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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

823-828

Autor/Hrsg.:

Hempel, Johannes

Titel/Untertitel:

Faktum und Gesetz im alttestamentlichen Geschichtsdenken 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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— jedenfalls in vorexilischer Zeit — keine entsprechende Stellung
im Credo Israels erlangt. Selbst Jos. 24, 2 ff. als vermutlich älteste
bekenntnishafte Bezeugung der Vätertraditionen außerhalb des
Pentateuch gebraucht die Uberlieferungen von den Erzvätern nur
als kurze Einleitung zur eigentlichen Erwählungsgeschichte, die
in Ägypten beginnt.

3. Sind die Vätertraditionen gegenüber den in Geschichte
und Glauben fest verwurzelten religionsbegründenden Ägypten-
und Auszugstraditionen sekundären Charakters, 60 entspricht
dem auch die Tendenz, in der die Eingliederung der Väterüberlieferungen
in die Erwählungsgeschichte Israels geschieht: Es geht
um die genealogische Verwurzelung des Glaubens, um die Identifizierung
der Vätergötter mit Jahwe (Ex. 3) und um die Legitimation
des Anspruchs auf das Land gegenüber den kanaanäischen
Vorbewohnern. Deshalb wird besonderer Wert gelegt auf Begründungslegenden
von Heiligtümern (Beerseba, Bethel, Hebron,
Sichern), die beweisen, daß Israels Rechte auf diese Stätten älter
sind als die der Kanaanäer. Theologisch aber bedeuten die Väter-
traditionen eine gegenüber der Ägypten- und Auszugstradition
wesentliche Ausdehnung der Herrschaft Jahwes, nicht nur in geschichtlicher
, sondern nun auch in geographischer Hinsicht: Jahwe
ist bereits vor Israels Landnahme Herr Kanaans und 6einer
Geschichte.

4. Entsprechende Tendenzen dürften wirksam gewesen 6ein
bei der Aufnahme der Überlieferungen der Urgeschichte (Gen.
2—11) in den Pentateuch. Hier wird die im Vergleich zur
Ägypten- und Auszugstradition sehr viel spätere Einbeziehung in
die für Israels Glauben wichtigen Überlieferungen 6chon dadurch
noch deutlicher als bei den Erzvätertraditionen, daß die elo-
histische Pentateuchredaktion auf die Urgeschichtserzählungen
offenbar ohne weiteres verzichten konnte. Überlieferungen aus
dem Bereich der Urgeschichte können also nicht zu den religionsbegründenden
Traditionen Israels gehört haben.

5. Suchen die Erzvätertraditionen die Erwählung und Landnahme
Israels in seiner Vorgeschichte zu verankern, so geht es
bei den Erzählungen der Urgeschichte um eine noch weitergreifende
Ausdehnung der Herrschaft Jahwes, der nun auch die allgemeine
Menschheitsgeschichte untergeordnet wird. Die Beziehung
auf das eigentliche Thema der geschichtlichen Pentateuch-
überlieferungen — die Erwählung Israels — ist aber auch hier gesichert
durch das starke genealogische Gerüst, das die Urgeschichtskapitel
mit den folgenden Traditionen der Vorgeschichte und
Geschichte Israels verbindet. Inhaltlich bietet die Urgeschichte
im wesentlichen Themen der Weisheitsliteratur, wie sie im Altertum
des Vorderen Orients vornehmlich in Schreiberschulen gepflegt
wurden. Vielleicht liegt auch hier ihr ursprünglicher ,Sitz
im Leben'. Dazu würde auch gut die Beobachtung stimmen, daß
gerade die Erzählungen der Urgeschichte — zumindest hinsichtlich
ihrer Motive — durchweg mesopotamischer oder nordsyrischer
Import sind.

6. Ähnlich verhält es sich mit den der Urgeschichte noch
vorangestellten Schöpfungsberichten. Auch sie entstammen einer
Fragestellung, die in erster Linie auf Vermehrung des Wissens
aus ist und stehen darin der Weisheitsliteratur nahe. Sicher ist
jedenfalls, daß die Schöpfungsvorstellung für den Glauben Israels
in vorexilischer Zeit geringe Bedeutung hat. Um so mehr fällt

das verstärkte Auftreten des Schöpfungsgedankens in exilischer
und nachexilischer Zeit auf, das — wenn es auch mit den Erfahrungen
des Exils zusammenhängt — jedoch nicht einfach auf eine
Übernahme babylonischer Schöpfungsvorstellungen zurückgeführt
werden kann. Dagegen und für das Vorhandensein von Schöpfungsvorstellungen
bereits im vorexilischen Israel spricht die Existenz
des Jahwistischen Schöpfungsberichtes' und entsprechender Zeugnisse
, deren vorexilisches Alter gesichert ist (Ps. 19, 2 ff.; I. Reg.
8,12; vielleicht Gen. 14,11.22; Am. 4, 13; 5, 8; 9, 6; ferner
Pss. 24A, 89, 104, 139). Außerdem ist zu bedenken, daß Schöpfungsmythen
Israel in Kanaan nicht unbekannt bleiben konnten.
Wie Jahwe bald die Funktionen des kanaanäischen Fruchtbarkeitsgottes
Baal übernimmt, so muß es auch mit den Funktionen des
Schöpfergottes El geschehen sein.

