Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1960 Nr. 12

Spalte:

885-890

Autor/Hrsg.:

Hertzsch, Erich

Titel/Untertitel:

Neue Organisationsformen des kirchlichen Lebens 1960

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

885

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 12

886

„Ladenkirche". Zweifellos kann die hier besonders gepflegte
,.Missionsrede" mit einem erwecklich gestalteten Glaubenszeugnis
von großer Wirkung sein. Doch könnte an diesem Ort
etwa im Wechsel auch eine gottesdienstliche Form bevorzugt
werden, die ohne Erklärung die „Gemeinde" das Wort einfach
wieder le6en lehrt. Vielleicht, daß sich dann in Form eines
Rundgespräches so etwas wie eine Christenlehre entwickelt oder
zu gegebener Zeit sehr präzis der Wunsch nach regelmäßiger
gottesdienstlicher Bedienung am Wochentagsabend laut wird.
Das „Amt der Versöhnung" wird sich auch ernst zu fragen haben
, ob diese Gottesdienste in der herkömmlichen Weise zu
halten sind oder ob diese Feiern von vornherein nicht frei von
allen eingeschliffenen kirchlichen Formen gehalten werden sollten
. Der Gedanke liegt nahe, auch die Liturgie mit der „Gemeinde
" 6tändig neu zu erarbeiten, die Predigt in Dialogform zu
halten und das Ganze im Rahmen einer sich anschließenden Teestunde
zu vertiefen. Auch die Form läßt sich erwägen, daß in der
Nachsommerzeit von einer Reise erzählt wird, an die sich ungezwungen
die eigentliche Andacht anschließt. Wird Kindergottesdienst
, etwa am Sonntag Nachmittag und stets in Gegenwart
der Eltern gehalten, sollte am Ende der Stoff zweckdienlicherweise
für sie von einem Helfer zusamamengefaßt werden. Im
Wissen darum, daß auch der Christ Stätten der Geselligkeit
braucht, möchte sich sonderlich die mitarbeitende Gemeinde
besser darauf einstellen. Es geht eben heute bei sorgsamer Wahrung
des kirchlich Herkömmlichen und Geordneten, doch in
steigendem Maße um eine Revision des gesamten kirchlichen
Handelns und damit um totale Lösungen im gemeindlichen
Raum. Vielleicht, daß dann auch um der Hilfe willen am Menschen
von heute selbst die parochiale Arbeit eines Tages gesprengt
werden muß. Mit klugen Tricks kann aber dem Gegenwartsmenschen
nicht geholfen werden. Künden und richtig künden
ist eben ein großer Unterschied. Auch der moderne Hörer
muß merken, daß jeder Gottesdienst ein endzeitliches Geheimnis
darstellt und daß dabei der Prediger, wie Luther in seiner Schrift
„Wider Hans Worst", 1541, sagt, nur der Bote ist. Gott will
auch im Menschenwort gegenwärtig sein! Die Art Luthers zu predigen
gilt darum heute besonders! Er sagt: „Ich lasse die großen
Eingänge weg und fange in kurzen Worten also an: Daß das
Wort Gottes uns fruchtbar sei und Gott angenehm. Hernach
lese ich den Text, erkläre kurz und am Ende spreche ich: Davon
ist genug oder ein andermal mehr." Fürbitte, Vaterunser und
Segen beschließen das Ganze. Die Predigt der Reformation wirkte
eben, weil sie wirklichkeitsbezogene Bezeugung des Evangeliums
war. Auch unsere Predigt muß in die realen Existenzverhältnisse
der heutigen Epoche eingehen und die strukturellen
Veränderungen in der Welt ernst nehmen. Wer aber seine Predigt
abliest, wie es in dem bisherigen Gottesdienst der offiziellen
Kirche oft noch zu beobachten ist, entflieht damit dem konkreten
Menschen und läßt es nicht auf ein Ringen mit ihm ankommen.

Mit diesen organisatorischen Vorschlägen habe ich beispielhaft
die hauptsächlichsten Punkte einer praktisch-theologischen
Besinnung aufgezählt, die uns im Anschluß an eine Vorlesung
über „Neue Formen kirchlicher Arbeit im Sozialgeschehen von
Heute" bedrängten. Ich hoffe, nachdem die Berliner Arbeit in
ihrer besonderen Situation festere Gestalt angenommen hat, in
absehbarer Zeit darauf zurückzukommen. Für heute freilich kann
ich neben diesem raumbeschränkten und darum punktuell gegebenen
Bericht nur auf die diesbezüglichen Einzelausführungen in
meinen Schriften „Neubau der praktischen Großstadtseelsorge",
Berlin 1949, und „Struktur der diakonischen Praxis", Berlin
1959, verweisen.

