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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

815-822

Autor/Hrsg.:

Rosenkranz, Gerhard

Titel/Untertitel:

Upâyakauśalya (Geschickte Anwendung der Mittel) als Methode buddhistischer Ausbreitung 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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stellen wollte — der anthropologische Systematiker Ebrard überwand
den Historiker Ebrard. Der Ossian ist nicht „echt" in
historischem Sinne, wohl aber eine bewegende poetische Anthropologie
Macphersons am keltischen Substrat, die ihre eigene
Geschichte gesetzt und erzeugt hat. Auch der Culdeer als Antipode
Ossians ist so nicht „historisch", wohl aber ebenfalls eine
bewegende, nun theologische Anthropologie am keltischen Substrat
. Und wie der Os6ian eine eindrückliche Analyse des Menschen
darstellt, der im existentialen Mythos unausweichlich
scheitert und sich tragisch in die gottleere „Natur" hinein auflöst
"', so ist der „Culdeer" (der „Knecht Gottes")74 Ebrards im
Grunde eine anthropologische Verkündigung und Verheißung.

73) „Alle Menschenzeichnung der Ossianischen Epen löst sich in
zahlreiche Züge der Natur auf..." — „Immer wieder schreien die
Menschen Ossians ihr Leid, ihren Schmerz, ihr Sehnen in die düstere
Natur, und nichts antwortet ihnen aus der metaphysisch leeren Nacht,
als ihre eigene Not, ihre eigene Stimme, das Echo, „des Felsens Sohn".
Das an Echo reichste Epos der Weltliteratur sind die Ossianischen Gesänge
, weil sie das an Gott und Göttern ärmste sind". H. Sdiöffler
a. a. O. 140, 147.

74) Die Deutung ist bis heute umstritten.

Upäyakausalya

(Geschickte Anwendung der Mittel)

als Methode buddhistischer Ausbreitung

Von Gerhard Rosenkranz, Tübingen

Im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte in Südindien der Brahmanen- | Im Mahäyäna kam mit der Lehre der Erkenntnisvollkommensohn
Nägärjuna, der Begründer der Mittleren Lehre (Mädhya- I heit (Prajnä-päramita; Chi-hui; Chie) die Vorstellung von einer

mikaväda; Chung-chiao; Chükyö)1. Man hat ihn nicht zu Un
recht den „Vater des Mahäyäna (Ta-ch'eng; Daijö)" genannt.
Mit einer Ausnahme, der Sekte der Trägermerkmale (Dharma-
laksana; Fa-hsiang; Hossö) führen alle Schulen des Mahäyäna
ihre Lehren auf ihn zurück. Einer seiner Schüler war Äryadeva.
In seiner „Abhandlung in 400 Strophen" (Catuhsataka; Chuang-
pai-lun; Köhyakuron) finden sich folgende Verse:

„Die Liebe zur Religion wird von den Tathägatas für diejenigen ge

Doppelten Wahrheit auf. Es gibt eine Höchste Wahrheit
(Paramärthasatya; Chen-ti; Shintai), die in der Erkenntnis der
Leerheit aller Wesen und Dinge besteht: Alles ist gleicherweise
leer. Diese Erkenntnis ist nur wenigen beschieden. Für die Menge
der Gewöhnlichen Menschen ist die Allgemeine Wahrheit
(Samvrtisatya; Sü-ti; Zokutai) da, die mit der Verschiedenheit
der Wesen und Dinge rechnet. Wa6 andere Religionen und Philosophien
verkünden, auch was das Hinayäna (Hsiao-ch'eng;

lehrt, welche nach dem Himmel verlangen; hingegen wird für die- j Shojö) lehrt, gehört in das Reich der Allgemeinen oder Niederen

jenigen, welche Erlösung suchen, die höchste Wahrheit gelehrt.

Wer religiöses Verdienst zu erwerben wünscht, kann nicht immer
von Leerheit reden! Wird nicht eine unrichtig angewendete Medizin
zu Gift?

Wahrheit.

Für Nägärjuna sind alle buddhistischen Lehren Fiktion. Aber
da sie nicht zu entbehren sind, stellte auch er sich auf den Weg
der Doppelten Wahrheit. In seiner „Abhandlung über die Mitte
r.1!. ™°_^t^:ir_r™_ein.e- J^l j J-fLV-fiVw!? (Madhyamaka-Sästra; Chunglun; Chüron)" heißt es:

„Die Buddhas, von zwei Wahrheiten abhängend, lehren den lebenden
We6en die Lehre; die eine (ist die) Wahrheit des weltlichen Umgangs
, die andere ist die Wahrheit des höchsten Sinnes .. . Wenn ein
Mensch die zwei Wahrheiten nicht, wie tatsächlich, unterscheiden kann,
dann versteht er die äußerst tiefe Buddha-Lehre nicht in ihrer tatsächlichen
Bedeutung7."

Ergänzend lesen wir in Nägärjunas „Abhandlung über die
Erkenntnisvollkommenheit (Prajnäpäramita-Sästra; Chih-lun;
Chiron)", daß auch er die Höchste Wahrheit in der Erkenntnis

Spradie verständlich machen kann, so kann man den gewöhnlichen Men
sehen nichts ohne den Gebrauch der gewöhnlichen Sprache verständlich
machen2."