7. Die Übertragung der Funktionen Baals auf Jahwe vollzieht
sich ohne die Übernahme der mythologischen Rolle des
kanaanäischen Gottes. Jahwe wird Spender der Fruchtbarkeit des
Kulturlandes, aber nicht sterbender und auferstehender Vegetationsgott
. Entsprechend verhält es sich mit der Beziehung von
Schöpfungsvorstellungen auf Jahwe. In letzter Ausweitung seiner
Herrscher6tellung wird Jahwe auch als Schöpfergott erkannt.
Aber dies geschieht allem Anschein nach in Antithese zu El und
ohne daß zugleich der ganze Komplex kosmogonischer Vorstellungen
in Israels Glauben Eingang fand. Dies wäre auch kaum
möglich gewesen, da die kosmogonischen Vorstellungen im
Altertum des Vorderen Orients eng verbunden sind mit der Theo-
gonie, die im Jahweglauben schlechterdings nicht untergebracht
werden konnte.

8. Das bestätigen gerade auch die wenigen sicheren Aussagen
aus vorexilischer Zeit über Israels Schöpfungsglauben.
Hinter ihnen steht keine ausgebildete Kosmogonie. Jahwe wird
nur als der Herr auch kosmischer Größen und Vorgänge erkannt.
Es kommt auf die Verfügungsgewalt an, und die steht allein
Jahwe zu.

Auch die passive Ausdrucksweisc von Ps. 90,2 deutet vielleicht
noch auf diese für die ältere Zeit charakteristische Schöpfungsauffassung
Israels hin: Entscheidend ist, daß Jahwe gegenwärtig die absolute
Gewalt über Himmel und Erde hat und nicht ein kanaanäisches Pantheon
. Jahwe wird Herr der Schöpfung genannt, ohne daß dabei die
eigentliche Schöpfertätigkeit beschrieben oder auch nur erwähnt wird.
Bezeichnend für diese Auffassung ist der Titel y"1NH ^tlbt*! D^aiÜn Tibi*
in Gen. 24, 3. Audi bei jenen Belegen, die nähere Mitteilung über
den Vorgang des Schöpferhandelns machen, wird im wesentlichen nur
die nächste Erlebnissphäre des Menschen erfaßt. Besonders zeigt sich
dies in der Perikope Gen. 2, 4b ff., die besser nicht als Schöpfungsbericht
in Parallele zu Gen. 1, 1 ff. bezeichnet werden sollte; denn was
geschildert wird, ist lediglich die Erschaffung des Lebens. Die großen
kosmischen Gegebenheiten interessieren nicht.

9. Wie die Erzväter- und Urgeschichtserzählungen stehen
also auch die Schöpfungsaussagen des Alten Testaments in vorexilischer
Zeit im Schatten der Ägypten- und Auszugstraditionen
als der unaufgebbaren geschichtlichen Glaubensbegründung, als
Anfang und Zentrum des Credo. Auch sie erhalten ihren Wert
für Israels Glauben erst dadurch, daß es der in der Geschichte
Israels sich offenbarende Gott Jahwe ist, der im Zuge der allmählichen
Erweiterung der israelitischen Gotteserfahrung auch als
der allmächtige Herr der Schöpfung erkannt wird.

Faktum und Gesetz im alttestamentlichen Geschichtsdenken

Von Johannes Hempel, Göttingen

(Kurzfassung)

Darüber, daß die erzählenden Stücke des AT — gewiß in
verschiedenem Maße — ein von dem tatsächlichen Geschehen abweichendes
, von bestimmten Glaubensvoraussetzungen her gestaltetes
Bild zeichnen, herrscht grundsätzlich zwischen den radikalsten
und den konservativsten Forschern Übereinstimmung.
Es bedeutet einen graduellen und keinen absoluten Gegensatz, ob
man „manches Element" des „biblischen Berichtes abgetragen",
„nicht ohne weiteres verwertbar" 6ein läßt und bereit ist, sich

') (Ausführlicher handle ich über das gleiche Thema in dem demnächst
erscheinenden Alleman-Memorial Volume; die wissenschaftliche
Einzelbegründung gebe ich in den Nachrichten der Göttinger
Akademie der Wissenschaften.)

„fürs nächste" damit abzufinden, daß das Bild der modernen kritischen
Wissenschaft von dem des Erzählers abweicht, oder ob
man hart formuliert, das „Bild vom Ablauf der Frühgeschichte'
in der Genesis sei „absolut unrichtig" und das Bild von dem
Heilshandeln Gottes im AT existiere „nur in der Vorstellung der
alttestamentlichen Zeugen", habe „sich aber niemals vollzogen"-
Auch die Berufung auf die „bekenntnishafte Qualität" des AT
als „ausgerufener Geschichte" im Gegensatz zu einer „unverbindlichen
, lediglich die geschichtliche Neugier befriedigenden
oder einer nationalen Eitelkeit entsprungenen Sclbstdarstellung
darf die Tatsache nicht verschleiern, daß für die „gläubige Erwägung
" das, was sie erwägt, factum factum ist, wie ja auch i"1