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Ausgabe:

1960 Nr. 10

Spalte:

727-738

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gottwald, Norman K.

Titel/Untertitel:

A light to the nations 1960

Rezensent:

Wallis, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 10

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Identifizierung von Glauben und Dogmatik mißachtet wird. Als
Wahl zwischen zwei Heilswegen (der eigenen Gerechtigkeit aus
dem Gesetz und der „fremden" des Evangeliums) hat diese
Unterscheidung zugleich die Bedeutung der orthodoxen articuli
fundamentales. Eine Entscheidung in dieser Sache ist jedermann
mit apodiktischer Gewißheit möglich. Gerade die Klarheit an
dieser Stelle kann und soll der Kirche im übrigen eine große Freiheit
gegenüber formulierten Lehrmeinungen ermöglichen, die
nichts mit dogmatischer Indifferenz zu tun hat (135).

Die systematische Kraft und Prägnanz, mit der diese Unterscheidung
im einzelnen vorgenommen wird, besser: an den Nachvollzug
dieser Unterscheidung im Leser appelliert wird, iet
bewunderungswürdig. Sie geschieht bereits in der Lehre von der
Schrift (§5,6), in deren Botschaft die Fähigkeit zur Unterscheidung
von Gesetz und Evangelium ihren Ursprung hat.
Lehre von der Schrift (sola scriptura) und Lehre von Gesetz und
Evangelium (sola fide) bedingen sich gegenseitig nicht nur in dem
Sinne, daß der Inhalt der Lehre von Gesetz und Evangelium der
Schrift entnommen würde, sondern so, daß der Rechtfertigungsglaube
(als Fähigkeit, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden)
allein aus „dem Gehör" der Schrift stammt (wobei zugleich wiederum
erst verstanden wn-d, was „Schrift" eigentlich heißt).
„ ,Sola scriptura' — ßola fide; recht gesehen sind das nicht zwei
Prinzipien, sondern ein einziges" (46). Der dogmatische Ausdruck
für diesen Zusammenhang ist nach Prenter das Bekenntnis
zur T r i n i t ä t (94). Indem die Dogmatik traditionell die
„opera ad extra" von Vater, Sohn und Geist als unteilbar bekennt
, bezeugt sie, daß die Rede von Gott nur im Blick auf den
Christus der Schrift (sola scriptura), in der Gemeinde des Glaubens
(sola fide: in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium
) legitim möglich ist. Vereinfacht gesagt: das derart ausgelegte
trinitarische Bekenntnis ist die Zusammenfassung des
Glaubens nach lutherischem Verständnis und damit der lutherische
Beitrag zur ökumenischen Debatte (44). Zugleich ist es
Schlüssel zur biblischen Botschaft: nicht eigentlich dogmatische
Lehre, sondern eine aller speziellen Dogmatik vorausgehende
hermeneutische Aussage. „Die Dreieinigkeitslehre ist eigentlich
keineswegs eine .Lehre von Gott', sondern eine .Lehre von der
Offenbarung' " (45 Anm. 18).

Die Art, in der bei Prenter die Schrift zu Worte kommt,
verdient besonders hervorgehoben zu werden. Sie vermeidet das
bloße Ansammeln biblischer Belegstellen, führt freilich ebensowenig
exegetische Einzelnachweise. Vielmehr werden, gestützt
auf formgeschichtliche Erwägungen — angesichts der exegetischen
Situation mit viel Mut zum kombinatorischen Schluß! — die
gleichbleibenden bzw. relativ invariablen Grundzüge biblischer
Verkündigung herausgehoben, in denen das Verständnis des
Glaubens im kirchlichen Bekenntnis begründet ist. So wird schon
in § 5 die dogmatische Bedeutung der Bibel als Inbegriff „prophetischer
" und „apostolischer" Schriften in einem Durchblick
durch die gesamte alt- und neutestamentliche Verkündigungsgeschichte
begründet. Indem als Grundmotiv der Heilsgeschichte
die Bundestreue gesehen und diese von Gott her als Verheißung,
vom Menschen her als Glaubensgehorsam gefaßt wird — und nun
das Zeugnis der Schriften daraufhin befragt wird, inwiefern in
ihnen die Korrespondenz von Verheißung und Glaube verstanden
und erfüllt bzw. verfehlt ist — werden historischer und
existentialer Aspekt der Heilsgeschichte so glücklich vereinigt,
daß selbst dem Organismu6gedanken des alten Biblizismus sein
partielles Recht geschieht (78 u. ö.). Angesichts der steigenden
Komplizierung, in der die hermeneutische Debatte in Deutschland
seit Jahren verläuft, ist es erstaunlich, mit welch leichter
und glücklicher Hand die Probleme „Verheißung und Erfüllung"
(52), Allegorese (67) und Typologie (72) die Grundfragen der
Überlieferungsgeschichte wie ihrer dogmatischen Relevanz hier
behandelt werden.

