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Ausgabe:

1960 Nr. 10

Spalte:

778

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Birkner, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Spekulation und Heilsgeschichte 1960

Rezensent:

Mann, Ulrich

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Seite 1

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777

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 10

778

Zu korrigieren wäre wohl, um der klareren Bezogenheit willen, die
Satzstellung S. 57, Z. 8—10: „ersetzen und verdrängen" ans Ende des
Satzes.

Greifswald Horst Beintker

E b e 1 i n g, Gerhard: Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung
als theologisches Problem. Drei Vorlesungen. Tübingen:
Mohr 1954. 93 S. gr. 8° = Sammlung gemeinverständl. Vorträge u.
Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte
207/208. DM 3.80.

G. Ebeling legt hier drei Vorträge vor, die er auf einem
Theologischen Kurs, veranstaltet vom Reformierten Pfarrkapitel
des Kantons Aargau, vor Pfarrern gehalten hat. Nach dem Vorwort
war das Ergebnis (vielleicht 6chon die Absicht?), daß festgefahrene
theologische Fronten in Bewegung gerieten. Die Vorträge
behandeln „fragmentarisch" eine unerhörte Fülle alter und
neuer Probleme auf der Linie Predigt — Schrift — Kanon — Auslegung
— Tradition — Wort Gottes — Kirche — Konfession. Dabei
fesseln die Darlegungen stets durch überraschend gelungene
Formulierungen, durch neue Beleuchtung bekannter historischer
Tatbestände und durch den konsequenten Versuch, die Generalthese
zu begründen, daß Kirchengeschichte die Geschichte der
Auslegung der Schrift ist.

In der ersten Vorlesung will der Verfasser zeigen, daß
alle6, was auch noch so fest zu sein scheint, in die Veränderung
der Geschichtlichkeit hineingerissen ist: Bibel und Predigttext,
Auslegung und Verkündigung, Prediger und Hörer. Darum ist
Predigt immerdar neue Auslegung des Schrifttextes.

Für die zweite Vorlesung ergibt sich als Ausgangspunkt
die Frage, was in aller geschichtlichen Veränderung das
Beharrende sei. Auf dem Wege über eingehende grundsätzliche
und historische Analysen der möglichen und des rechten Traditionsbegriffes
dringt die Untersuchung zum „Strukturzusammen-
hang der Offenbarung" vor. Dieser besteht in dem unlöslichen
Zusammenhang von Offenbarung in der Geschichte (Jesus Christus
), bezeugendem Wort und Glauben. Obwohl alles an der
Externität des verbum und der geschichtlichen Erscheinung Jesu
Christi liegt, ist durch die Einsicht in den Strukturzusammenhang
das Subjekt-Objekt-Schema als unsachgemäß überwunden.

Erst die dritte Vorlesung spricht dann deutlich aus, daß
das in der geschichtlichen Veränderung Beharrende allein die
eschatologischc Tat Gottes in Jesus Christus als das zu Tradierende
ist. Es ist die — Singular 1 — nicht fixierbare Tradition in
den — Plural! — Traditionen, die allein zu fixieren sind, und
zwar in den jeweiligen Gestalten de6 Christuszeugnisses. Dabei
gibt es einen Zugang zu der Tradition nur durch d i e Traditionen
hindurch. Gegen Rom, das über die rechte Auslegung iuris-
diktionell entscheiden will, protestiert Luther, für den die Schrift
grundsätzlich das prineipium primum ihrer eigenen Auslegung ist.
Ist damit aber nicht die Einheit der Kirche zerstört? Eine aufweisbare
Einheit gibt es nicht und hat es nie gegeben. Im gesamten
Gange der Kirchengeschichte begegnet die Einheit der Kirche
stets nur als „Erinnerung" an, als Verhältnis zu Christus. So ist
Kirchengeschichte die Weitergabe des Zeugnisses von Jesus Christus
zur Ermöglichung des Glaubens oder m. a. W. die Geschichte
der Auslegung der Schrift. Der Verf. schließt mit der Warnung
an den Protestantismus, durch Identifizierung seiner selbst mit
der Reformation traditionalistischcr zu sein als Rom. Die Aufgabe
des Protestantismus ist es vielmehr, die eigenen Traditionen
zu haben im Sinne des paulinischen mc firj, weil es allein darauf
ankommt, die gegenwärtige Verkündigung als Auslegung des
ursprünglichen Zeugnisses zu betreiben und damit in
der eigenen Konfession d i e Kirche zu suchen.

Es kann hier nicht der Ort sein, die mannigfachen Übereinstimmungen
mit und Gegensätze zu Barth und Bultmann herauszuarbeiten
. Klar ist, daß es sie gibt. Es kann hier auch nicht in
fcinzclerörterungcn eingetreten werden, zumal der Rezensent im
Wesentlichen gern zustimmt. Die Frage bleibt nur, ob das Problem
Geschichte und Geschichtlichkeit zu Beginn der zweiten
Vorlesung ausreichend geklärt ist, um einen tragfähigen Grund
ȟr alles abzugeben. Was ist geschichtliches Sein? Was Geschichtlichkeit
? Gibt es überhaupt „Beharrendes im geschichtlichen
Wandel"? Darf man, so wie es ja auch Gogarten tut, den Begriff
beschichte so eng fassen, daß er im eigentlichen Sinne nur in Bezug
auf den Menschen gilt und also die Geschichte der Natur ausdrücklich
ausschließt? Es ist doch alles in der Geschichte der gesamten
Natur auf jeden Fall auf den Menschen bezogen, und
zwar sowohl auf ihn als Erkennenden wie auch auf ihn als ein
faktisches Ergebnis des gesamten Naturzusammenhanges. Wird
die Geschichte nicht durch die Unterscheidung von Beharrendem
und Veränderlichem zerrissen in Idee und Erscheinung (vgl.
Troeltsch gegen Rickert)?

