Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

875-878

Autor/Hrsg.:

Wrzecionko, Paul

Titel/Untertitel:

Die Grundlegung der Theologie Paul Tillichs 1960

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

875

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

876

eben christliche Variation des östlichen Vedanta mißzuver-
stehen. Die wirklich progressiven Denker im Osten führen heute
im übrigen einen entschiedenen Kampf gegen allen Impersonalismus
in der Religion. Gott ist z. B. für Sri Aurobindo „Person",
die „Ur-Personalität", die „Quelle aller Personalität". Aber
auch hinter die existentielle Frage des heutigen westlichen
Menschen, wenn wir einmal mit Tillich auf sie zurückgehen,
fällt „das" Neue Sein zurück. Selbstentfremdung ist doch eben
wesentlich unterpersonale Vermassung. Der Ruf nach Lebenkönnen
ist grundlegend der Ruf nach Person-sein-können. „Das"
Neue Sein ist diesem existentiellen Notruf nicht die befreiende
Antwort. Die neutrische Begrifflichkeit ist wiederum nicht neu
genug, sie bietet 6ich unter Verkürzung des Kerygma aus der

philosophischen und dogmengeschichtlichen Tradition zu leicht
an. —

Luther übt auch Korrelation. Er korreliert verbum und
fides. Tillich korreliert existentielle Frage und theologische
Antwort. Das ist eine struktuell verschiedene Korrelation. Sie
kann immer nur den Anschein erwecken, als ob sie gelänge,
voll gelingen kann sie nie, denn das Gefäß der menschlichen
Frage bleibt der alte Schlauch, den der neue Wein sprengt.

So bleiben existentielle Frage und thelogische Antwort
auch in Tillichs Christologie in Spannung. Letztere glaubten
wir so positiv würdigen zu können, indem wir sie von dem
systematischen Rahmen, in dem sie steht, möglichst abrückten
und auf ihre nt-lichen und reformatorischen Elemente blickten.

Die Grundlegung der Theologie Paul Tillichs

Von Paul Wrzecionko, Münster/W.

(Kurzfassung)

Eine Interpretation der Theologie T.s muß, wenn sie dieser
angemessen sein soll, soweit wie möglich sowohl den Gesamthorizont
aller behandelten Sachgebiete als auch deren vertikale
Tiefe in der ontologischen Begründung berücksichtigen.

Denn T.s systematisches Denken geht von der Frage aus,
wie die Wahrheit der christlichen Botschaft gedeutet und formuliert
werden soll, damit sie ohne Verkürzung in einer bestimmten
Zeitsituation als Antwort auf deren Fragen angenommen wird.
Eine Antwort setzt aber die Kenntnis der Frage voraus, genau
so, wie eine Frage nur im Blick auf eine Antwort gestellt werden
kann. Daher muß der Theologe auch seine Zeitsituation kennen;
er muß deren „schöpferisches Selbstverständnis" auf allen Wirk-
Iichkeits-, Wissenschafts- und Lebensgebieten prinzipiell sichten
und zu einem Gesamtbild menschlicher Ausdrucksweisen zusammenfassen
. Dieses Bild wäre dann der eine Pol, zu dem aber
6ofort auch der andere Pol, die Wahrheit der Offenbarung, als
Antwort in Beziehung zu setzen ist. Beide Pole gehören wie zwei
Brennpunkte in einer Ellipse zusammen; sie fordern einander in
einer Spannung, indem sie sich gegenseitig voraussetzen.

Diese Bipolarität des T.schen Denkens bedeutet aber nicht,
daß in ihm die sachlich und methodisch gebotenen Grenzen zwischen
den einzelnen Wissenschaften überschritten werden dürften
. Frage und Antwort sind nicht voneinander abzuleiten. Und
dennoch muß zwischen ihnen auch eine „gegenseitige Abhängigkeit
" bestehen, gemäß welcher nach der von T. entwickelten
„Methode der Korrelation" die Frage, welche der Mensch selbst
ist, von der Offenbarung her gestellt, und die Antwort der Offenbarung
im Blick auf diese Frage ausgesprochen wird.

I.

Soll der erste Pol, die heutige Zeitsituation, vornehmlich an
den Forschungen und Ergebnissen der Wissenschaften erhellt
werden, so muß man davon ausgehen, daß Wissenschaften jeweils
eigenständige Weisen der Wirklichkeitserkenntnis und -bewälti-
gung sind, die sich in der Wechselbeziehung zwischen dem erkennenden
Subjekt und dem erkannten bzw. bewältigten Objekt
vollziehen. Daher werden von T.

