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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

803-806

Autor/Hrsg.:

Gensichen, Hans-Werner

Titel/Untertitel:

Die Religiöse Bedeutung der indischen "Sarvodaya"-Bewegung 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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reinigter Text auf der Basis der ältesten Handschriften als Postulat; Trennung der wissenschaftlichen Erforschung des Alten Testaments
von der des Neuen Testaments; Betonung der Geschichtlichkeit der Bibel), hat das 19. Jahrhundert auf dem Gebiet des Neuen
Testaments in vielfältiger Weise die Arbeit vorangetrieben. Der griechische Text des Neuen Testaments wurde gesichert, die Entstehung
der einzelnen Schriften geklärt oder der Klärung nahe gebracht, die Geschichte des Urchristentums neu erfaßt, das religionsgeschichtliche
Problem, d. h. die Frage der religiösen Umwelt des Neuen Testaments (Judentum - Hellenismus) neu gestellt,
das Leben Jesu als sachliche Voraussetzung für das Verständnis des Urchristentums in den Vordergrund geschoben und schließlich
auch das Problem des Mythos als ein Kernproblem der neutestamentlichen Theologie erkannt. Da es sich im Neuen Testament um
die geschichtliche Offenbarung Gottes handelt, kann es nur dann legitim verstanden werden, wenn wir die geschichtliche Fragestellung
konsequent und ohne Scheu anwenden. Dann aber wird das Erbe des 19. Jahrhunderts auch legitim aufgenommen und bewahrt.

Alle drei Vorträge fanden ein lebhaftes Echo, das in einer tiefgreifenden Diskussion zum Ausdruck kam, und zum Teil wurde
auch in den Sektionen, wie aus den in dieser Zeitschrift abgedruckten Berichten deutlich wird, die Thematik der Hauptvorträge weitergeführt
. Jedenfalls ist durch diesen Theologentag deutlich geworden, daß der Versuch, das Erbe der Vergangenheit, speziell des 19. Jahrhunderts
zu erfassen und zu verarbeiten, immer wieder unternommen werden muß. Dabei kann es sich niemals um eine Restauration
handeln, sondern e6 geht darum, auf die Stimme der Väter zu hören, um den uns aufgetragenen Dienst besser zu verstehen
und besser zu bewältigen. Der Theologentag 1960 hat in dieser Richtung gewirkt, und es 6ei auch hier allen denen gedankt, die
zu seinem Gelingen beigetragen haben. Wilhelm Schneemelcher

Präsident des Deutschen Evangelischen Theologentages 1960

RELIGION S WISSEN SCHAFTLICHE SEKTION

(Leitung: E. F a s c h e r/Berlin und G. Rosenkran z/Tübingen)

Die religiöse Bedeutung der indischen „Sarvodaya"-Bewegung

Von Hans-Werner Gensichen, Heidelberg

(Kurzfassung)

Für die indische Religionsgeschichte ist es ein wesentlicher
Teil des „Erbes des 19. Jahrhunderts", daß durch die Einwirkungen
westlichen Geistes im allgemeinen und des Christentums
im besonderen das statisch-geschlossene Gefüge des hin-
duistischen religiös-sozialen Systems in Bewegung geraten ist.
Die Entwicklung ist bis heute noch im Fluß und läßt hauptsächlich
drei rivalisierende Tendenzen erkennen: Den Pragmatismus
Nehrus und seiner Freunde, dem die Religion bestenfalls
als Kulturfaktor neben anderen gilt, auf den bei der sozialen
Neuordnung nur wenig Rücksicht zu nehmen ist; den militanten
Konservatismus der Hindu-Orthodoxie, der um jeden Buchstaben
der überkommenen Ordnungen kämpft; schließlich, als Mitte
zwischen den Extremen, die von Vinoba Bhave vertretene
Weiterführung von Ansätzen Gandhis, in der heute der Herzschlag
der religiös-sozialen Erneuerung wohl am deutlichsten zu
spüren ist.

Unter dem Leitwort „Sarvodaya" (= das Wohl aller), dessen
Idee Gandhi von dem englischen Sozialkritiker John Ruskin
(1819—1900) übernommen hatte, hat Bhave seit 1951 eine Landschenkungsbewegung
eingeleitet, die sich eine gerechte Neuverteilung
der 'Ackerbaufläche zum Hauptziel setzt. Inzwischen
ist sie um neue Zweige — Schenkung ganzer Dörfer, sonstiger
Besitztümer, der Arbeitskraft und sogar des ganzen Lebens — erweitert
worden und hat beträchtliche praktische Erfolge erzielt.
So gewiß das Programm nicht religiöse Lehre, sondern Konzept
sozialer Neuordnung sein will, so gewiß trägt schon der äußere
Rahmen der Bewegung unverkennbar religiöse Züge. Erst recht
enthält die Motivierung eine starke religiöse Komponente.

