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Ausgabe:

1960 Nr. 10

Spalte:

742-744

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Baltensweiler, Heinrich

Titel/Untertitel:

Die Verklärung Jesu 1960

Rezensent:

Käsemann, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 10

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Vorjahr („Leopold and Adelheid Zunz, An Account in letters
1815—1885", London 1958, 427 pp.) nicht mehr herangezogen
wurde. Dieser Briefwechsel mit den Mitgliedern der Familie
Ehrenberg bietet mancherlei in die Thematik W.s Einschlägiges.
Leider ist aber auch Früheres wie meine Edition des Briefwechsels
Zunz-Steinheim (Jahrb. f. jüd. Gesch. u. Lit., Bd. 31, 1938) nicht
benutzt worden. W. (vgl. S. 29) hält von Zunz als Briefschreiber
nicht viel; in der Tat kann er auch den Vergleich mit anderen
großen Briefschreibern des 19. Jhdts. (F. A. Wolf, J. Burckhardt
usw.) nicht durchstehen. Das umfangreiche Zunzarchiv war dem
Verf nicht zugänglich; es befindet sich heute in Jerusalem (vgl.
Bulletin f. d. Mitgl. d. Freunde d. Leo Baeck Institute Nr. 7, Tel
Aviv 1959, 148 ff.). Ob seine Sichtung das Bild des Verfs. wesentlich
korrigiert hätte, ist ungewiß; was aus den skurrilen Ansätzen
zu einer Autobiographie (Das Buch Zunz, künftigen ehrlichen
Leuten gewidmet, eine Probe, Berlin 1931) mitgeteilt
wurde, spricht nicht eben dafür.

Das Hauptinteresse, das Zunz heute noch erweckt, ist neben
seiner von W. nicht mitbehandelten deutschen Bibelübersetzung
die Tatsache, daß er als der Begründer einer eigenen Forschungsdisziplin
gilt, der „Wissenschaft des Judentums", die aber streng
genommen eigentlich auf den Hegelianer Eduard Gans zurückgeht
. W. zeigt S. 19 ff., daß Zunz (geb. 1794) diese neue Disziplin
positivistisch als Faktensammlung im Geist der vorromantischen
Aufklärung aufgezäumt hat, der er selbst entstammte. Von
seinem Lehrer August Boeckh (Die Staatshaushaltung der Athener
, 1817; Enzyklopädie und Methodologie der philologischen
Wissenschaften, 1877) stammt die universale Orientierung und
der enzyklopädische Geist, der schon in dem Arbeitsprogramm
seiner Frühschrift „Etwas über die Rabbinische Literatur" (1818)
zutagetrat.

Zunz wollte alle jüdischen Dokumentationen der verschiedensten
Sachgebiete als Ausdrucksweisen eines Ganzen
(„organische Teile eines Gesamtbaus") begreifen. Hierbei spielen
Herdersche Ideen und Hegeische Begriffe — er spricht z.B. von
■•jüdischer Kirche" — eine mäeutische Rolle. W. weist nach, daß
Zunz aber überraschend viel seinem eigentlichen Lehrer Boeckh
verdankt (78 ff.: Poesie als Anfang der Sprachbildung, Kultus die
Außcngestalt, Mythologie die Innengestalt der Religion usw.).
Nicht zuletzt zeigt sich dieser Einfluß darin, daß er die jüdische
Geschichte ganz im Lichte der griechischen gesehen hat (84 f.);
sogar die Kategorie des Leidens, die Zunz als die spezifisch jüdische
herausgestellt hat, wird von W. (86) auf die aristotelische
Theorie der antiken Tragödie zurückgeführt.

Zunz hat die jüdische Geschichte wesentlich als Literaturgeschichte
behandelt und ideenhistorisch aufgearbeitet. Dies wird
von W. (103 ff.) für seine Hauptwerke gezeigt, deren Titelgebung
bereits typisch ist: „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden,
historisch entwickelt" (18 32) und „Der Ritus des synagogalen
Gottesdienstes, historisch entwickelt" (1859). „The history of
the dispersed Jewish people is a history of ideas" (105). Auch die
Leiden sind „an integral part of their national history", was in
dem berühmten zweiten Kapitel von „Die synagogale Poesie des
Mittelalters" (1 855) ausgeführt worden ist. Schwächer sind Zun-
jCns..!m äußerlichen Anschluß an Hegel versuchten Gliederungen
der jüdischen Geschichte, die W. im sechsten Kapitel darstellt.

.Zwei weitere Kapitel (Kap. 3 und 7) behandeln Zunzen6
tmsätze für die Emanzipation der preußischen Juden, sein Engage-
ment als Wahlmann der Liberalen für die Nationalversammlung
von 1848 — er hat bekanntlich am 22. März 1848 für die Märzgefallenen
eine Grabrede gehalten — und als Mitglied der Fortschrittspartei
in der Neuen Ära. In einer Rede vom 4. Oktober
1864 über „Selbstregierung" hat er das englische parlamentarische
Astern als politisches Modell gepriesen (124).

