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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

849-852

Autor/Hrsg.:

Beyschlag, Karlmann

Titel/Untertitel:

Franz von Assisi und Judas Ischarioth 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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als dem ,,Marschall Vorwärts", kurz vor Baurs Tod, den Appell
an die Laien vorschlägt, ,,da die Theologen" „als eine massa
perditionis" „uns ja doch nicht verstehen wollen", ein Vorschlag
, den Strauß nach Baurs Tod dann 1864 selbst verwirklicht
hat: „Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet".

Wie an alten und neuen Zeugnissen gezeigt werden muß,
war Strauß spekulativer Dogmatiker; für ihn bereits ist, wie er
am 11. August 18 35 an Daub schrieb, die Kritik „die dialektische
Vermittlung, durch welche die biblische Vorstellung hindurch
muß, um zum Begriff zu werden; ich sehe kein Auferstehen
der Idee, wenn nicht die Historie zu Grunde geht" (vgl. Barni-
kol: „Das Leben Jesu der Heilsgeschichte" 1958, S. 98 f.).
In ähnlicher Weise äußert sich der Hegelianer und Begriffstheologe
Strauß in Briefen an seine Freunde Märklin und Binder,
an letzteren am Himmelfahrtstage 1832 in seinem typischen,
hier pseudobiblischen Stil: „Ich glaube fortwährend, daß das unerbittliche
Wegwerfen der Meinung von einer persönlichen Fortdauer
der Stein sein muß, an welchem wir unser und andrer unphilosophisches
triviales Bewußtsein zerschlagen und kreuzigen,
um im Begriffe auferstehen zu können."

Damit ist verbunden die bekannte Auffassung der Menschwerdung
Gottes bei Strauß in der Menschheit als Gattung, nicht
aber in einem Individuum, in dem die Idee nicht ihre ganze Fülle
ausschütte, sowie seine Ablehnung der realistischen Eschatologie,
die Jesus als „Schwärmer" kennzeichne.

Das alles ist das Hegelerbe bei Strauß, das ebenfalls bei
Baur zugrundeliegt, sozusagen als das Grunddogma.

Strauß ist Baurs Pionier, Konkurrent und Literat, der mit
Baurs Tod 1860 seinen geistigen Halt verlor.

Baur selbst ist sachlich mit der konzentrierten Deutung
seines geistesgeschichtlichen Lebenswerkes, d.h. in seinen meisten
neutestamentlichen Ergebnissen und z. T. auch in seiner Methode
, die größte wissenschaftliche Versuchung für Kirche und
Christentum im 19. Jahrhundert, geistig imposant und geheim
folgenschwer nachwirkend bis zur Gegenwart.

Entsprechend Hegels Wort: „Was der Geist tut, ist keine
Historie" erstrebt Baur in seiner Dogmengeschichte unter Ablehnung
Schleiermachers „die Verinnerlichung des Dogmas":
„Philosophie und Theologie sind miteinander versöhnt und wesentlich
eins geworden." Auch Baur ist Begriffs- und Ideen-
Theologe.

Die Verachtung aller Geschichte und damit auch der Heils-
Geschichte haben vor Baur Schelling 1803 und, ihm folgend,
Hegel 1807 geäußert, die beide den „dürftigen Inhalt der ersten
Religionsbücher" bzw. „die geistlose Erinnerung einer einzelnen
gemeinten Gestalt" ablehnen, anders als Schleiermacher.

Die schärfste und vergleichende Kritik hat Baur im Hegel-
Lager durch Strauß erfahren, in dessen bisher unbekanntem Heil-
bronner Brief vom 17. November 1846, in dem Strauß seine als
negativ bezeichneten Resultate gegenüber den ebenso negativen,
Wenngleich entstchungs- oder formgeschichtlich reicheren Ergebnissen
Baurs hinsichtlich der legendären Erzählungen mit dramatischen
Worten verteidigt und auf den „richtigen Instinkt" des
„Zionswächters" verweist: „Eine saubere Position das, wird der
Wächter rufen; der Eine sagt: e6 ist nicht wahr, der Andere sagt:
es ist gelogen und ich weiß den namhaft zu machen, der es erlogen
hat: fort mit beiden ins gleiche Loch!" —

