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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

859-864

Autor/Hrsg.:

Zeller, Winfried

Titel/Untertitel:

Drucktätigkeit und Forschung des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der protestantischen Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

860

nicht bestätigte, sondern aufhob; denn er band den Empfang des
Heils ausschließlich an den Glauben und also an eine persönliche
Bedingung, verstand sittliches Wohlverhalten und Gemeinschaftstreue
nicht in erster Linie als Ziel, sondern als Gabe und spaltete
also die städtische Heilsgemeinde dem Gedanken nach auf in
gläubige Christen und die Menge der Lauen und Nichtchristen.

Gerade in diesen Fragen, im Kirchenbegriff, in der Begründung
der Ethik, weichen die beiden großen Theologen der ersten
Reformatorengeneration, die im Unterschied zu Luther Bürger
freier Städte sind, Zwingli und Bucer, in gewisser Hinsicht von
dem Wittenberger ab. Man denke an das ideale Bild des vollkommenen
Gemeinwesens, das beide, jeweils in ihren letzten
Lebensjahren, entwerfen, in dem Kirche und weltliche Obrigkeit
in intensiver, wechselseitiger Zusammenarbeit miteinander zum
Wohl des Ganzen tätig sind und das zuhöchst, bei Zwingli in der
Gestalt des „Propheten", bei Bucer im „Wort", durch Gott und
Christus selbst geleitet wird. Man denke auch an die zentrale
Wichtigkeit, die etwa bei Bucer der Gemeinschaftsgedanke, die
Forderung der Nächstenliebe, für alle ethische, zeremonielle und
rechtliche Ordnung der Kirche besitzt. Hier scheint die Wirklichkeit
der städtischen Gemeinden, denen Zwingli und Bucer gegenüberstanden
, die Eigenart ihrer Theologie maßgebend mitbestimmt
, ihnen einerseits Zugang zu bestimmten, bei Luther
eher vernachlässigten Elementen der urchristlichen Botschaft verschafft
zu haben, andererseits aber auch für die Schwächen in ihrem
Kirchenbegriff und in ihrer Rechtfertigungslehre mitverantwortlich
zu sein. Doch kann man gewiß nicht sagen, Zwingli und
Bucer hätten dabei die Reformation an die Stadt verraten; denn
an entscheidender Stelle ist das mittelalterliche „corpus christia-
num im Kleinen", indem es fortgeführt wird, zugleich durchbrochen
. Denn die Heiligkeit der Stadt hat nach der Überzeugung
der beiden Reformatoren ihren tiefsten Grund nicht darin, daß sie
ein heiliges Gemeinschaftsgebilde ist, in das sich einzufügen das
Heil verbürgt, sondern darin, daß in ihr das Wort Gottes verkündigt
und geglaubt und daß ihm im Glauben Gehorsam geleistet
wird. Man wird zugespitzt öagen dürfen: Die eigenartige Theologie

Zwingiis und Bucers will in entscheidenden Punkten als die Botschaft
der Reformation in der Sprache der freien Stadt verstanden
und gewürdigt werden.

Diese These findet eine überraschende Bestätigung, wenn
man den Gang der Reformationsgeschichte der freien Städte in
den ersten Jahrzehnten genauer verfolgt. Nicht nur, daß die
Mehrzahl der evangelisch gewordenen Reichsstädte, nämlich
diejenigen im schwäbisch - alemannischen Gebiet in Südwestdeutschland
, sich Zwingli und Bucer angeschlossen haben, wobei
sich gerade in ihrer Reformationsgeschichte ein starkes Hervortreten
des Laienelements, zumal eine bemerkenswerte Anteilnahme
des „gemeinen Mannes" an der Gestaltung der kirchlichen
Verhältnisse, beobachten läßt; es haben vielmehr bei Beginn der
Reformation gerade diese Städte, im Unterschied zu den meisten
anderen, eine von den Zünften geführte, also stärker genossenschaftlich
bestimmte Verfassungsordnung, und auch in ihrem Ver-
fassungs denken spielt das genossenschaftliche Element eine
hervorgehobene Rolle. Die Theologie Zwingiis und Bucers hat
also allem Anschein nach gerade in den Städten den größten
Erfolg gehabt, in denen das alte städtische Denken am reinsten
erhalten geblieben war.

Daß diese Herrschaft des Zwinglianismus in Oberdeutschland
freilich nur wenige Jahrzehnte Bestand hatte, hat eine ganze
Reihe von Ursachen. Wie es scheint, hat dabei aber maßgebend
mitgewirkt, daß Karl V. nach dem Schmalkaldischen Krieg in
sämtlichen oberdeutschen Reichsstädten die alte Zunftverfassung
gewaltsam aufhob und, in Gestalt der sog. „Hasenräte", eine
streng patrizische Regierung einführte. Nun wird der städtische
Bürger hier allmählich im vollen Sinn zum Untertan, der
Magistrat wirklich zur selbstherrlichen Obrigkeit. In dieselbe Zeit
aber fällt in allen oberdeutschen Städten die — z. T. übrigens nur
gegen heftigen Widerstand der Gemeinden durchgesetzte — Ablösung
der zwinglianisch-bucerischen Pfarrer der ersten Generation
durch Lutheraner, die Revision der alten Kirchenordnungen
und die Abschaffung oder Einschränkung der Laienämter.

