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1960 Nr. 10

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 10

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kann aufgezeigt werden, daß die „Gesamthaltung" eines Dichters
und die Formulierung eines Gedichtes sich nicht unbedingt decken
müssen, und daß es subtiler Interpretation und sicherer Beherrschung
der Hilfsmittel bedarf, wenn über ein Gedicht richtige
Aussagen zustande kommen sollen.

Das Dilettantische in Zwickers Arbeitsweise ist in seinem
wahllosen Kreuz- und Querzitieren zu sehen. Zwicker weiß nicht,
daß es bei jeder zitierten Stelle entscheidend wichtig ist, aus welchem
Zusammenhang sie stammt, ob sie in einer Dichtung, einem
Brief, einer autobiographischen Schrift oder einer wissenschaftlichen
Abhandlung steht. Jene merkwürdige Form des Zitierens
und das Aussparen einer Goethe-Ausgabe entspricht einem Verkennen
des Gegenstandes, an dem der Autor eines Goethe-
Buches üblicherweise zu arbeiten hat. Auch wenn er Goethes
Lebenswerk „für die künftige Entwicklung einer neuen Theologie
" (S. 9) meint fruchtbar machen zu können, wird man es ihm
nicht erlassen, als Philologe am Text zu arbeiten. Und bei aller
Achtung vor dem Bestreben, Goethes „Wesen und Glauben" darzustellen
— also etwas, was nur hinter dem schriftlich niedergelegten
Werk Goethes zu finden ist —, liest man mit Unbehagen
, wie dem Verfasser „Dichtung und Wahrheit" zur „Quelle
vierten Ranges" wird (S. 30), Goethes Dichtung gar gelegentlich
zur „Quelle fünfter Ordnung" (S. 31) und wie der Dichter selbst
viele Male kameradschaftlich und schlicht „Johann Wolfgang1"
genannt wird.

Alles in allem kann das Buch nicht als druckfertige wissenschaftliche
Veröffentlichung bezeichnet werden. Es 6ind nicht nur
viele Ungenauigkeiten festzustellen, die bei erneuter Durchsicht
auszumerzen wären, es fehlen dem Verfasser gewisse Grundvorstellungen
, ohne die ein so schwieriges Thema nicht behandelt
werden kann. Er ist sich nicht darüber klar, was man unter einer
„Quelle" versteht. Für ihn ist Bielschowskys Goethe-Biographie
aus dem Jahr 1907 im gleichen Sinn Quelle wie ein Brief aus der
Goethezeit (vgl. S. 114 u.). Die Besonderheit von „Dichtung und
Wahrheit" als Alterswerk, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges
, Jugend und Alter sich wechselseitig spiegeln, ist ihm nicht
bewußt. An der Symbolsprache der Faustdichtung geht er vorbei.
Sein Buch enthält erst Voruntersuchungen, die, sofern sie zu
selbständigen Ergebnissen führen sollen, wissenschaftlich durchdacht
werden müßten.

Grcifswald Hildegard Emmel

Henningsen, Jürgen: Die Idee des Glasperlenspiels.
Die Sammlung 15, 1960 S. 116—126.

PHILOSOPHIE UND REL1GI0NSPHIWS0PHIE

Fürstenau, Peter: Heidegger. Das Gefüge seines Denkens. Frankfurt
/M.: Klostermann [1958]. VII, 185 S. gr. 8°. Kart. DM 12.50;
geb. DM 14.50.

Peter Fürstenau, Dozent in Berlin, gibt eine umfassende Darstellung
der Heideggerschen Philosophie. Er bemüht sich gegenüber
anderen Auslegungen darum, Heidegger aus sich selbst
heraus zu erklären. Er zieht deshalb alle Veröffentlichungen für
eine „Strukturale Interpretation" heran. Er möchte ihn nicht von
einer eigenen philosophischen Position her deuten und dadurch
Mißverständnissen Vorschub leisten. Er kritisiert es mit Recht,
daß Misch in Heidegger den Fortführer einer apriorischen
Phänomenologie und Plessner in ihm den Vertreter einer apriorischen
Anthropologie sehen. Allerdings wird in der abschließenden
Würdigung, die er selbst als „immanente Kritik" bezeichnet,
deutlich, daß er den Einwänden von Herbert Marcuse nahesteht,
der den Wendepunkt bei Heidegger darin sah, daß er die bürgerliche
Philosophie von innen her sich auflösen ließ und den Weg
frei machte für eine „konkrete" Wissenschaft von der Geschichte
. Diese Konkretisierung wird seiner Meinung nach allein
durch die Soziologie ermöglicht.