Es ist uns um die beiden Ausdrücke „Gewöhnliche Menschen
(Prthagjana; Fan-fu; Bombu)" und „Gewöhnliche Sprache
" zu tun. Bereits im Brahmanismus, also vor und zu der Zeit
des Buddha, war von „Gewöhnlichen Menschen" die Rede. In der
Katha-Upanisad heißt es von ihnen: „Wer. . . der inneren Ruhe
und Sammlung ermangelt und im Herzen nicht die Ruhe findet

der kann nicht auf dem Erkenntniswege ihn (den absoluten der Gleichheit aller Wesen und Dinge sieht, während die All-

Ätman) erlangen3." Der Weise allein erlangt den Atman, d. h.
der Ätman selbst erwählt sich ihn4. Der Vedänta unterscheidet
noch grundsätzlicher zwischen zweierlei Wissen:

„Zwei Wissenschaften muß man kennen, das ist die Behauptung
der Brahmankundigen: die höhere und die niedere. Und zwar ist die
niedere der Rigveda, Yajurveda, Sämaveda, Atharvaveda, Phonetik,
Ritual, Grammatik, Etymologie, Metrik, Astronomie, aber die höhere
die, durch welche das Ewige erkannt wird, das Unsichtbare, Unfaßbare
, ohne Ursprung, ohne Farbe, ohne Auge und Ohr, ohne Hände
und Füße, das Bleibende, Ausgedehnte, Allgegenwärtige, ganz Feine
(atomartige), jenes Unvergängliche, das die Weisen als den Mutterschoß
aller Dinge betrachten5."

Somit ist der Vedäntist in der Lage, sich im Bereich der
„niederen Wissenschaft" mit der Erscheinungswelt zu beschäftigen
. Wa6 er dort treibt, hält ihn in Verbindung mit den Fortschritten
des weltlichen Lebens. Aber in keiner Weise werden
sein eigentliches Wesen und seine eigentliche Berufung davon
berührt. Sie sind Gegenstand der „höheren Wissenschaft", der
Parä-Vidyä, des Vollkommenen Wissens um das „Eine ohne ein
Zweites"", das allen Wesen innewohnt und als unwandelbare
Wirklichkeit allen Erscheinungen zugrunde liegt.

*) Die in Klammern gesetzten Wörter sind der Reihe nach die Sanskrit
-, chinesischen und japanischen Bezeichnungen der im Text in deutscher
Übersetzung gegebenen Begriffe und Titel.

2) Verse 192—194 (nach A. Bertholet, Religionsgeschichtliches Lesebuch
, Tübingen 2. Aufl. 1926 ff. — im Folgenden abgekürzt: RL —),
Heft 15, S. 69.

3) II. 24 (RL 9, S. 162).

*) Ebd.

6) Mundaka-Upanisad 1,4 (RL 9, S. 134).
•) Chä'ndogyopanisad 6,2 (RL 9, S. 135).

gemeine Wahrheit in der Feststellung des Gegensätzlichen
steckenbleibt und in dieser Gebundenheit von der Erleuchtung
des Buddha redet. Wie aber könnte es einen Buddha und seine
Erleuchtung geben, so wehrt er ab. Es gibt nur die Gleichheit der
Erscheinungen, und die ist der Buddha; er kann sie also nicht
verwirklichen. Auch die Unterscheidung zwischen Gewöhnlichen

Menschen und Heiligen (Arya; Sheng; Shö) gehört in den Bereich
der Allgemeinen Wahrheit. Für die Höchste Wahrheit sind alle
gleich: der Gewöhnliche Mensch, der In-den-Strom-Eingegangcnc
(Srotaäpanna; Ssu-t'o-yüan; Sudaon) und der Buddha.

Die Unterscheidung zwischen der Menge der Gewöhnlichen
Menschen und den wenigen Heiligen ist zu einer Grundposition
des Mahäyäna geworden. Sie betont im Blick auf die Heilserlangung
den Gegensatz zwischen beiden Gruppen, hält aber
zugleich am Wissen um die übergegensätzliche Sohcit (Tathatä;
Che-yu; Shinnyo) fest, in der alle Wesen und Dinge wesensgleich
sind. Eine Variante bietet die Schule der Trägermcrkmale,
die sich, wie erwähnt, nicht auf Nägärjuna beruft. Als „absolute
Geistsubstanz" ist das Speicherbewußtsein (Alayavijfiäna; A-lai-
ya-shih; Aryashiki), das sie lehrt, die Sohcit aller Wesen und
Dinge und damit die Höchste Wirklichkeit. Es ruht nicht in seiner
Absolutheit, in der Einzigkeit seines Seins, sondern läßt die
Erscheinungen aus sich heraustreten und nimmt sie wieder in sich
zurück. Diese „Geistsubstanz" hat nach der „Abhandlung über
das Erwachen des Mahäyäna-Glaubens (Mahäyänasradotthpäda-
Sästra; Ta-ch'cng-ch'i-hsin-Iun; Daijökishiron)" des um 400
n. Chr. lebenden Asvaghosa eine doppelte Sicht:

*) M. Wallescr, Die Mittlere Lehre des Nägärjuna nach der chinesischen
Version, Heidelberg 1912, S. 1.