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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

851-854

Autor/Hrsg.:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Stand und Aufgaben der Brenzforschung 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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furchtbaren Menschen (statt „misericordia" in Test. 1), wobei
Franz also die Rolle des Ischarioth, der Aussätzige die Rolle Jesu
spielen würde.

Das Gleiche läßt sich an der Aussätzigenüberlieferung des
Spec. perf. 58 nachweisen. Der Rahmen der Stelle ist ursprünglich
derselbe gewesen wie in I Cel. 17, nur daß hier die Gemeinschaft
mit dem Aussätzigen nicht durch den Judaskuß, sondern
durch das Judasmahl hergestellt wird: Franz ißt mit dem furchtbaren
Aussätzigen aus einer Schüssel (vgl. Mk 14, 20), Bruder
Petrus (angeblich Cathanii) und die anderen Jünger werden darüber
sehr traurig (vgl. Mk 14, 19), das Ganze wird durch eine
Wendung im Stile der johanneischen Passion (vgl. Joh 19, 35,
ebenso in Spec. perf. 221) als „historisch" beglaubigt.

Schließlich läßt sich noch eine dritte Legende aus dem
Zirkel der franziskanischen Bekehrungsgeschichte auf apokryphe
Judasmotive zurückführen: die berühmte Geschichte vom Priester
in San Damiano (I Cel. 8 f.). Diese Überlieferung ist eingebaut
in einen Rahmen, dem eine apokryphe Version der Parabel
vom „verlorenen Sohn" zugrundeliegen dürfte (Lk 15, 11 ff.
vgl. z. B. Clem. Alex. Quis div. 6alv. 42). Das Judasmotiv tritt
offen hervor: Franz verschleudert die Güter seines Vaters (in
Foligno) und versucht sodann verzweifelt, das erlöste Geld
irgendwie loszuwerden. Er findet den armen Priester in der
Kirche von San Damiano, der sich aber weigert, die Summe anzunehmen
, woraufhin Franz das Geld durch das Fenster (vgl.
dazu Spec. perf. 14!) in die Kirche wirft, wie Judas die 30 Silberlinge
in den Tempel. Übrigens wirft Franz nach der Variante
von II Cel. 8 das Geld in die Peterskirche in Rom.

Stellt man die festgestellten Judasmotive zueinander, so
gewahrt man, daß in ihnen nahezu die gesamte kirchlich bekannte
Judastradition versammelt ist. Das Beunruhigende daran ist
aber nicht die Tradition als solche, sondern ihre ausgesprochen
apokryphe, genauer: häretische Tendenz. In allen drei Stücken
liegt der Skopus auf der Tatsache, daß Franz als der „2. Christus
", eben um der 2. Christus zu 6ein, die Rolle des Judas
Ischarioth übernehmen muß, während der Aussätzige in Wahrheit
für Christus steht. Beide Gestalten sind amphibolisch.
Es erscheint hier bereits in der ältesten Überlieferung, wenn
auch von Thomas von Celano charakteristisch bearbeitet,
ein Franziskusbild von bisher unbekannter Abgründigkeit, ja
Unheimlichkeit. Die alte Frage Sabatiers, ob das schwere Zerwürfnis
des Franziskanerordens im 13. Jahrhundert bereits in
das Leben des Heiligen und seiner ältesten Genossen selbst hinaufdatiert
werden muß, ist auf neuer Basis neu zu stellen.

Im übrigen legt sich die Frage nach dem Woher jener häre-
tisch-amphibolischen Judas v1 Christusüberlieferung nahe. Zwei
Möglichkeiten ergeben sich für die weitere Nachforschung: einmal
die bisher (mit Rücksicht auf Franz selbst, vgl. z. B. Test.
2 f. 10) stets beiseite gestellte Frage nach einem Zusammenhang
der franziskanischen mit der gleichzeitigen Bewegung der
Katharer. Auf Frankreich weist der Name „Francesco", ferner
die seltsame Sehnsucht des Franz nach Frankreich (vgl. z. B.
Spec. perf. 65 = II Cel. 201; I Cel. 74; 120; II Cel. 50; 181 =
Spec. 34) und seine Vorliebe für die gallische Sprache (II Cel.
13; 127).

Zum andern ist natürlich nach der altchristlichen Herkunft
jener Judastradition zu fragen. Und diese kann, dem amphibo-
lischen Charakter der Erlöserfigur zufolge, nur in gnostischen
Kreisen zu suchen sein. Leider ist das entscheidende Dokument
hierfür, das gnostische Judasevangelium (vgl. fren. adv. haer.
I ,31, 1; Epiphan. haer. XXXVIII, 1,5; Theodoret, haer. fab.
comp. I, 15), verschollen. Neben einer Reihe neutestament-
licher, bzw. altkirchlicher Anhaltspunkte (vgl. z. B. Petrus/Judas
in Joh. 6,70; die „Ich bin-Worte" in Mt 26,25; Mk 14,62;
Lk 22, 58; 24,39; ferner die Gestalt des Ptolemäus/Flaccus in
der kopt. Prax. Petri = Acta Nerei et Achill. 1 5 und wieder die
des Petrus in Ps. Clem. Horn. III, 60 ff.; Stilistik nach Ag.