I. Strukturanalyse und Seinsverständnis.
Fürstenau beginnt bei dem vor-ontologischen Seinsverständnis,
das in seinen Strukturen entfaltet wird. Indem er sehr viele Zitate
bringt, besonders in dem 2. Teil, werden die Gedankengänge
aus dem „Sein" heraus entwickelt im Zusammenhang eines einheitlichen
Denkens. Es geht ihm um eine „universale Miteinan-
derverfügung" der Gedanken Heideggers (167). Dies ist möglich
, weil es nach seiner Überzeugung keinen Bruch im Denken
von Heidegger gibt. Die Werke in ihrer Verschiedenheit werden
als Glieder eines zusammengehörigen Gedanken-ganzen verstanden
. Heidegger hat zwar selbst einen Unterschied in seinem
Denken zugegeben. Er hat den noch ausstehenden dritten Abschnitt
von „Sein und Zeit" noch nicht veröffentlicht, weil sich
hier das Ganze seines bisherigen Denkens umkehrt unter dem
Titel „Zeit und Sein". Diese „Kehre" von „Sein und Zeit" zu
„Zeit und Sein" kann aber in der bisher üblichen Sprache der
abendländischen Philosophie nach deren Destruktion noch nicht
ausgesprochen werden. „Diese Kehre" bedeutet aber nicht eine
Änderung seines Standpunktes, sondern „in ihr gelangt das versuchte
Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der .Sein
und Zeit' erfahren ist" (168). Die Kehre ist die Rückwendung zu
dem eigentlichen Grund seines Denkens.

II. Die „immanente" Kritik. Im ersten Teil
seiner Arbeit hat Fürstenau „Die allgemeine' Struktur des
Seinsverständnisses" und im zweiten Teil „Heideggers spezifische
Konkretion des Seinsverständnisses: Sein als Geschehensganzes
" dargestellt. Dann folgt der kritische, allerdings nur sehr
kurze dritte Teil unter dem Titel „Ursprünglichkeit und Verfall
in Heideggers Denken".

Die vom Verfasser geübte Kritik geht von den eigentlichen
Intentionen Heideggers aus und will von ihnen her das Gesamtwerk
beurteilen. Es handelt sich lediglich, wie er meint, um eine
„immanente" Kritik. An diesem Maßstab gemessen unterscheidet
er zwischen Ursprünglichkeit und Verfall. Zur Ursprünglichkeit
rechnet er zwei Erkenntnisse.

1) In der heutigen Zeit der „Verwirrung und Unterdrückung
" bewahrt Heidegger den Gedanken, daß alles Seiende
in ein anderes Verhältnis zueinander kommen könnte. Er durchbricht
den Zwang der bisherigen Tradition im philosophischen
Denken. Der Mensch ist nicht hoffnungslos an das Gegenwärtige
fixiert. Das „geschehende Seinsgefüge" lichtet den „Spielraum",
„innerhalb dessen das Sein selbst den Menschen hinsichtlich seines
Wesens wieder in einen anfänglichen Bezug nehmen könnte"
(Holzwege 194). Er weist darauf hin, daß das Neue, Andere und
Gute auf uns zukommen kann. Er „eröffnet den Ausblick auf
Zukunft" (170).

2) Indem Heidegger die Metaphysik zu ihren Ursprüngen
zurückverfolgt, zeigt er von diesen her eine neue geschichtliche
Möglichkeit. Er will einen Wandel im Wesen des Menschen
herbeiführen. Aber nach der Destruktion, die ursprüngliches Denken
erschließt, kann das Neue noch nicht ausgesagt werden. Dies
hatte Heidegger auch in dem Hinweis auf die Kehre zugegeben.
Deshalb können wir nach Fürstenau jetzt nur dann eigentlich und
ursprünglich als Menschen leben, wenn wir „recht ausdauern"
und uns „die utopische Möglichkeit des Ganz-anderen" offenhalten
(171). Weil aber Heidegger unter dem Einfluß der Dichter
diese Zurückhaltung preisgab, hat er den Verfall des eigenen Denkens
eingeleitet. Dieser Verfall ist ein „Abfall von der Möglichkeit
des Eigentlichseins". An vier Punkten wird dies aufgewiesen:

a) Mit der Destruktion des überkommenen Scinsverständ-
nisses wurde die traditionelle Metaphysik aufgelöst. Damit
mußte auch das bisherige Verständnis von den verschiedenen
Bereichen des Seienden und ihres Zusammenhangs untereinander
abgebaut werden. Dazu gehört vor allem das metaphysische
Naturverständni6. Bei Heidegger fehlt aber eine Destruktion
dieses Naturverständnisses, worauf auch Theodor Litt hingcwic
sen hatte (1948). Damit hängt es zusammen, daß eine Analyse
der Leiblichkeit und der Körperlichkeit des Daseienden fehlt.
Deshalb konnte Heidegger auch nicht zu einer Konkretion des
Daseins innerhalb der Natur vordringen. Dieses Versäumnis
wirkt sich dann auch negativ auf die Geschichte aus. Die6e verbleibt
im Abstrakten, weil die Beziehungen zum Geschehen in
der Natur unbeachtet bleiben.

b) Ebenso sind die Beziehungen zwischen der Ontologie
und den übrigen Kulturbereichen nicht untersucht. Heidegger hat
selbst seinen „universalen Ansatz" von „Sein und Zeit" aurgegeben
. Er hatte ursprünglich das Dasein noch vor aller Verselbständigung
des Denkens und noch vor der Spezialisierung von