Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1960 Nr. 10

Spalte:

774-775

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Teilhard de Chardin, Pierre

Titel/Untertitel:

Der Mensch im Kosmos 1960

Rezensent:

Holtz, Gottfried

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

773

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 10

774

Denken und Handeln bestimmen wollen. Aber dieses Ursprüngliche
ist nach Fürstenau nur zu erreichen, wenn der nicht-metaphysikgeschichtliche
Hintergrund des ursprünglichen Denkens bei
den von Heidegger als „wesentlich" herangezogenen Denkern
mit gesehen wird. Deshalb ist aber ein umfassendes Verständnis
der Gesellschaft notwendig, die die Kultur produziert.

c) Weil Heidegger die Geschichte der abendländischen
Ontologie herauslöst „von der Universalgeschichte der Kultur
produzierenden Gesellschaft", fehlt bei ihm die Einsicht in den
gesellschaftlichen Boden der Seinsauffassung. Darüber hinaus
bleibt 6ein Geschichtsverständnis abstrakt, weil das Ringen der
gechichtlichen Mächte auf die Differenzierungen in der Gesellschaft
zurückgeht. „Alle Dynamik der Geschichte entspringt den
Differenzen innerhalb der Kultur produzierenden Gesellschaft"
(176). Heidegger hat aus seiner Einsicht in das Geschichtsverständnis
von Marx (156) keine Folgerungen gezogen. Er hat
immer nur an einigen Texten ausgewählter Denker sein Geschichtsverständnis
erprobt. Er kommt deshalb schließlich zu der
Erwartung eine6 Weltuntergangs, bis „das Sein in seiner anfänglichen
Wahrheit sich ereignen kann". Alles Fragen heißt nach
Heidegger Warten. Hier hat aber im Grunde das Hören auf das
Sein aufgehört.

d) In seinem Geschichtsverständnis tritt an die Stelle der
Entfaltung die Entscheidung des subjektiven Denkers. „Der
nichtshafte utopische Gedanke gegenüber dem Bestehenden wird
immer nur wiederholt, aber nicht entfaltet." Dadurch findet sich
das ursprünglich Revolutionäre bei Heidegger mit dem Bestehenden
ab. Er greift sogar überkommene numinose Mächte wieder
auf. Die Gruppierung des Daseins im Geviert (seit 1950): Erde,
Himmel, die Göttlichen, die Sterblichen, wird jetzt ohne Erörterung
übernommen. Diese Mächte werden als Seinsmomente
verstanden und nicht mehr im ursprünglichen Sinne erfragt. Er
läßt sich aus der Überlieferung Instanzen geben, die er nicht auf
ihre Geschichte zurückverfolgt hat. Unter dem Einfluß von Hölderlin
(seit 193 5) sind diese Mächte dem entfaltenden Denken
entgegengestellt worden. Zuletzt gelangt Heidegger nach jahrelangem
Fragen zu der letzten Erkenntnis: „Das Sein selbst — einfach
als Geheimnis?" Dies aber ist ein Freibrief für Beschwörungen
. Fürstenau macht auf das ungelöste Problem dieser numi-
nosen Mächte aufmerksam. Sie sind in dem Geschichtsdenken an
die Stelle getreten, an der die entdeckbaren gesellschaftlichkulturellen
Mächte stehen müßten. Außerdem werden sie als
•.vorhanden" angenommen und bekommen dadurch den Charakter
der „naturalen" Mächte. Dadurch sieht aber Fürstenau ein
neues Problem gestellt, das der Lösung harrt. Es handelt sich
hierbei nach seiner Meinung nicht im traditionellen Sinne um
ein religionsphilosophisches, sondern um ein naturphilosophisches
Problem. Er sieht es als die nächste Aufgabe für die onto-
logische Forschung an, diese naturphilosophische Fragestellung zu
entfalten.

III. Kritik der Kritik. Die sehr sorgfältigen Analysen
des Gesamtgefüges Heideggerschen Denkens müssen als
eine gute Einführung gewertet werden. Freilich ergibt sich am
Schluß doch die Frage, ob nicht auch die angeblich „immanente"
Kritik wiederum von philosophischen Erkenntnissen vorherbestimmt
ist. Dies braucht keineswegs eine Abwertung zu bedeuten
, müßte aber auch klar zugegeben werden. Der heute 60
dringend gewordene soziologische Aspekt, auf den Fürstenau
niit Recht so großen Wert legt, dürfte in dieser seiner Umgrenzung
von Heidegger nicht intentioniert sein. Er hat den Einzel-
wissenschaften und auch der Theologie (z. B. „Sein und Zeit"
l927, S. 10, 49, 248) erst nach der Klärung der fundamental-
ontologischen Frage ihren Platz als berechtigt zugestanden,
^enau so würde er sich auch gegenüber der Soziologie verhalten,
^urch die Formulierung von der Kultur produzierenden Gesellschaft
ist die Soziologie bereits in einer bestimmten Weise festgelegt
. Dadurch wird eine konkret geschichtswissenschaftliche
~7a2e beantwortet werden können. Aber läßt sich bei einem sollen
Verständnis der Soziologie, das von der Kultur-Produktion
"er Gesellschaft spricht, überhaupt noch das ursprüngliche Bemühen
nach dem Sinn von Sein überhaupt aufrechterhalten? Ist
l !lSeS ^3nn nicnt cin Ausdruck einer bestimmten gesellschaft-
'■chen Konstellation? Können wir dann überhaupt noch die Frage

stellen, wie sie ursprünglich im umfassendsten Sinne für alle
Wissenschaften vom Seienden gemeint war? Das erfragte Sein
sollte doch alles Seiende begründen und damit doch auch die
„produzierende Gesellschaft" verständlich machen.

