Bethel N. F. 1 [1948] 49—54) gibt Stichworte und Ansätze für
die spätere Behandlung dieser Perikope im größeren Rahmen der
Abhandlung von Held. Im anderen ist ein Beitrag zur Festschrift
für C. H. Dodd 1956 (vgl. schon ThLZ 79 [1954] 341-346) überarbeitet
: „Enderwartung und Kirche im Matthäusevangelium"
(13—47). Nachdem ein erster Abschnitt an der Komposition der
Redekapp. u. a. zeigt, daß im Matth.-Ev. gerade auch die Kirche
unter das Endgericht gestellt wird, skizziert ein zweiter vor
allem das Gesetzesverständnis; in einem dritten ist von Jesus als
Erfüller der Schrift, besonders des Gesetzes, in der Christologie
des Matth, die Rede (in der Verwendung ihrer Titel werden nach
Bornk. bei Matth, auch Einflüsse der sog. hellenistischen Gemeinde
sichtbar), und ein letzter gibt Andeutungen zur „Ekkle-
siologie" des Matth. Weithin werden besonders in Abschn.
1—3 die Aspekte gegeben, unter denen dann die Untersuchung
von Barth steht; doch ist in dieser manches schärfer zugespitzt,
m. E. nicht ohne Differenzen gegen Bornk. (auch wo Barth sich
nicht ausdrücklich abgrenzt), andererseits sind nicht alle Hinweise
Bornk.s verarbeitet.

Auch zwischen Barth und Held scheint mir nicht immer
völlige Übereinstimmung im Verständnis des Matth. - Ev. zu
bestehen. Daß man in diesem Band 6ehen kann, wie auf einem
bestimmten engeren Gebiet in einer „Schule" gearbeitet wird,
macht einen besonderen Reiz des Bandes aus. Darüber hinaus ist
er natürlich sachlich wichtig für die Frage nach der Besonderheit
des Matth., die ja nach der literarischen und nach der theologischen
Seite (weithin in Verbindung beider) neuerdings stark in
da6 Blickfeld gerückt ist, nachdem sie schon vor drei Jahrzehnten

von Ad. Schlatter gestellt und in bestimmtem Sinn beantwortet
war.

Halle/Saale Gerhaid Delling

Vogels, Heinrich Joseph: Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments
. 2. Aufl. Bonn: Hanstein 1955. VIII, 236 S. gr. 8°. DM 15.-.

Daß dieses Buch eret nach 30 Jahren, nachdem es allerdings
lange vergriffen gewesen war, wieder erscheinen konnte, und das
nur dank dem Entgegenkommen eines neuen Verlags und ansehnlicher
Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beweist, daß
Werke über ntl. Textkritik heute, wenigstens in Deutschland,
wenig gefragt sind. Die vom Verfasser im Vorwort zur 1. Auflage
ausgesprochene Hoffnung, sein Buch einmal unter günstigeren
Verhältnissen durch ein breiter angelegtes ersetzen zu können,
hat sich nicht erfüllt. Das Werk ist in der ganzen Anlage wie im
Textbestand das alte geblieben. Man kann daraus entnehmen, daß
sich dem Verfasser, dem heutigen Altmeister der ntl. Textkritik
in Deutschland, seine vor einem Menschenalter vorgelegten Erkenntnisse
und methodischen Grundsätze im Laufe vieler Jahre,
in denen er den Hauptteil seiner Zeit und Kraft der Untersuchung
textkritischer Fragen gewidmet hat, bewährt haben. Im einzelnen
ist aber vieles geändert, manches Urteil behutsamer oder auch
zuversichtlicher formuliert, auch mancherlei ergänzt worden. Was
die Ergänzung der Literaturangaben betrifft, war der Verfasser,
wie er selbst ausdrücklich bemerkt, auf Vollständigkeit in keiner
Weise bedacht. Weil seine eigene Forschungsarbeit fast ausschließlich
der Geschichte der lateinischen Übersetzungen des NT gewidmet
war, hat er sich im vorliegenden Buch bei der Behandlung
anderer Gebiete des ungeheuer weiten Feldes der Textgeschichte
des NT, wie z. B. der orientalischen Übersetzungen, auf einiges
Wenige, das gesagt werden mußte, beschränkt. Der Name von
A. Vööbus z. B. begegnet nur ein paarmal so ganz nebenbei.
Vogels hält an der These Burkitts, wonach Rabbulas der Schöpfer
der ntl. Peschitta war, fest und erwähnt Vööbus nur in einer Anmerkung
. Die wahrhaft sensationellen neuen Papyri aus deT
Sammlung Bodmer waren, als der Verfasser die Umarbeitung seines
Werkes abschloß, noch nicht bekannt. S. 35, Z. 5 ff. ist ein
Satz über Hermann von Sodens System der Bezeichnung der Handschriften
stehen geblieben, der heute doch überholt ist. S. 37
wird hei der Beschreibung des Codex Sinaiticus der Bcsitzcr-
wechsel gar nicht erwähnt, beim Codex Alexandrinus ist die
wichtige Arbeit von Silva Lake ungenannt geblieben. Andreas von
Kaisareia gehört nicht ins 5., sondern in die zweite Hälfte des
6. Jhdts. (S. 30) und ebenso sicher der Codex Porphyrianus nicht
dem 9., sondern dem 10. Jhdt. an, da er jünger ist als Arethas
von Kaisareia. Von dem Cod. N''v sind neuerdings zwei weitere
Blätter aufgefunden worden (JBiblLit 1956, 27—39). Zum lat.
Cod. p (S. 92) wären die Ergänzungen von B. Bischoff (Mise.
G. Mercati I, Rom 1946, 425 ff.) zu nennen gewesen. S. 75 sind
die Bezeichnungen der beiden griechischen Lektionare 438 und
439 in 348 und 349 zu ändern. Mit § 24, worin V. nach einem
sehr kritischen Rückblick auf die bisherige Arbeit vorwärts schaut
auf die neuen Wege, auf denen er sich wirklich neue Erkenntnisse
verspricht, mag man etwa den Aufsatz von Kirsopp Lake
„Von Westcott-Hort zu Pere Lagrange und darüber hinaus"
(Revue Biblique 1939) vergleichen, um einen Eindruck davon zu
bekommen, wieweit die Wege maßgebender Forscher auf diesem
Gebiet noch auseinandergehen. Wer diesen Abschnitt bei VogeU
aufmerksam liest, wird namentlich durch die Skepsis beeindruckt,
mit der er nach wie vor den ziemlich allgemein angenommenen
Haupttypen der Überlieferung gegenübersteht. Seiner Kritik an
Hermann von Sodens Rezensionen und namentlich ihrer Rekonstruktion
wird allerdings kein einigermaßen Sachkundiger widersprechen
wollen. Was aber aus diesem Abschnitt des Buches besonders
klar wird, ist dies, daß — so urteilt jedenfalls Vogels —
der Text unserer modernen Ausgaben, die bei aller Verschiedenheit
im einzelnen doch auch wieder weithin einig sind, so daß
man von einem modernen Textus reeeptus sprechen könnte,
lange nicht 60 sicher ist, als vielfach angenommen wird. Daß aber
das von Vogels in 6ciner Wichtigkeit so unermüdlich und stark
unterstrichene Studium der Textgeschichtc der richtige Weg ist,
den die Erforschung des ntl. Textes zu beschreiten hat, scheint mir
heute keine neue Wahrheit mehr zu sein.