1) die in den Wissenschaften jeweils thematischen Sachprobleme
auf die Struktur der sie vollziehenden Vernunftfunktionen
reduziert, und

2) die Ergebnisse dieser Reduktion unter den Bedingungen
der menschlichen Existenz beurteilt.

ad 1) Entsprechend der Vielfalt der Wissenschaftsprobleme
muß die Vernunft sowohl funktional differenziert als auch von
universaler Weite sein. Sie umfaßt die Funktionen des Erkennens
und Gestaltens, wie auch die Struktur und das Wesen der erkannten
und gestalteten Wirklichkeit. Der Logos der Vernunft
ist zugleich der Logos der gesamten Wirklichkeit.

Die wichtigsten Vernunftfunktionen bzw. -momente wären
demnach: die subjektive Vernunft als die rationale Struktur des
Geistes, die objektive Vernunft als die rationale Struktur der
Wirklichkeit; innerhalb der subjektiven Vernunft die erkennende
und die gestaltende Funktion, wobei die erstere ein kognitives

und ein ästhetisches Moment hat, und die letztere das „vorgegebene
Material" in eine solche Struktur umwandelt, welche
„die Fähigkeit hat zu sein". Durch sämtliche Funktionen hindurch
sind ferner ein statisches und ein dynamisches Moment zu
unterscheiden.

Zwischen diesen Funktionen gibt es keine scharfen Grenzen
, und, was wichtig ist, kein Phänomen der Wirklichkeit darf
nur durch eine bestimmte Funktion erklärt werden.

Daher bedürfen sämtliche Funktionen noch einer Vertiefung
und Zusammenfassung, in der, über die einzelnen Funktionen,
die Wirklichkeit in ihrem letzten Sinn vernommen und dementsprechend
auch wahrhaft gestaltet werden kann. Dies geschieht
durch die „ontologische Vernunft".

In dieser offenbart sich eine Tiefe, „die selbst nicht mehr
Vernunft ist, sondern ihr zugrunde liegt", die sie „an Macht und
Sinn übersteigt" und doch in einem jeden ihrer Akte zum Ausdruck
kommt. Alle Begriffe, mit denen T. diese Tiefe nennt, z. B.
Substanz, Sein selbst, Abgrund, unendliche Potentialität von Sein
und Sinn usw., haben lediglich „metaphorischen Charakter", d.h.
sie geben die Tiefe wieder, ohne sie rational adäquat ausdrücken
zu können.

ad 2) Wäre die Vernunft nur essentiell im Vollzug, so käme
diese Tiefe auch wirklich zur Geltung. Das menschliche Denken
ist aber endlich und auf sinnliche Erfahrung angewiesen. Darüber
hinaus unterliegt es in der Bindung an die Existenz auch deren
Entfremdung, Verzerrung und Selbstzerstörung. Daher bricht die
im Grunde angelegte Einheit der Vernunftstruktur auseinander,
und ihre Tiefe bleibt verborgen.

Ausdruck dieser Selbstzerstörung sind die von T. im Endergebnis
seiner Analyse unterschiedenen 3 Grundaporien:
1) zwischen der Autonomie und der Heteronomie, 2) zwischen
dem statischen und dynamischen und 3) zwischen dem formalen
und emotionalen Element.

Diese Aporien vermag der Mensch selbst nicht mehr zu
lösen. Sie sind in letzter Formalisierung und Radikalisierung das
Bild des Menschen in seiner Zerrissenheit, Sinnlosigkeit und
Verzweiflung; sie sind das Bild unserer Zeitsituation, und damit
die Frage, welche der Mensch an die Offenbarung stellt.

II.

Obwohl die Antwort der Offenbarung in Jesus Christus
ihrem Gehalt nach nicht aus der Frage abzuleiten ist, so wird doch
— nach T. — in ihrer Deutung und Formulierung vor allem ihre
normgebende Letztgültigkeit, ihre universale Bedeutung trotz
ihrer einmalig geschichtlichen Konkretion, und schließlich ihre
rationale Einsichtigkeit trotz ihrer Irrationalität als Zeugnis des
letzten Seins- und Schöpfergrundes hervorzuheben sein. Kurz:
Jesus Christus ist als die einzig mögliche Überwindung der
existentiellen Konflikte zu bezeugen.

Den Grund dafür, weshalb Jesus von Nazareth als der Christus
diese Überwindung ist, sieht T. darin, daß er die Macht hatte,
sich selbst zu verneinen, ohne sich selbst zu verlieren. Daher ist
er sowohl ein konkret geschichtliches Ereignis, als auch die Trans-