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Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

893-896

Autor/Hrsg.:

Jahn, Ernst

Titel/Untertitel:

Die anonyme Frömmigkeit 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

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von der Rückkehr zu vorzeitlichen Verhaltungswciscn der Sensibilität
. Die Technik der Überblendung, Rückblcndung, Doppelung
spielt mit magischen Möglichkeiten und ihrer halluzinatorischen
Verwirklichung. Vollplastische Bilder werden wie Phantome
wahrgenommen werden. Die Musik, die bekanntlich mit
vollem Bedacht auf ihre Wirkungen in den seelischen Tiefenschichten
hin gemixt ist, steigert die Verzauberung.

Während man sich über der Anfälligkeit für Mystizismus
und Aberglauben die Lunge aus dem Halse schreit, präpariert
man die Menschen seelisch für sie wie noch nie zuvor in der
neueren Geschichte.

4. Einige unmittelbare Folgerungen seien hier gezogen:

a. Daß uns die Gefahr einer magischen Verseuchung größten
Stils droht, ist kaum zu bestreiten. Da es sich um eine wildwachsende
Magisicrung handelt, der durch gezielten und berechneten
Einbruch in die seelischen Tiefenschichten nachgeholfen
wird, sind edle Wirkungen nicht zu erwarten. Verdummung und
Vermassung werden gefördert werden. Da eine echte Gläubigkeit
fehlt, weder an Gott noch an widergöttliche Mächte, ist ein
religiöser Gewinn nicht zu erwarten. Die Masse der Filme, Schlager
, Zukunftsromane wird die wilde magische Phantasie fördern.
Eine Symbiose mit dem Idealismus besteht nicht mehr.

b. Es dürfte zu fordern sein, daß das zu schwache Interesse
an der wissenschaftlichen Erhellung der parapsychischen und para-
physischen Phänomene sich hebe. Wegen der drohenden Gefahren
, von denen eben geredet ist, sind wir daran interessiert, daß
,.Geheimnisse" auf Gesetzlichkeiten zurückgeführt werden. Außer
dem Kontakt mit den wenigen parapsychi6chcn Spczialforschcrn
ist die Verbindung mit den Ticfcnpsychologen" und den Kernphysikern1
" zu suchen. Unser Interesse hier dient auch dem Abbau
der Angst, die mit der Bedrohung daherzieht.

c. Von den speziellen theologischen Problemen dürften zwei
vordringlich sein: die Lehre vom Satan und von der Unsterblichkeit
der Seele. Die Satanslehrc bei Karl Heim und Karl Barth1"
divergiert, zudem ist sie mangelhaft diskutiert. Seelsorge und
Volksmission, die handfesten Gebrauch fordern und praktizieren20
, sollten theologisch mehr als bisher beraten werden. Das

17) C. G. Jung zum Problem der Synchronizität, in Naturerklärung
und Psyche, 1952, u. ö.

1N) P. Jordnn, Verdrängung und Komplementarität, 1951'.

") Karl Heim, Jesus der Herr, 1935, S. 98- 128; Karl Barth,
Kirchl. Dogmatik III 3 („Gott und das Niditige").

*°) Kurt Koch, Seclsorge und Okkultismus, 1953.

moderne Anathema über die Unsterblichkeit der Seele wird heute
bemerkenswert angegriffen''1. Die erregendsten spiritistischen
Phänomene werden ohne die Annahme eines persönlichen Überlebens
des Todes nicht zu erklären sein.
5. Noch zwei Fragen zum Schluß:

a. Ist die magische Geisteshalrung im Ansatz unmöglich
geworden, so daß sie endgültig als antiquiert gelten muß?72 Ein
objektives Verhalten der Welt gegenüber wird es für uns nie
geben; denn wir haben an ihr teil. Unser Sein ist ein Sein zur
Welt. Von da aus kommt ein Forscher wie van der Leeuw zur
Bejahung des existcntialistischen Einsatzes. „Das magische Verhalten
ist nicht eine Struktur vergangenen Geisteslebens....
weder eine Degeneration noch eine Kinderkrankheit, . . . sondern
es ist eine tief im Wesen des Menschen begründete Urhaltung, die
unter uns 60 lebendig ist wie je, eine ewige Struktur."2'1

b. Van der Leeuw sieht klar die Unterschiede zur christlichen
Religion. „Die Magie unterscheidet sich darin von anderer
Religion, daß sie die Welt grundsätzlich beherrschen will."2*
Darin 6ind 6ich der Zauberer und der magische Idealist einig.
Van der Leeuw aber möchte darin wohl richtig sehen, daß die
zauberische Technik bereits der säkularisierten Magie angehört.
Christliche Theologie wird hier geltend zu machen haben, daß
der Glaube des ersten Artikels sowohl die Einheit des Kosmos
wie sein totales Sein unter Gott meint. Ich erreiche die Einheit
mit dem Kosmos nie an Gott vorbei, sondern durch ihn und in
ihm. Für das christliche Gottesverhältnis aber gelten das erste
und zweite Gebot in der Fülle und Tiefe, wie Luther sie im
Großen Katechismus verstanden hat. Jede Hybris des Menschen
hat zu weichen. Mein Verhältnis zur Mitwelt ist durch die Liebe
bestimmt, die Folge ist jener Liebe, mit der Gott die Welt liebt.
Darum ist jeder Egoismus, der der Magie niederer Grade unausrottbar
anklebt, gerichtet, und darum geht das Sehnen der
Gläubigen nicht auf Herrschaft über die Welt, sondern auf ihre
Erlösung.

