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Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

895-898

Autor/Hrsg.:

Klaus, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Entstehung und Begründung der Praktischen Theologie als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

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im Gegensatz zum sensationellen Zweifel. Diesen echten Zweifler
hat Ina Seidel in der Person des „Lennacker" dargestellt.

5. ) Nur ganz 6elten wird auf das Phänomen der Schicksalsgläubigkeit
hingewiesen. Der schlichte Mensch sagt: „Das mußte
ja 60 kommen, dagegen kann man ja nichts machen." Auf höherer
geistiger Basis wird die Meinung geäußert, wir seien von
einem unbestimmbaren Etwas abhängig. Zu dieser Macht könne
man nicht beten, man brauche sich vor ihr auch nicht zu verantworten
. Es bleibt nur die Resignation. Die Schicksalsgläubigen
isolieren sich in ihrem Fatalismus, der nie eine Dogmatik
entwickelt hat. Dieser Schicksalsglaube ist viel weiter verbreitet
, als wir es annehmen. Der Fatalismus lebt in der Anonymität
.

6. ) Es gibt schwerste Krisen der Persönlichkeit, die in die
tiefste Anonymität eingebettet sind. Es sind die Kämpfe de6
Menschen mit sich selbst, besonders mit seinem Triebleben.
Hier hat die Tiefenpsychologie richtig gesehen, wenn 6ie freilich
oft auch unsachlich verallgemeinert hat. Die Mehrzahl der Angefochtenen
äußert 6ich kaum jemals über die innere Situation.
Vielleicht geschieht es gelegentlich tinter vier Augen im seelsorgerlichen
Gespräch. Die Angefochtenen haben oft das Gefühl, sie
seien verworfen. Für 6ie gilt das Pauluswort: Ich elender Mensch,
wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?

7. ) Erweckte Frömmigkeit, so meint man, bleibe nicht
anonym. Sie werde zeugnishaft. Der Inder Sundar Singh erfuhr
mit etwa 15 Jahren seine Bekehrung zu Christus. Er wurde zum
Missionar Indiens. Doch entfaltet sich zuweilen eine Bekehrungsfrömmigkeit
, die nicht über das stille Kämmerlein hinausdringen
will, die sich nicht profanieren möchte. Sie tritt sehr selten in
unsere Optik. In der Gruppenbewegung und in freikirchlichen
Kreisen wird sie lebendig und zuweilen auch sichtbar: Das Ich 6ei

dem ewigen Du begegnet, und das Ich sei von einer unbeschreiblichen
Seligkeit erfüllt. Diese Erfahrung wird zum Kraftzentrum
des Lebens. Doch diese begnadete und tiefgewurzelte Bekehrungsfrömmigkeit
hüllt sich zumeist in Schweigen. Sie ist anonyme
Frömmigkeit. Die conversio wird zur unio mystica.

8.) Wir leben in einer Massengesellschaft, und wir leben
auch, durch die geschichtliche Entwicklung in Deutschland bedingt
, in einer Massenkirche. Die übliche Auffassung meint, daß
ein großer Teil der Gemeindeglieder am Rande des Glaubens lebt.
Doch müssen solche Urteile mit großer Vorsicht aufgenommen
werden. Vergleiche zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit
sind fragwürdig. Denn nur selten liegen uns aus der Vergangenheit
zuverlässige Statistiken vor. Die soziologische Betrachtung
ist davon überzeugt, daß die moderne Industriewelt
die Frömmigkeit zumindcstens abgeschwächt habe. Aber jeder
Mensch ist ein Ich für sich. Das lehrt uns schon der Kreatianis-
mus, eine Auffassung der scholastischen Psychologie, Kein Mensch
gleicht dem anderen wie ein Ei dem andern. Der Glaubensstillstand
, von dem wir sprachen, kann im reifen Leben von einer
lebendigen Gläubigkeit abgelöst werden. Besonderes Interesse
muß die autobiographische Literatur beanspruchen: Wilhelm v.
Kügelgen, Gottfried Keller, Theodor Fontane, Karl-Ludwig
Schleich,, Carl Gustav Jung. Es ist sehr schwer, hinter den Vorhang
der anonymen Frömmigkeit zu blicken.

Die Theologie sieht in der Psychologie vielfach nur die Verherrlichung
des Allzu-Menschlichen. Die Religionspsychologie hat
die Aufgabe, den seelischen Befund festzustellen. Wir versuchten,
folgende Erkenntnisse herauszuarbeiten: den Glaubcnsstillstand,
die religiösen Einzelgänger, die Stillen im Lande, den echten Zweifel
, die Schicksalsgläubigkeit, das Erlebnis der Verworfenheit, die
Hinkehr zu Gott, die Einzelnen in der Anonymität. Damit ist
keine starre Diagnose gemeint. Entscheidend bleibt die Gnade.