1, 16 ff.) ist vor allem auf die gnostischen Thomasakten hinzuweisen
, deren Held, der angebliche „Zwilling" Jesu (und damit

2. Christus), eben fast durchweg Judas heißt und der Ischarioth
ist (vgl. schon c. 2: Jesus verkauft diesen Judas um 30 Silberlinge
— syr. LA — hinterrücks an einen Fremden. Hier steht also
die apokryphe Vertauschbarkeit von Judas und Christus bereits
auf der ersten Seite!). Natürlich sind die Franz-Traditionen nicht
direkt von den Thomasakten abhängig, wohl aber scheint in den
Thomasakten (man vgl. auch die einschl. Stellen des Thomasev.
von Nagh Hamadi) die gleiche Judastradition verarbeitet, die
noch 1000 Jahre später die Franziskuslegenden gespeist haben
muß. Die festgestellten Motive kehren jedenfalls, wenn auch in
romanhafter Verkleidung, in den Thomasakten alle wieder: Bersten
des „Judas" nach Gifttrunk in Act. Thom. 30ff.; zum Gift-
trunk vgl. die Barsabaslegende b. Papias (Fragm. XI = Eus. h. e.
III, 39, 9), Barsabas heißt nach Ag. 15, 27 u. 32 wieder „Judas",
nach Act. Joh. 9 Johannes; zum Gestank des furchtbaren Ortes
vgl. Act. Thom. 51 ff., auch dort ist der Dämon mit dem Erlöser
direkt identisch (s. c. 57); zum Essenmüssen mit dem Scheusal
vgl. Act. Thom. 95 f., hier erscheint Mygdonia (in c. 98) als der
„Jüngling im Leinengewande" von Gethsemane (Mk. 14, 51 f.).
die analoge Szene bei Franz von Assisi findet sich in I Cel. 15;
das Motiv ißt verbreitet (vgl. z. B. Dionys, von Alex b. Eus. h. e.
VI, 40, 4ff.); das Verschleudern des Geldes an die Armen findet
sich in Act. Thom. 19 wieder, dort Thomas als Baumeister eines
imaginären Palastes; in I Cel 18 wird Franz als Baumeister, d. h.
Wiederhersteller von Kirchen symbolisiert.

Stand und Aufgaben

Von Friedrich Wilhelm K a n

(Kurzfi

I. Seit 60 Jahren wird die Forderung nach einer Brenzbiographie
erhoben. Die einzige bisher vorliegende Darstellung
von Hartmann-Jäger, 1840/42, hat zwar die damals erreichbaren
Quellen fleißig verwertet, ohne sie allerdings anzugeben. Nur
einige wichtige Dokumente druckten H. J. in den Anhängen ihres
Werkes ab. 1868 gab Th. Pressel seine Anecdota Brentiana heraus
, eine umfangreiche Sammlung bis dahin nicht gedruckter
Briefe und Bedenken (Nr. I—CCCXI). Auch die bereits gedruckten
Stücke verzeichnete Pr. mit arabischen Ziffern. Gleichzeitig
nahm er von allen abgedruckten oder nur verzeichneten Schriftstücken
Abschriften. Sein Nachlaß ist erhalten.

Die große, von G. Bossertsen. geforderte Brenz-Bibliographie
gab in mustergültiger Weise W. Köhler 1904. Durch das
vorzügliche Register erschließt sich die umfangreiche literarische
Produktion Brenzens. Köhler bringt 997 Nummern, 517 bis zu
Brenzens Tode. Dieses Hilfcmittel von unschätzbarer Bedeutung
ist Ausgangsposition der Brenzforschung, die seit 1899 (dem
Jubiläumsjahr) durch ca. 50 nennenswerte Beiträge bereichert
wurde, unter denen die Quelleneditionen die bedeutendsten sind.
Zuletzt gab E. Bizer in Bl. f. württ. KG. Analecta Brentiana aus
den Beständen des früheren Königsberger Archivs, die sich auf die

der Brenzforschung

tzenbach, Neuendcttclsau

issung)

osiandrischen Streitigkeiten beziehen, heraus. Es harren der Edition
bzw. Berücksichtigung:

a. Die von mir so genannte Nürnberger Handschrift, die
Verf. 1959 in der Nürnberger Stadtbibliothek fand. Sie enthält
wertvolle Stücke aus den Jahren 1 525 bis 1529, zumeist unveröffentlichte
(eine Beschreibung der Handschrift mit Identifikation
des ursprünglichen Besitzers und einer Aufstellung der
Stücke demnächst im Arch. f. Ref. Gesch.; die Auswertung der
Handschrift in der geplanten Brenzbiographie).

b. Handschrift des Kommentars des Joh. Brenz zur Apokalypse
in der Bayer. Staatsbibliothek München. Schreiber ist unbekannt
, Abfassungszeit dgl.; die Handschrift kam aus dem Nachlaß
des K. M. E. Frhr. v. Moll (1760-1833) an die Bibliothek.

c. Abschrift des in 34 Homilien gegliederten Danielkommentars
in der Handschrift des Kirchenbuchs Niederstetten b. Mer-
gentheim (zwischen 1564 und 1568 entstanden), bereits bekannt
wie b.

d. Kleinere Überreste in den Archiven bzw. Bibliotheken
Göttingen (in der Hand E. Bizers) und Schwäbisch Hall (Brcn-
tianasammlungen des Stadtarchivs nach Abschriften).