Genug der Fragen! Sie bezeugen Wert und Gewicht des
schmalen Bandes und schließen die Bitte an den Verfasser ein,
uns nun auch weiteres zur Sache grundsätzlich zu sagen.

Rostock Heinrich Benckert

B i r k n e r, Hans-Joachim: Spekulation und Heilsgeschichte. Die Geschichtsauffassung
Richard Rothes. München: Kaiser 1959. 113 S.
gr. 8° = Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus,
hrsg. v. Ernst Wolf, 10. Reihe, Bd. XVII. Kart. DM 7.50.

Richard Rothe6 Theologie ist komplex und vielschichtig. Die
landläufige Kenntnis beschränkt sich auf die These vom allmählichen
Aufgehen der Kirche im Staat, im übrigen schätzt man
die Frömmigkeit des Mannes, und damit ist Rothe etikettiert.
Die vorliegende Monographie, eine Göttinger Dissertation, füllt
daher eine Lücke aus, und sie leistet einen guten Dienst zum Verständnis
der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, denn 6ie
vermag mit großer Sachkenntnis das Ganze des Rotheschen Denkens
in 6einem Zusammenhang mit der zeitgenössischen Geistesarbeit
klar und einleuchtend darzustellen.

Rothes Methode war spekulativ; was das heißt, versteht man
erst in Hinsicht auf die großen Lehrer Fichte, Schleiermacher,
Hegel und Schelling: es ist das apriorische „reine Denken", die
„intellektuale Anschauung", die Schelling von Fichte übernommen
hat. Was man gegen Rothe einwenden muß, ist dies, daß er
zu ungebrochen Philosophie und Theologie als „christliche Gno-
sis" zusammendenkt. Es ist jedoch dem Verfasser besonders zu
danken, daß er nicht vorschnell mit dem so naheliegenden Verdikt
bei der Hand ist, sondern, ohne 6einen eigenen klaren theologischen
Standpunkt zu verleugnen, mit großem Verständnis
allen feinverzweigten Linien nachgeht, die nun doch deutlich machen
, daß Rothe für seine Zeit epochale Bedeutung hatte. Es
bleibt, wohl mit Recht, das Urteil Karl Barths bestehen, daß
Rothe die große theologische Zusammenfassung des Idealismus
bedeute und darin „irgendwie ein Endpunkt" sei; aber es gilt
auch das Urteil Ernst Troeltschs, daß Rothe die der Theologie
durch die Moderne gestellte neue Problematik deutlicher als jeder
seiner Zeitgenossen erkannt habe. Man kann von da aus tatsächlich
mit dem Verfasser Linien von Rothe bis zu E. Rosenstock-
Huessy ziehen, man müßte aber ebenso auch die Linie bis
zu Friedrich Gogartens Schau der Entstehung des Säkularismus
aus dem paulinischen Christentum erwähnen. „Das Christentum
hat die (neue) Weltgeschichte gemacht, nicht umgekehrt die Weltgeschichte
das Christentum" (S. 109), dieser Satz ist hochmodern.
Daß Rothe nur die Frage zu 6tellen und nicht die Antwort zu
geben vermochte, mindert nichts an seiner epochalen Bedeutung.
Der Verfasser hat recht mit seiner Schlußformulierung: „Die
Frage Christentum und Geschichte war der Theologie neu gestellt
" (S. 110). Daraus iet zu ersehen, welche Bedeutung die
Monographie für uns haben muß, denn die Theologie unsrer Zeit
ist immer noch zentral an diesem Problem „engagiert".

Man möchte vielleicht doch etwas mehr über die Bedeutung
des „Biblischen Realismus" für Rothes Theologie erfahren, als
Birkners Schrift daretellt. Es wird richtig sein, daß der unmittelbare
Einfluß Oetingers nicht so hoch veranschlagt werden darf als
oft angenommen wird; die Polemik des Verfassers gegen diese
Meinung ist wohl schärfer als nötig (S. 20), aber sachlich nicht
verkehrt. Dennoch fribt der Verfasser zu, daß Rothe die Schriften
von Steffens, Carus, Schubert und Baader intensiv gelesen hat
(S. 21); es wäre zu wünschen gewesen, daß der Abschnitt 3 des
zweiten Kapitels (Natur und Geschichte) etwas mehr auf diese
Zusammenhänge einginge.

Birkners Monographie ist auf jeden Fall ein zum gegenwärtigen
Zeitpunkt für die Theologie recht hilfreicher Beitrag.
Man möchte der Schrift weite Verbreitung wünschen.

Tübingen Ulrich Mann