Die Entstehung und Begründung der Praktischen Theologie als wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert

Von Bernhard Klaus, Erlangen

(Kurzfassung)

Bereits seit der Väterzeit sind Beschreibungen der Grundregeln
für das praktische Handeln der Diener der Kirche feststellbar
(z.B. Gregors d. Gr. „Uber regulae pastoralis"). Auf der
Linie einer so verstandenen „Pastoraltheologie" lag auch das,
was in den reformatorischen Kirchen seit ihrer Frühzeit für die
Vorbildung junger Theologen auf ihre spätere Praxis durch praktische
Übungen und durch Veröffentlichungen theologischer Lehrer
getan wurde. Erst das 19. Jahrhundert drang zu der wissenschaftlichen
Disziplin „Praktische Theologie" vor und führte zu
theologischen Begründungen dieser Disziplin sowie zur Errichtung
von Lehrstühlen für die Pflege des neuen Faches.

Schleiermacher, der als Gründer dieser Disziplin gilt,
wünschte jedoch für die seit 1810 bestehende Berliner Universität
keinen eigenen Lehrstuhl für Praktische Theologie, weil er
keine Möglichkeit sah, die herkömmliche pastoraltheologische
Art in den Gesamtbereich der theologischen Wissenschaftspflcge
einzubeziehen. So kam es zur Gründung des Predigerseminars in
Wittenberg als pastoraltheologische Ausbildungsstätte, während
6ich Schleiermacher an der Berliner Universität, abwechselnd mit
Marheineke, neben seinen systematischen Vorlesungen auch
praktisch - theologischen Vorlesungen widmete. Die Bemühungen
um die Praktische Theologie als wissenschaftliche Disziplin und
die pastoraltheologische Einübung in die kirchliche Praxis waren
klar voneinander geschieden. Nach Schleiermacher verband C. I.
Nitzsch in seiner Lehrtätigkeit die Systematische mit der Praktischen
Theologie; aber im Gegensatz zu Schleiermachcr bezog
Nitzsch auch die pastorale Ausbildung in die Aufgaben der Praktischen
Theologie ein und schuf mit der Verbindung von wissenschaftlicher
Forschung und praktischer Einübung in die pastorale
Praxis den seither für die Praktische Theologie charakteristisch
umgrenzten Aufgabenbereich. 'So ist erst mit C. I. Nitzsch und
durch ihn der Vorgang abgeschlossen, den man die Entstehung
der „Praktischen Theologie" als theologischer Disziplin bezeichnen
kann. Die durch Nitzsch erfolgte Modifizierung des Schleier-
macherschen Verständnisses der Praktischen Theologie wurde für
die Erlanger Theodosius Harnack und Gerhard von Zezschwitz

wegweisend, und e6 war nach der Gründung der neuen wissenschaftlichen
Disziplin in Berlin wesentlich das Verdienst der
Erlangcr Praktischen Theologen des 19. Jahrhunderts, nach der
1833 erfolgten Errichtung eines entsprechenden Lehrstuhles durch
ihre eigene wissenschaftliche Arbeit und durch ihren weiteren
Ausbau dieses Faches das Ziel seiner grundsätzlichen Anerkennung
als einer theologischen Disziplin erreicht zu haben.

Schlciermacher hatte die Theologie im ganzen aus einem bestimmten
obersten Prinzip deduziert und auf diesem Wege den
inneren Zusammenhang der Praktischen Theologie mit der
Gesamttheologie hergestellt. Indem er aber in der Kirche als
dem Objekt der kirchenleitenden Tätigkeit das übergeordnete
Prinzip erblickte, schränkte er die Aufgabe der Praktischen Theologie
auf die „richtige Verfahrensweise bei der Erledigung aller
unter den Begriff Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben" ein
(Kurze Darstellung des theol. Studiums, ed. H. Scholz, Leipzig
1910, S. 100). Während er also die Praktische Theologie als
einen notwendigen Teil des theologischen Organismus verstand
und ihren Ort im Gesamtgefüge der theologischen Wissenschaft
formal bestimmte, wurde inhaltlich dennoch die alte pastoraltheologische
Linie auch bei ihm wieder sichtbar.

Seine Auffassung, die Kirche sei das Objekt des Handelns,
der Gegenstand der Kirchcnleitung durch den Kleru6, wurde von
Nitzsch dahingehend berichtigt, daß die Kirche, nämlich die Gemeinde
, „die sich selbst betätigt", als Subjekt des Handelns, als
„das actuose Subjekt" zu verstehen sei (Nitzsch, Prakt. Theologie
, I. Pd., Bonn 1847, S. 19. 111). Daraus ergab sich, daß Nitz6ch
die „kirchliche Ausübung des Christentums" als Gegenstand der
Wissenschaft „Praktische Theologie" bestimmte. Auf diese Weise
konnte er die Praktische Theologie auch inhaltlich aus der Ebene
der Pastoraltheologie auf die Höhe einer wissenschaftlichen
Disziplin erheben.

Die Erlanger blieben bei der von Nitzsch gegebenen theologischen
Begründung der Praktischen Theologie. Ausgangspunkt
war auch für 6ie die Kirche als handelndes Subjekt, „als selbständige
Lebensmacht" (v. Zezschwitz), nicht aber die Praxis der pa-