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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

847-850

Autor/Hrsg.:

Barnikol, Ernst

Titel/Untertitel:

Das dogmengeschichtliche Erbe Hegels bei und seit Strauß und Baur im 19. Jahrhundert 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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besonders gegen die Kreise der Gemeinde vor, die schon durch
ihr totales Vertrauen auf die Tatsache des Geistes allein sich auf
diese Kundgabe des göttlichen Willens verließen und damit die
Grenze des Judentums überschritten und die Grundlage des
israelitischen Gottesverhältnisses verachteten: das Gesetz. Wenn
die Urchristenheit dem Paulus eine wirkliche Frage aufgab, dann
war es die nach dem Verhältnis des nvEVfxa zum vöjuog. Wie
verhält sich der Geist, auf den sich die Christen berufen, der sie
in ihrem Verhalten leitet, nach dem sie auch die Stunde im Gang
der letzten Dinge bestimmen, zum Gesetz, der immer geltenden,
präexistenten Urkunde des göttlichen Willens? Wie sehr sich die
Gedanken des Paulus um dieses Problem drehten, zeigt ja etwa
noch Rom. 8, 1 — 11 in aller Deutlichkeit. Dort ist er nicht durch
die Polemik bestimmt, sondern behandelt gerade die ihm wesentlichen
Fragen. Aber auch Gal. 3, 1—6 muß hier genannt werden.

Paulus konnte nur Christ werden, wenn sich ihm dieses Verhältnis
von nvevfia und vö/uog klärte. Es war ihm doch selbstverständlich
, daß Gott seine Verheißungen und Setzungen nicht
einfach überging (vgl. Rom. 9 — 11). Doch es erhebt sich nun die
Frage, was das Verhältnis jivevfia — vojuog mit unserer Frage
nach dem Zusammenhang von jtvsvfia und xvgiog zu tun hat.
Unser Problem scheint mir nur auf der Grundlage dieser für
Paulus fundamentalen Auseinandersetzung verständlich zu sein.

IV.

Angesichts der Bedeutung, die das Pneuma für Paulus in
seinem Leben und in seiner theologischen Argumentation hat,
kann die Bekehrung des Paulus zunächst einmal nichts anderes
gewesen sein, als daß auch er vom Pneuma erfaßt wurde. Vielleicht
haben wir einen Hinweis darauf, wenn er Gal. 1, 16 sagt,
er habe sich nicht an Fleisch und Blut gewandt, er habe sich auch
nicht erst um andre Autoritäten gekümmert, sondern Gottes
Willen direkt und unmittelbar erkannt.

Aber diese Bekehrung ist ja für Paulus verbunden mit einer
Erscheinung des Auferstandenen, die er so versteht, daß Gott in
ihm seinen Sohn offenbart habe15. Diese Erscheinung muß ihm
m. E. zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Pneuma und
Nomo6 gelöst haben. Er erkennt, daß der Geist nicht nur
ev&ovoiaafiög ist, sondern der Geist, der Jesus von den Toten
auferweckt hat (Rom. 8, 11). Der Geist, der auf den Christen
kommt, an dem er sich dann in seinem Handeln orientiert, der
ihm Aufschluß über Gottes Willen und Gottes Zukunft gibt, ist
nicht zu trennen von der Geschichte Jesu. Paulus mußte diese Ge-

15) Gal. 1,15 f.

schichte wenigstens in ihrer kerygmatischen Reduktion gekannt
haben, um die Stunde seiner Bekehrung unter dem Pneuma zugleich
als Offenbarung des erhöhten Jesus zu erfassen.

Damit wird aber klar, daß der Geist für Paulus eine besondere
Struktur hat. Er ist nicht geschichtslos, sondern bringt gerade
eine Geschichte zur Ankunft. Diese Geschichte aber ist die Lösung
des Verhältnisses nvevfia — vöfxoQ. Von hier aus wird
verständlich, was Paulus allein an der Geschichte Jesu interessierte
, was das „System" war, an dem er sein Verhältnis zur
Jesus-Tradition orientierte10. Jesus ist von einer Frau geboren
und unter das Gesetz getan, damit er die dem Gesetz Unterworfenen
freikauft. Er ist aus dem Samen Davids. Er war gehorsam
bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz17. Eben deshalb
hat ihn Gott erhöht, eben deshalb aber auch, so muß man jetzt
weiter folgern, konnte er Paulus im Zusammenhang mit der Gabe
des Geistes erscheinen. Damit ist alles gesagt, was das Gesetz an
Fragen an den Geist aufgeben kann. Der Geist reißt nicht einfach
über die heilsgeschichtlichen Gegebenheiten hinweg, er mißachtet
nicht den im Gesetz niedergelegten Willen, sondern er
bringt gerade die Geschichte, in der sowohl das heilsgeschichtliche
als auch das konkret den Menschen beanspruchende Ziel des
Gesetzes erfüllt wurden. Der Geist, der den Menschen erfaßt, ist
auch immer der Geist Jesu, der das Gesetz erfüllt hat. Das unmittelbare
Verhältnis zu Gott ist möglich durch den Geist dessen,
der unter dem Gesetze war. Deshalb kann Paulus nun auch
sagen: Ihr seid gerechtfertigt in dem Namen des Herrn Jesus
Christus und in dem Geiste unseres Gottes (1. Kor. 6, 11).