Neue Organisationsfonnen des kirchlichen Lebens

Von Erich Hertzsch, Jena

Die Kirche Jesu Christi ist keine Organisation, sondern ein
Organismus. Im Joh.-Ev. (15,5) wird sie deshalb mit einem
Weinstock verglichen, der seinen Reben Saft und Lebenskraft zuströmen
läßt. Der lebendig gegenwärtige Christus und die Kirche
sind identisch. Darum vergleicht der Apostel Paulus die Kirche
mit einem Leibe, dessen Glieder einander dienen. Die Kirche ist
corpus Christi (Rom. 12, 4-6; 1. Kor. 12, 12-27). Wenn in
den Deuteropaulinen (Eph. 1,22; 4,15; Kol. 1,18) Christus
das Haupt der Kirche heißt, dann ist das bereits eine Modifikation
des paulinischen Vergleichs: Die Kirche wird von ihrem Herrn
gelenkt und geleitet; der Organismus Kirche kann in dieser Weltzeit
der Organisation nicht entraten. Nur Schwärmer können
bestreiten, daß eine Ordnung des kirchlichen Lebens notwendig
ist. Das Kirchenrecht und die Kirchenordnung stehen nicht im
absoluten Widerspruch zum Wesen der Kirche. Es ist allerdings
eine sehr ernst zu nehmende und immer neu zu stellende Frage,
welches Kirchenrecht und welche kirchliche Ordnung dem Wesen
der Kirche gemäß sind.

Die römische Kirche ist der Überzeugung, daß auf Grund
gÖt~i.iCa:Cr Offenbarung eine Organisation des kirchlichen Lebens
geschaffen worden ist, die dem Wesen und der Aufgabe der Kirche
genau entspricht. Das jus ecclcsiasticum oder jus canonicum, wie
es im CJC vorliegt, ist jus divinum. Auf diesem jus divinum beruht
die kirchliche Hierarchie, die Scheidung von Klerus und
Laien, die Weihe- und Jurisdiktionsgewalt der Priester usw.
Einer Änderung des kirchlichen Rechts und der kirchlichen
Organisation sind deshalb von vornherein 6ehr enge Grenzen
gezogen.

In den evangelischen, vor allem in den lutherischen Kirchen
T daSe8en die wohlbegründete Anschauung, daß Kirchen-
recht und Kirchenordnung nicht zum Inhalt der göttlichen Offenbarung
gehören und demgemäß wandelbar sind. Kirchliche Ordnungen
können, wie alle irdische Ordnung, veralten, so daß sie
nicht mehr nützen, sondern schaden, den kirchlichen Dienst
nicht mehr fördern, sondern hemmen.

Trotz dieser prinzipiellen Klarheit über die Wandelbarkeit
kirchlicher Rechtssetzungen und kirchlicher Organisationsformen
gilt tatsächlich in den evangelischen Kirchen Deutschlands

weithin d i e Organisationsform für unantastbar, die sich im
.konstantinischen Zeitalter' unter maßgeblichem Einfluß der
(.kirchenfreundlichen') Staatsmacht herausgebildet und seit der
Reformationszeit in den unter fürstlicher Kirchenhoheit stehenden
Landeskirchen verfestigt hat. Es ist eine Organisationsform,
die durch die Anerkennung der Kirche als .Körperschaft des
öffentlichen Rechts', durch finanzielle Zuwendungen de6 Staates
an die Kirche, durch besonderen Schutz der kirchlichen Veranstaltungen
und des kirchlichen Eigentums charakterisiert ist.
Zu dieser Kirche mit ihrem staatlich subventionierten Verwaltungsapparat
, ihrem Steuer- und Pfründenwesen gehört auch
das Parochialrecht, das jeden Getauften, der in einem bestimmten
Bezirk wohnt, als Gemeindeglied ansieht. Daß in den USA
seit Jahrhundert und in der SU seit reichlich 40 Jahren diese
Prinzipien aufgegeben worden sind, gilt vielen, besonders im
Blick auf die SU, als ein großes Unrecht an der Kirche, gegen das
sie energisch protestieren muß. Es ist zu prüfen, ob die Änderungen
des Staatskirchenrechts, die eingetreten oder zu erwarten
sind, nur den Protest der Kirche herausfordern, ob sie nicht viel
mehr die Kirche veranlassen sollten, darüber nachzudenken, ob
die gewohnte, traditionell begründete, als normal angesehene
Organisationsform des kirchlichen Lebens nicht im Interesse des
kirchlichen Lebens preisgegeben werden sollte, auch und gerade
dort wo sie von einer ,kirchenfreundlichen' Regierung noch toleriert
oder sanktioniert wird. Es ist ernsthaft zu fragen, ob es
nicht an der Zeit ist, grundsätzlich auf das Parochialsystem, den
staatlich protegierten kirchlichen Unterricht, zugleich aber auch
auf Staatszuschüssc, Kirchensteuerrechte und Pfründeneinnahmen
zu verzichten, die damit zusammenhängenden veralteten Organisationsformen
des kirchlichen Lebens allmählich abzubauen und
durch eine neue bessere Organisation des kirchlichen Lebens zu
ersetzen.

Die Staatszuschüsse werden in beiden deutschen Staaten nach
wie vor gezahlt .auf Grund von Gesetzen, Verträgen und anderen
Rechtstiteln'. Ihre Ablösung ist seit 1919 verfassungsrechtlich vorgesehen
, aber nie in Angriff genommen worden. In der DDR nimmt der
Staat das Recht für sich in Anspruch, die Staatsleistungen zu kürzen oder
ganz zu streichen, bisher hat er aber nur unwesentliche Kürzungen vorgenommen
. In anderen sozialistischen Republiken sind die Staatsleistun-