Drucktätigkeit und Forschung des 19. Jahrhunderts i

des 16. und 1

Von Winfried Z e

Wer sich mit der Erforschung der protestantischen Erbauungsliteratur
des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt, stellt mit
nicht geringer Verwunderung fest, daß fast alle bedeutenden
Werke der alten evangelischen Erbauungsliteratur im 19. Jahrhundert
Neuauflagen erfuhren. Der hier an beträchtlichem Umfang
wie mühevoller Akribie gleich bedeutsamen Leistung steht
nun die Tatsache gegenüber, daß eine augenfällige Diskrepanz
zwischen dieser Drucktätigkeit und einer theologischen Erforschung
des Erbauungsschrifttums aus dem 16. und 17. Jahrhundert
bemerkbar ist.

Während die hymnologische Forschung bereits kurz nach
18 50 umfassende Darstellungen von Carl von Winterfeld und
Eduard Emil Koch besitzt, setzt die historische Gesamtuntersuchung
unseres Bereiches überhaupt erst im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts ein. Nach den zudem noch rein kulturgeschichtlich
orientierten Forschungsarbeiten C. J. Cosacks (1871) können erst
die Werke von Hermann Beck, der seiner Monographie über „die
Erbauungsliteratur der evang. Kirche Deutschlands von Martin
Luther bis Martin Moller" (1883) das grundlegende Buch über
„die religiöse Volksliteratur der evang. Kirche Deutschlands in
einem Abriß ihrer Geschichte" (1891) folgen ließ, den Rang einer
wissenschaftlichen Gesamtdarstellung der protestantischen Erbauungsliteratur
beanspruchen. Um so merkwürdiger mutet es
freilich an, daß noch heute zu den Standardwerken über die
Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts jenes Buch von
Constantin Große (1900) zählt, das eigentlich nichts anderes als
eine bibliographische Einführung in die Neudrucke der „Alten
Tröster" im 19. Jahrhundert sein will!

Will man nun ein Verständnis der hier vorliegenden theo-

luf dem Gebiet der protestantischen Erbauungsliteratur
7. Jahrhunderts

11er, Marburg/Lahn

logiegeschichtlichen Problematik gewinnen, werden folgende Tatbestände
berücksichtigt werden müssen:

1. Die Erschließung der Erbauungsliteratur des 16. und 17-
Jahrhunderts scheint sich im 19. Jahrhundert in zwei aufeinander
folgenden Wellen vollzogen zu haben. In dem ersten etwa um
18 30 einsetzenden Abschnitt haben die Neudrucke pietistischer
Werke weithin den Vorrang. Das 17. Jahrhundert ist stärker nur
durch die Namen Johann Arndt und Christian Scriver vertreten.
Der Frankfurter Verlag Heinrich Ludwig Brönner etwa bringt nach
1779 erstmalig wieder 18 32 eine Neuausgabc des „Wahren
Christentums" Arndts heraus, die sich gegen die rationalistische
Umarbeitung Arndts durch Sintenis (1780) wendet, gleichwohl
aber Arndts Werk „für jetzige Zeit lesbarer" machen will. Von
Scriver erscheinen „Gottholds zufällige Andachten" 6eit 1831
mehrfach neu. Eine Neuausgabe von C. Ch. F. Stockmayer (1842)
gibt hierfür die Begründung: „Sie enthalten ächtes Christentum
in lieblichem Gewände; 6ie erheitern ebenso, wie sie erbauen •
und rät deshalb: „überhaupt mit dem Buche zuerst gcmüthlio1
vertraut zu werden". Das Stimmungsmäßige 6teht also noch weithin
im Vordergrund: Erbauungsliteratur ist Schrifttum für das
christliche Gemüt.

Erst mit der zweiten Welle, die um 1848 beginnend in den
50er und 60er Jahren ihren Höhepunkt erreicht, ohne vor 1890
spürbar abzuebben, setzt jene erstaunliche Anzahl erbauungs-
literarischer Neudrucke ein, die zu den bemerkenswerten Lei'
stungen des letzten Jahrhunderts zählt. Das ist einmal das Verdienst
zahlreicher neuer Verlage, deren Geschichte einen eiger,cn
reizvollen Forschungsgegenstand bilden würde, zum andern aber
der Ertrag besonderer Vereinsgründungen, unter denen besonders
der „Evang. Bücher-Verein" (Berlin), der „Christliche Vcr-