Von dieser ihm gewordenen Einsicht in die Zusammenhänge
von Geist und Geschichte Jesu als Erfüllung und Bewahrung des
Gesetzes und der heilsgeschichtlichen Kontinuität her konnte
Paulus nun zeigen, wie das Leben im Geist das Gesetz hinter
sich läßt, aber auf keinen Fall hinter dem Gesetz zurückbleiben
kann. Von dieser Bindung aus konnte er auch in der Auseinandersetzung
mit Gnosis und Nomismus die tragende Grundlage
seines Glaubens zur Geltung bringen, von der aus er einer Ent-
geschichtlichung des Geistes ebenso zu wehren vermochte, wie
er einen Rückfall in die Gesetzlichkeit zurückweisen konnte.

Es ist zu fragen, ob nicht das Verhältnis von Kyrios und
Pneuma auch da, wo beide Begriffe geradezu austauschbar sind
(vgl. Rom. 8!), zuerst unter diesem Gesichtswinkel gesehen werden
muß. Es könnte damit deutlich werden, warum und in welcher
Weise im Glauben an den erhöhten Herrn auch bei Paulus die
Geschichte Jesu gegenwärtig ist.

le) A. Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung, S. 191.
17) Gal. 4, 4 f.; Rom. 1,3; Phil. 2,8.

KIRCHENGESCHICHTLICHE SEKTION

(Leitung: W. E 11 i g e r/Berlin und K. D. S c h m i d t/Hamburg)

Das dogmengeschichtliche Erbe Hegels bei und seit Strauß und Baur im 19. Jahrhundert

Von Ernst B a r n i k o 1, Halle/Saale

(Kurzfassung)

Da Ferdinand Christian Baur vor 100 Jahren am 2. Dezember
1860 in Tübingen starb, lag es nahe, ihn und sein geistig
imponierendes Lebenswerk, zumal in dogmengeschichtlicher Hinsicht
, auf Grund neuer, überraschender Briefzeugnisse zu beleuchten
und seine Nachwirkung in verschiedenartigen Lagern der
Theologie de6 19. Jahrhunderts zu betonen.

Ausgehend von der weitgehenden Zusammengehörigkeit
der drei Imperatoren des kritischen Geistes, Hegel, Schleiermacher
und Baur, und von der gründlichen, 1954 in Jena erschienenen
Monographie von Eberhard Pältz über „F. C. Baurs Verhältnis
zu Schleiermacher", wurden zunächst die fünf großen persönlichen
Enttäuschungen Baurs dargestellt, an Bruno Bauer, der in seinem
Brief vom 30. Januar 1836 als Rechtshegelianer um Baur als
den kommenden Führer der Ideentheologie mit bemerkenswerten
Worten warb; an Eduard Z e 11 e r, der als Berner Theologieprofessor
in Marburg 1849 Philosoph wurde und blieb; an David
Friedrich Strauß, der 1835 weder Repetent bleiben konnte,
noch trotz seiner Züricher Berufung Januar 1839 jemals amtierender
Professor war und Literat blieb; an Albrecht RitschK
der 1845 in Tübingen Baurs gründlichster theologischer Schüler
und seine große Hoffnung wurde, dann aber sich theologisch anders
entwickelte und 18 56 die Tübinger Schule „zerfallen" und
Baurs „vollständige Isolierung" sah, so daß es auch persönlich
mit Baur zum Bruch kam; und endlich an Heinrich Ewald, der,
wie sein Brief an Baur vom 22. September 1844 erstaunlicherweise
zeigt, in enger gesamttheologischer Verbundenheit mit
seinem Freunde Baur wider unwissenschaftliche Reaktion
kämpfte, um dann, nach Göttingen 1848 zurückgekehrt, Baurs
erbittertster, aber biblisch sachkundigster Gegner zu werden.

Dafür wurde Baur z. T. durch die geheime Bundesgenossenschaft
mit Strauß literarisch entschädigt. Das zeigen zwei bisher
unbekannte Briefe, der Baurs an Strauß vom 10. April 1837.
worin er dessen erste Streitschrift, gegen Baurs Kollegen Stcude'-
als „ein unvergleichliches Meisterstück einer vernichtenden Pde'
mik" völlig — „Fahren Sie nur so fort!" — gutheißt, sowie deT
Brief von Strauß an Baur vom 5. September 1860, worin er ihn*