Auffallend sind dabei einerseits der Freimut, mit dem gewisse
traditionelle Formen der hinduistischen Religionsausübung
kritisiert werden, andererseits der Anspruch, daß erst im Sarvo-
daya-Programm die überzeitliche, allgemeingültige religiöse und
sittliche Substanz des Hinduismus (sanätana dharma) voll zur
Geltung gebracht werde. Dabei ergeben sich folgende neue
Akzentsetzungen:

1. Sarvodaya ist im Kern „ewig" und „universal". Wer
diesem Ziel dient, „wird auf die ganze Welt Einfluß ausüben",
denn er „muß die ganze Welt in seine Liebe einschließen". Damit
6ind die Grenzen der Geburtsreligion gesprengt.

2. Zugleich erhält die von jeher dem Hinduismus innewohnende
Inklusivität im Verhältnis zu anderen Gestalten religiöser
Verwirklichung neues Gewicht. Religionsunterschiede jeder
Art sind zu „ignorieren". Konsequent werden auch Nicht-Hindus
zur Mitarbeit in der Bewegung eingeladen. Allerdings hofft man
auch, daß einmal alle „einseitigen" Weltanschauungen „im Ozean
von Sarvodaya zusammenfließen" werden.

3. Religion ist nicht mehr Privatsache, soll nicht mehr nur
der persönlichen Befreiung aus der Verstrickung in die arge Welt
dienen. Die Wandlung des Herzens bedeutet Unterstellung unter
ein neues Lebensgesetz (dharma), bei dem die Bindung an das
karma, die schicksalhaft wirkende Vergeltungskausalität, zugunsten
der Verpflichtung zu „universaler Liebe", zu opferwilligem
Einsatz für die Gemeinschaft zurücktritt.

4. Entgegen der klassischen Eschatologie, die nur eine endlose
zyklische Abfolge böser und guter Weltzeiten kennt, wird
jetzt ein teleologischer Zug betont: Das kommende goldene Zeitalter
ist nicht erst Sache einer fernen Zukunft, sondern ist schon
da, wo immer das Sarvodaya-Prinzip realisiert wird. „Ein Weltalter
wird immer das sein, was wir aus ihm machen" (Bhave).

Die indische Christenheit sieht sich durch die Bewegung vor
ein Dilemma gestellt: Einerseits muß sie die sozialen Errungenschaften
begrüßen und an ihrer Konsolidierung mitarbeiten.
Wenngleich die Gefahren von Bhaves Opposition gegen Industrialisierung
sowie gegen jegliche staatliche Planung und Kontrolle
nicht verkannt werden, so entspricht die Weckung sozialethischer
Impulse im Hinduismus doch den Wünschen und Hoffnungen
, die gerade die Christen schon seit langem gehegt haben.
Andererseits können sie die Ideologie, die „wahre Religion", die
Bhave als die allein mögliche Basis der Bewegung 60 stark
hervorhebt, nicht ohne Vorbehalte akzeptieren. Gerade in der
religiösen Inklusivität, die ihnen die Mitarbeit ermöglichen soll,
vermögen sie sich nicht ohne weiteres zu Haus zu fühlen — nicht
weil sie die Infragestellung eines eigenen Absolutheitsanspruchs
fürchteten, sondern weil sie sich durch die Mitarbeit nicht den
Weg zur Bezeugung ihres Glaubens verlegen und sich dadurch
unglaubwürdig machen lassen wollen. Daß diese Bedenken nicht
grundlos sind, beweisen die sich häufenden Schwierigkeiten in
den nach Sarvodaya-Grundsätzen eingerichteten Schulen und
Lehrerbildungsanstalten, wo Christen an Andachten teilnehmen
müssen, die auf dem Grundsatz der Gleichheit aller Religionen
beruhen.

Gerade von christlicher Seite ist ferner darauf hingewiesen
worden, daß die universalistische Spannweite von Bhaves Ideologie
letztlich aus der Verwurzelung in der partikularen monistischen
Vedanta-Tradition ihre Kraft zieht. Nach der Sarvo-
daya-Lehre ist ja der Dienst für die Gemeinschaft im Grunde
Dienst an der „Selbstverwirklichung", sofern die Wesenseinheit
der Menschen untereinander in der präformierten Wesenseinheit
jedes Menschen mit dem Absoluten begründet ist — oder,
in den Worten eines führenden Ideologen der Bewegung: „Die
Wurzel der Sittlichkeit liegt im Bestreben des Menschen, die
Einheit der Existenz, d. h. sein eigentliches Selbstsein zu realisieren
" (Jayaprakasch Narayan). Bhave selbst hat die Hoff-