Sein politischer wie sein religiöser Liberalismus hatte eine
weltanschauliche Unterbauung in der Rousseauschen Naturrechts-
tehh f°rts*ritts- u«d Freiheitsideen seines eigenen

I underts, die ihn auch zu sehr scharfen Polemiken gegen den
SAr n ,mus" u"d gegen die jüdische Orthodoxie (vgl. Ges.
inveieh d veranlaßt hat. „Like an enlightened Jacobin, he
C( ?8ainst clericalism, superstition and tyranny as the
causes or this shortcoming" (21). Dieser Radikalismus, etwa in
aer spenerschen Zeitung von 1819 (vgl. W. 31), der bis in das

spätere Alter wirkt, ist lebensgeschichtlich bedingt und geht auf
seine Erziehung in der von den Idealen der französischen Aufklärung
und Revolution bestimmten Samsonschule in Wolfenbüttel
zurück. So sehr Zunz im Anfang für religionsgesetzliche Reformen
eingetreten war, ist er aber im Laufe seines Lebens weitgehend
zu Positionen der Tradition zurückgekehrt. ,,W i r bedürfen
der Reform und nicht das Gesetz", heißt es aufschlußreich
in einem Brief vom 4. 5. 1845 an Abraham Geiger, den
Wortführer des religiösen Liberalismus. Alte Freunde und Weggefährten
wie sein väterlicher Berater Philipp Ehrenberg haben
derlei Äußerungen wie auch sein klares Eintreten für die
„Thefillin" (Jahrb. f. Israeliten II, Wien 1843—1844) und die
Brith Mila (Gutachten 1894, Ges. Sehr. II, 191 ff.) beunruhigt.

Das eigentlich Kennzeichnende für Zunz und viele Juden wie
Christen seiner Generation ist die starke Wissenschaftsgläubigkeit
gewesen, die auch hinter der Gründung des sog. „Kulturvereins
" von 1821 — auch Heinrich Heine war Mitglied — gestanden
hat, der das Judentum wissenschaftlich begründen und
ausweisen sollte. Zunz ist im Grunde kein gläubiger Jude gewesen
, weder im traditionellen noch im modernen Sinne, sondern ein
Rationalist: er glaubte an die Wissenschaft des
Judentums. Damit hängt es zusammen, daß alle seine
Schriften, so bedeutend sie als wissenschaftliche Werke an und
für sich sind, offen oder versteckt eine praktische Abzweckung
haben. Für den ersteren Fall machen dies „Die gottesdienstlichen
Vorträge der Juden" (1824) und „Die Namen der Juden"
(1 8 36) besonders deutlich, da sie durch königliche Kabinetts-
ordres verursacht worden sind.

In seinen praktischen Bestrebungen war Zunz wenig Erfolg
beschieden. Der von ihm heiß ersehnte und 1848 bei Ladenberg
beantragte Lehrstuhl für jüdische Wissenschaft an der Berliner
Universität ist nicht bewilligt worden und bis heute ein Deside-
ratum. Mit den in der zweiten Jahrhunderthälfte gegründeten
Jüdisch-Theologischen Lehranstalten, die 6ich oft auf ihn als den
„Altmeister" beriefen, ist er nicht ins Reine gekommen. Die
Eckigkeit seines Charakters und gewisse persönliche Schroffheiten
haben hieran wohl die meiste Schuld gehabt.

Über die wissenschaftstheoretisch schwache Basierung der
Zunzschen Position kann man hinwegsehen; seine wissenschaftliche
Bedeutung lag in der gelehrten Stoffsammlung und -Verarbeitung
. Zunz, der sich selbst um Jahrzehnte überlebte und
erst 1886 verstarb, war ein großer Mann in der Frühzeit der Wissenschaft
des Judentums. Dies macht Wallachs gewichtige
Monographie in vollem Umfang klar, aber im Grunde bestätigt
auch sie nur das von Franz Rosenzweig überlieferte Verdikt des
Neukantianers Hermann Cohen über Leopold Zunz: „Er
hätte ein großer Historiker 6ein können und war doch nur ein
— Antiquar". Dies Urteil wird von W. auch zugegeben (S. 95:
„indeed the Achilles' heel of Zunz's work").

Erlangen Hans-Joadiim Sch oep8

NEUES TESTAMENT

Baltersweiler, Heinrich: Die Verklärung Jesu. Historisches Ereignis
und synoptische Berichte. Zürich: Zwingli-Verlag 1959. 150S.
8° = Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testamente,
hrsg. v. W.Eichrodt u. O. Cullmann, 33. Kart. sfr./DM 18.—.

Die sorgfältig und zielstrebig vorgehende, eine umfangreiche
Literatur völlig ausschöpfende, die eigenen Fragen und
Ergebnisse präzis formulierende Monographie macht Eindruck.
Vor allem stellt 6ie unausweichbar vor ein methodisches Problem
, das Lage und Fortgang unserer exegetischen Arbeit bestimmt
: Ist der Text primär Quelle oder Zeugnis? Der Verf.
bejaht das erste und meint, eine Entwicklung von dem angeblich
zugrundeliegenden historischen Ereignis zur kerygmatischen
Interpretation bereits in der vorevangelischen Tradition und
dann erst recht bei den einzelnen Synoptikern aufzeigen zu
können. Wer dagegen auf Grund der jüngsten Forschung zu den
Evangelien und zur Apostelgeschichte den umgekehrten Weg
einzuschlagen genötigt ist, wird sich auf der ganzen Linie herausgefordert
fühlen. Gerade die faszinierende Rekonstruktion dieser
Arbeit wird ihn zwingen, auf die Dürftigkeit unseres siehe-