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Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

889-894

Autor/Hrsg.:

Holtz, Gottfried

Titel/Untertitel:

Magisches Erbe des 19. Jahrhunderts 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

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Bei den Juden müssen bekanntlich zwölf, bei den Mohammedanern
sogar zwanzig erwachsene Männer anwesend sein, ehe der Gottesdienst
beginnen kann. In der SU verlangt die Regierung, ehe sie die Erlaubnis
zur Benutzung einer Kirche gibt, die Unterschrift von 20 Personen, die
bereit sind, die Verantwortung für das Gcmcindcleben zu tragen, die
orthodoxe Kirche aber fordert, daß 300 aktive Gemeindcglicder vorhanden
sein müssen, ehe sie einen Priester und einen Diakon in die
Gemeinde sdiickt. Audi die evangelische Kirdie sollte zu ähnlichen
festen Regeln kommen. Denn z. Zt. werden trotz großem Pfarrermangel
Pastoren in Orte entsandt, in denen wohl eine Pfarrstelle, aber keine
Gemeinde vorhanden ist. Bei der Feststellung, ob eine Gemeinde da ist,
die zu ihrer Leitung einen Pfarrer braucht, sollte weniger die Zahl der
virtuellen Gottesdienstbesucher maßgebend sein; es sollte vielmehr danach
gefragt werden, ob Gemeindeglieder sich bereit erklären, ja, verpflichten
, im Gottesdienst, eventuell in regelmäßigem Turnus, die Funktionen
des Lektors, des Küsters, des Altaristen, des Organisten, des
Kantors usw. zu übernehmen, ob ein Chor gebildet werden kann, der
den liturgischen Dienst übernimmt, ob Kirchenälteste sich finden, die
Sonntag für Sonntag ihren festen Platz in der Kirche einnehmen, ob
Eltern da sind, die ihre Kinder regelmäßig mit in die Kirche bringen,
ob der Abendmahlsbesuch so geordnet werden kann, daß es unvorstellbar
ist, daß im Hauptgottesdienst die Abcndmahlsfeier aus Mangel an
Kommunikanten ausfallen muß. E6 wird sich nicht umgehen lassen, daß
nach wie vor die als Kirchenmitglicder betrachtet werden, die getauft
sind und sich bereit erklären, einen freiwilligen festen Beitrag zur
Deckung der Ausgaben der Gemeinde zu leisten, aber die Gliedschaft
am Leib Christi wird manifestiert durch die aktive Teilnahme an der
sonntäglichen Versammlung und durch Mitfeier des Herrenmahlsf

In einer durch den Gottesdienst zusammengeführten und
zusammengehaltenen Gemeinde wird die christliche Erziehung
wieder in viel höherem Maße Sache des Elternhauses, Sache der
Familie werden müssen. Deshalb sollte jedem Pfarrer fast noch
wichtiger als die Erteilung kirchlichen Unterrichts die Aufgabe
sein, Väter und Mütter 60 anzuleiten und auszubilden, daß sie
einen Hauskatechumenat einzurichten fähig werden. Die Ordnung
des christlichen Lebens wird nicht durch allgemeine Ermahnungen
gesichert, sondern nur durch ganz konkrete, ins Einzelne
gehende Richtlinien, wie Mütter mit ihren Kindern beten, ihnen
die biblischen Geschichten erzählen, mit ihnen Gesangbuchslieder
singen können; das alles muß in Mütter- und Großmütterabenden
solange geübt werden, bis die Frauen der Gemeinde die
notwendige Sicherheit bekommen, die 6ie zu einer funktionalen
christlichen Erziehung brauchen. Sonst stehen die Mütter auch bei
bestem Willen ihrer Aufgabe hilflos gegenüber! Die Hausväter
müssen in Männerabenden Vereinbarungen treffen, wann, wie
und was über Tisch gebetet werden kann; der Einzelinitiative
kann die Erneuerung guter kirchlicher Sitte nicht überlassen
bleiben. E6 muß in den Beratungen des Gemeindekirchenrats sorgfältig
erwogen werden, was in einer Gemeinde unter Berücksichtigung
der Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnisse tatsächlich
durchführbar ist; jede Überforderung ist zu vermeiden! Wir
brauchen eine Art evangelischer Tertiarier-Orden, wir brauchen
ein .Evangelisches Brevier' für den modernen Menschen, in dem
kein Satz, kein Wort steht, das nicht nachvollziehbar ist auch von
dem, der, beruflich stark in Anspruch genommen, wenig Zeit und
Kraft übrig hat, keinerlei Gebetserfahrung und keinerlei Übung
im Beten besitzt, der keine komplizierten Vorschriften zu befolgen
vermag, aber bereit ist, eine einfache Ordnung einzuhalten
und sich auf diese Weise allmählich einige Liedertexte, Psalmen
, Schriftabschnitte und Gebete fest einzuprägen. Durch Gebetsordnungen
, die relativ viele einzuhalten bereit und fähig sind,
werden sehr wichtige, hilfreiche, ermutigende Verbindungen
zwischen Christen hergestellt, die sie vor geistlicher Vereinsamung
bewahren können und einen guten Ersatz darstellen für
die Gebetsgemeinschaft in der Familie, die oft nicht realisierbar
ist.