") Fritz Blanke in: Aussichten in das Leben der .zukünftigen
Welt'/Tod, Jenseits, Auferstehung in katholischer, orthodoxer und ev.
Sicht. 1959 = Ökumenische Texte und Studien H. 7. — E. Fascher,
Seele oder Leben?, 1959. — E. Fascher, Jesus und der Satan, 1949.

**) Dankbar bekenne ich midi zu den Ausführungen von G. van
der Leeuw, Phänomenologie der Religion, 19565, §83.

") v. d. Leeuw, S. 617.

") ebd. S. 619.

Hans-Otto Wölber, das im Vorjahr erschien. Die Arbeit stützt
sich auf die Demoskopie. Die komplizierten Untersuchungen
kommen zu dem Schluß, daß die junge Generation in einer traditionellen
Frömmigkeit ohne Entscheidungskraft lebt. Unsere
Beobachtungen gründen sich auf den Erlcbni6aspekt, auf das Miterleben
der lebendigen Wirklichkeit. Wir gehen von dem Befund
aus, daß - dem Anschein nach — ein großer Teil der Glaubensimpressionen
im Dämmerbewußtsein ruht, sowohl individuell wie
kollektiv. Die Nachwirkungen des Väterglauben6 werden immer
schwächer. Die Rcligion6psychologic kann sich des Testverfahrens
nicht mit der Aussicht auf wesentliche Erkenntnisse bedienen.
Die Ergebnisse un6CTer Untersuchung fassen wir unter acht
Gesichtspunkten zusammen:

1. ) Sehr häufig erlebt die Jugend mit 14 oder 15 Jahren den
religiösen Stop, wie sie manchmal selber sagt, oder den Glaubensstillstand
. Früher sprach man von der religiösen Schonzeit.
Wenn unsere Beobachtungen nicht trügen, ist dieser Glaubensstillstand
zwischen dem 15. und dem 18. Lebensjahr, also während
der höheren Reifung, zu beobachten.

2. ) Viele Beobachter neigen zu der Ansicht, daß die heutige
GlaubciKsituation durch einen gewissen Konformismus geprägt
sei. Tatsache ist, daß besonders jüngere Menschen die
Glaubensfrage zunächst beiseiteschieben mit der Begründung, es
seien nähcrliegcndc Probleme zu bewältigen. Später erfolgt eine

Die anonyme Frömmigkeit

Von Ernst Jahn, Berlin

.Religion ohne Entscheidung" ist der TiteUincs Buches von | Rückbesinnung. Die Kirche wird nicht abgelehnt, aber auch nicht

beansprucht. Es sind die Individualisten. Einst sprach man von
der Geheimreligion der Gebildeten. Heute spricht man wohl zutreffender
von der Geheimreligion der Einzelgänger.

3. ) Ganz anders stellt sich die Situation der Persönlichkeiten
dar, die man zutreffend als Menschen der schlichten Hinnahme
und der Innewerdung bezeichnen könnte. Sie werden in der Regel
übersehen. Sie hören zu, ohne zu debattieren. Wenn sie gefragt
werden, so äußern sie, daß sie mit der Verarbeitung des
gehörten Wortes beschäftigt seien. Jüngere und ältere Persönlichkeiten
, auch von hoher Intelligenz, lehnen es ab, sich auf
kritische Fragen hinsichtlich ihres Glaubens einzulassen. Sie
wollen nicht kritisieren, sondern 6ie wollen glauben, wie sie betonen
. Es sind die Stillen im Lande. Ohne sie wäre eine
Gemcindebildung gar nicht möglich.

4. ) Einzelne dieser stillen und in sich gekehrten Persönlichkeiten
geraten später aber doch in Zweifel. Wir meinen den echten
Zweifel, der in stärkere innere Krisen ausmündet. Er schafft die
Spannung zwischen dem Nein und dem Dennoch, eine Spannung
von höchster positiver Kraft. Es ist die Spannung zwischen Para-
doxie und Antinomie. Aber sie führt nur in Ausnahmefällen zur
Abkehr oder zum völligen Vakuum. Die echte Innewerdung, die
in der Jugend stattgefunden hatte, wirkt als retardierendes Moment
. Man kann sich von Gott nicht völlig lösen. Man betet zu
dem Gott, an den man nicht glaubt. Das ist der echte Zweifel