Der dritte Teil des Vortrages behandelte sodann in großen
Zügen Baurs Nachwirkungen im 19. Jahrhundert nach der Analyse
der Typen, Größen und Gefahren in der Dogmengeschichtswissenschaft
des 19. Jahrhunderts. Marheineke repräsentiert die
hegelsche Orthodoxie, Noack die radikalste Strömung; auch bei
Friedrich Karl Meier (1840) und bei Friedrich Nitzsch (1870) ist
Baurs Einfluß unverkennbar. Dagegen ist Neander in seiner
1857 herausgegebenen Dogmengeschichte gegen Hegels und Baurs
Begriffsvergötterung, d. h. gegen „die einseitig spekulative" und
„aprioristische" Auffassung der Dogmengeschichte. Erstaunlich
ist Baurs dogmengeschichtliche Einwirkung auf das kenotische
Neuluthertum, zumal in Erlangen, bei Heinrich Schmid (1860),
bei Theodor Kliefoths „Einleitung in die Dogmengesichte"
(1 839) und vor allem in dem maßgebenden Werk von Gottfried
Thomasius „Die Dogmengeschichte der alten Kirche" (1874), der
Baur „dankbar benützte", dann freilich gemäß dem Untertitel
„Die christliche Dogmengeschichte als Entwicklungs-Geschichte
des kirchlichen Lehrbegriffs dargestellt" hat. Ihnen folgte Reinhold
Seeberg seit 1895 mit 6einem elastischen Dogmenbegriff und
mit seinem parallelkatholischen „evangelium quadraginta die-
rum". Selbst Harnack, der mit seiner bekannten These und bahnbrechenden
Dogmengeschichte seit 1886 Baur überwinden wollte,
hat sich Baurs Einfluß nicht entziehen können: „Auch für ihn
fällt Theologie und Kirchengeschichte zusammen. Auch für ihn
gibt es im Grunde keine Dogmatik und keine Christologie",
was bereits E. Troeltsch 1921 in seinem geistvollen Vergleich
beider betont hat.

Von allen Bearbeitern der Dogmengeschichte im 19. Jahrhundert
ist Friedrich Loofs, Harnacks selbständig gewordener
Schüler, seit 18 89 trotz seines fragmentarischen Anfangs, wenn
er, wie Baur, eigentlich erst bei der nachapostolischen Zeit einsetzen
will, der evangelischen Aufgabe der Dogmengeschichtswissenschaft
am nächsten gekommen.

Endlich 6ind zum Abschluß noch zwei spekulative Systematiker
aus dem schwäbischen Geisterreich zu nennen, die beiden
Dorner, Vater und Sohn: Isaak August Dorner (1809—1884)
suchte in seinen dogmengeschichtlichen Werken nach Mulerts zutreffendem
Urteil „mit Schelling - Hegeischen philosophischen
Gedanken das altkirchliche Dogma neu zu begründen". Sein Sohn
August Dorner (1846—1920) hat 1899 bei Anerkennung des
„bedeutenden Fortschritts" durch Baur in seinem „Grundriß der
Dogmengeschichte" gemäß dem Untertitel die „Entwicklungsgeschichte
der christlichen Lehrbildungen" zu geben versucht.

Abschließend behandelte der Vortrag die neueren Versuche
der Würdigung Baurs bei Kantzenbach 1959 und bei Bultmann
1950, ließ dann Wellhausen zu Wort kommen, würdigte vor
allem den Bibeltheologen Heinrich Ewald als den Gegner der
Hegelianer und den Kritiker des im Grunde unbiblischen, zumal
nicht urchristlichen, sondern heidnisch-hellenistischen Mythos,
der „in Angelegenheiten der wahren Religion nie gebraucht werden
sollte" (l 849), und versuchte zusammenfassend eine kritische
Würdigung Baurs vom Urchristentum und von der Reformation
her, um von daher die dogmengeschichtliche Einzelarbeit
und damit beginnende theologische Gesamtarbeit für die doppelte
Aufgabe der evangelischen Theologie zu begründen: dem
Evangelium und der Gemeinde zu dienen.

Franz von Assisi und Judas Ischarioth

Von Karlmann Beyschlag, Göttingen
(Kurzfassung)

Das Referat befaßte sich mit einigen Motiven der Vita | nachweisen läßt, ursprünglich im Rahmen von I Cel. 3, d.h ganz

am Anfang gestanden hat. Erst Thomas hat sie an den Schluß
versetzt. Dabei fallen in I Cel. 17 in Abweichung von Test. 1
zwei Motive heraus, die als Bestandteile einer apokryphen Judasüberlieferung
angesprochen werden müssen: 1) Daß Franz sich
die Nase mit den Händen zuhielt, wenn er die Leprosenorte von
fern erblickte (Nichtsehenkönnen und Nichtriechenkönnen stehen
gegeneinander); als Judasmotiv nachweisbar bei Papias von
Hierapolis (Fragm. III; vgl. z.B. auch Theodoret, h. e. I, 14:
Arius/Judas); 2) das Herzulaufen des Franz und der Kuß des

Francisci, die an Judas Ischarioth erinnern, und zwar ausgehend
von den Unterschieden in der Bekehrungsgeschichte zwischen
dem Testament des Heiligen (1226) und der Vita I des Thomas
von Celano (1228).

Nach Test. 1 beginnt die Bekehrung des Franz damit, daß
-der Herr" ihn persönlich unter die Aussätzigen führte und
Franz „Barmherzigkeit an ihnen tat". Dem entspricht bei Thomas
nur die Aussätzigenbcgegnung in I Cel. 17 am Ende der
Bekehrungsgeschichte, die aber, wie sich aus dem Zusammenhang