In den meisten Gemeinden haben sich Gemeindekreise gebildet
, die die überlebten kirchlichen Vereine abgelöst haben.
Diese .Kreise' sollten sich als .Sektoren' ansehen, weil sie erst
miteinander vereint einen .Kreis', eben die Gemeinde bilden
können. Es ist zur Neuordnung des kirchlichen Lebens, besonders
in unübersehbaren Stadtgemeinden, dringend erwünscht, daß sich
jedes Gemeindeglied wenigstens einem dieser .Sektoren' anschließt
und in ihm eine, wenn auch noch so kleine, konkrete
Aufgabe übernimmt und daß jeder Kleinkreis regelmäßig im sonntäglichen
Gemeindegottesdienst aktiv in Erscheinung tritt. Nur
60 läßt sich die organisch gesunde Durchstrukturierung der Gemeinde
erreichen. Ein Kleinkreis, der keine positive Beziehung
zum Gemeindegottesdienst hat, ist fehlgeleitet!

,Randsiedler', Gleichgültige, Fernstehende, Entkirchlichte
werden heute nicht durch die Predigt, nicht durch Evangelisations-
predigten, auch nicht durch die .Kasualien' wirklich erreicht und
gewonnen, sondern einzig und allein durch persönlichen Kontakt
mit lebendigen Gemeindegliedern, die sie in die Kleinkreise
der Gemeinde einführen und in den Gottesdienst mitnehmen.
Das Gespräch unter vier Augen, der Besuch in der Familie, die
Anteilnahme an persönlichem Erleben, Rat, Hilfe, Trost in den
Schwierigkeiten des Alltags, das sind die Mittel und Wege, die
zu einem gesunden Wachstum der Gemeinde führen. Es gilt
vielen als ausgemacht, daß die Tage der Volkskirche gezählt
sind, seit die Staatskirche verschwunden ist, und daß die
.Volkskirche' durch die .Bekenntniskirche' zu ersetzen ist. Diese
These wäre richtig, wenn mit .Volkskirche' das staatskirchlich
fundierte Parochialsystem mit all seinen Begleit- und Folgeerscheinungen
gemeint sein könnte. Aber diese kirchliche Institution
war und ist tatsächlich alles andre als eine ,Volkskirche'.
.Volkskirche' muß die Kirche Jesu Christi bleiben bis ans Ende
der Tage, weil ihr Herr ihr geboten hat: .Lehret alle Völker' und
weil durch ihn ,allem Volke Heil widerfahren ist'. Die Kirche
weiß 6ich als Volks- und Völkerkirche' jedermann verpflichtet
nach dem Beispiel des Apostel Paulus, der .allen alles geworden
ist, damit er auf alle Weise etliche rettete' (l. Kor. 9, 19—23).
An unzähligen, die heute ganz entkirchlicht sind, hat die Kirche
die Taufe vollzogen; mögen sie der Kirche den Rücken gekehrt
haben, die Kirche wird nie aufhören, für sie da zu sein. .Volks-
kirche' und .Bekenntniskirche' sind keine Gegensätze, die sich
ausschließen; die beiden Termini bezeichnen Pole des kirchlichen
Lebens, die untrennbar aufeinander bezogen 6ind. Eine
Kirche, die um der reinen Lehre und um des unbefleckten Eigenlebens
willen ins Ghetto geht, ist nicht mehr Kirche Jesu Christi.
Bei der Neuordnung des kirchlichen Lebens dürfen uns Montanisten
und Mormonen keine Vorbilder sein. Gerade die Gemeinde,
die allein durch Wort und Sakrament konstituiert ist, weiß sich
in echtester Solidarität verbunden mit der schuldbeladenen, leiderfüllten
Welt, die Gott so geliebt hat, daß Er seinen Sohn für
sie dahingegeben hat (Joh. 3, 16)!

1. Das 19. Jahrhundert hat ein zu wenig beachtetes magisches
Erbe hinterlassen. Was ist unter ihm zu verstehen? Magisches
Denken ist monistisches Denken. Die Welt ist nicht eine
Oroße mir gegenüber, sondern Mitwelt, in die ich hineingehöre.
Im Dynamismus ihrer Kräfte bin ich ein mitbestimmender Teil.
Ver 'bcr bir> ich? Nicht ein Staubkorn oder eine Laus, sondern
der Mensch, die Krone der Schöpfung, mit einem seelischgeistigen
Vermögen von hoher wenn nicht gar höchster Voll-
ungj Darum kann und soll ich steuernd in das innerste Getriebe
der Welt eingreifen, kraft meiner Teilhabe (Partizipation).
Uas kt der Grund der magischen Geisteshalrung. Daß sie dem
Idealismus nicht fremd ist, bedarf hier keiner Begründung. In

Magisches Erbe des 19. Jahrhunderts

Von Gottfried H o 11 z, Rostock

der Goetheforschung gibt es die Themen „Goethe und die
Magie" und „Goethe der Alchemist"1. Goethe ging so weit,
daß er den Aberglauben verteidigte. „Der Aberglaube gehört
zum Wesen des Menschen"; wenn er „verdrängt" würde - das
Wort findet sich tatsächlich dort -, würde er unvermutet aus
den „wunderlichsten Ecken und Winkeln" den Menschen bedrohen5
. Daß Novalis in seinen Fragmenten einen magischen

») Zur Literatur e. Eberhard H. Pältz in ThLZ 85 (i960) Sp. 202,
Anm. 4.

') „Maximen und Reflexionen" Nr. 500 der Ausgabe Dieterich-
Leipzig.