Damit hängt unser zweiter Einwand gegen diese Arbeit zusammen
. Die neue Sicht im „Geviert des Daseins" erscheint uns
als eine sehr notwendige Erweiterung der ursprünglichen Daseinsanalyse
. Heidegger hat mit der Region des Heiligen keineswegs
der Religion selber einen Platz innerhalb der Ontologie anweisen
wollen. Aber er hat hier einem sehr wichtigen Phänomen innerhalb
der menschlichen Existenz seine philosophische Aufmerksamkeit
zugewandt. Es sollte freilich nicht versucht werden, diese
neue Erkenntnis gegenüber einem vermeintlichen Atheismus
Heideggers auszuspielen. Wir haben vielmehr gegenüber einer
solchen theologisch negativen Bewertung von Heidegger zu erklären
, daß der biblische Gottesglaube überhaupt keiner Platzanweisung
in einem fundamental - ontologischen System bedarf.
Fehlt sie, ist der Verfasser keineswegs einer theoretischen Gottlosigkeit
überführt. In der philosophischen Ontologie geht es um
die Erprobung der Vernunft, im Glauben dagegen um die Entgegennahme
einer Botschaft, die alle Vernunft übersteigt.

Bedenklich und einseitig scheint es uns daher, diese religionsphilosophische
Einsicht in eine naturwissenschaftliche Problematik
zu überführen. Hier tritt eine bestimmte Voraussetzung auch
innerhalb der Kritik von Fürstenau offen zutage, und zwar zugunsten
eines bevorzugten naturwissenschaftlichen und soziologischen
Denkens.

Indem der Verfasser in der heutigen philosophischen Situation
nicht nur das Warten lehrt, sondern mit dem ursprünglichen
Ansatz von Heidegger die echte Seinshörigkeit, meinen
wir, müßten auch die vielfachen theologischen Auseinandersetzungen
mit Heidegger ernstgenommen werden, z. B.
auch die innerhalb der Theologischen Literaturzeitung selbst.
Diese weisen sehr dringend im geschichtlichen Miteinander auf
das Phänomen des Hörens hin. Indem sich von der Offenbarung
her ein verantwortliches Hören durch den Anruf Gottes in der
Geschichte ereignet, haben auch diese kritischen Bemerkungen
ein Recht, in ihrer Bedeutung für die Daseinsanalyse beachtet zu
werden. Zugleich dürfte damit auch der von Fürstenau mit Recht
kritisierten Resignationshaltung der Existentialphilosophie ein
wirkungsmächtiges Argument entgegengehalten werden können.

Eisenadi Heinz Eridi Eisenhuth

Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos (Le

phenomene humain). Aus dem Französischen übers, v. O. Marbach.
München: Beck [1959]. XVI, 311 S., 1 Titelb. gr. 8°. DM 15.— ;
Lw. DM 18.50.

Der Verfasser — Mitglied des Jesuitenordens und versierter
Biologe — ist 1955 im 75. Lebensjahr gestorben. Das eigentliche
Buch ist 1938 — 1940 in Peking geschrieben, ein Nachwort 1948
in Rom. Zwei Namenslisten bedeutender Förderer zeigen an, daß
sich besonders in Frankreich um den verstorbenen Denker eine
Gemeinde von Wissenschaftlern sammelt. Die vorgetragene Naturphilosophie
, die den Kosmos als Einheit begreift, ruht auf der
Annahme einer Allbeseelung. Schon das Atom müsse beseelt,
d.h. mit der Lebensmöglichkeit ausgestattet sein. Weil der Weltstoff
6ein Innen, seine geistige Energie hätte, könne er das Leben
„ertasten". Im Rahmen der grundlegenden Hypothese wird eine
Einheitsschau des Kosmos erreicht, die fasziniert. In der stufenweisen
Entfaltung des Lebens erscheint der Mensch als die Höhe
der Entwicklung. Da sie aber noch unabgeschlossen sei, würde sie
über den Menschentyp hinausführen, den wir repräsentieren. Die
Weiterentwicklung würde in der Sphäre des Denkens erfolgen.
Da alle bisherige Entwicklung eine fortschreitende Entfaltung des
kosmischen Selbstbewußtseins sei, müsse als Schluß- und Zielpunkt
ein Punkt Omega angenommen werden, der einmal ausdrücklich
„Gott-Omega" (284) genannt wird. Man versteht, daß
der Verfasser sich auf den letzten Seiten genötigt sieht, den Vorwurf
einer neuen Apokalyptik und des Pantheismus abzuwehren.
Da ein größerer wissenschaftlicher Apparat fehlt und eine geistesgeschichtliche
Orientierung unterblieben ist, bemerken wir
unsererseits, daß wir dem wiedererstandenen Gustav Theodor
Fechner begegnet zu sein glauben. Die Arbeitsmittel, die das