Der Grund für die Treffsicherheit liegt in der immer wieder
festgehaltenen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
Durch sie widerlegt Prenter u. E. zugleich die Befürchtung, die
lutherische Theologie vermöchte in der gegenwärtigen Problemlage
keine beachtbaren Lösungen mehr anzubieten. Denn eben
in der seit Jahren verfahrenen Auseinandersetzung von positivistischer
und existentialer Glaubenslehre scheint uns hier ein

klärendes Wort gesprochen. Anstelle der unauflöslichen und unfruchtbaren
Gegenüberstellung von „Heilstatsache" und „Selbstverständnis
" tritt die dialektische Bezogenheit von Evangelium
und Gesetz: Evangelium verstanden als Zuspruch des Heils durch
das immer irgendwie „autoritativ" zu vernehmende verbum ex-
ternum, Gesetz verstanden als die durch die Verkündigung ins
Licht gesetzte fordernde und verklagende Wirklichkeit des alten
natürlichen Menschen. Überzeugend wird so der Streit um die
durch Barth angefochtene Reihenfolge „Gesetz und Evangelium"
aufgelöst (95). Noetisch gesehen hat den Vorrang das Evangelium
: allein das Evangelium vermag die Wirklichkeit in ihrer
Forderung im letzten Sinne recht zu deuten. „Evangelium" kann
daher für die ganze Botschaft stehen. „Das Evangelium ist das
Offenbarungszeugnis als Ganzes, wenn man die Bibel deutet als
das dem Glauben als unverdiente Gabe dargereichte vereinte
Zeugnis der prophetischen und apostolischen Schriften von
Gottes Heilswerk in der Geschichte des Bundes" (86). Sachlich
gesehen aber hat den Primat das Gesetz: das Ernstnehmen der
Wirklichkeit des gefallenen Menschseins und der radikalen Gerichtsbotschaft
des Gesetzes ist die Voraussetzung für die Botschaft
des Evangeliums als Leben aus dem Tode! Hier gilt Grundt-
vigs „erst Mensch — dann Christ". „Das Gesetz muß erst richten
, darnach das Evangelium freisprechen" (265).

Die Beschränkung Gottes auf eine „religiöse" Sphäre (auch
die einer religiös gedeuteten Offenbarung) käme einer Verleugnung
der Herrschaft des Schöpfers über die Schöpfung gleich (99).
Das Ernstnehmen des Gesetzes in der Wirklichkeit lehrt dagegen,
Gott als den „Geber und Herrn alles Lebens ... so konkret, wie
nur denkbar, ja . . . konkreter als denkbar" (also im Sinne des
Schlagwortes: nichtreligiös) zu verstehen (195). Würde die Bezugnahme
auf die Wirklichkeit, vor allem auf das natürliche
Schuldbewußtsein entfallen, so würden Gesetz und Evangelium
vermischt, das Evangelium selbst zum Gesetz einer „speziell
christlichen Ethik" — und die Sündenerkenntnis würde zum
Gesetzeswerk „aus Respekt vor dem Bibelwort . . . jedoch
nicht Frucht des Evangeliums" (98). Umgekehrt würde aber
auch eine Gesetzeserkenntnis allein aus dem natürlichen
Schuldbewußtsein selbstgewähltes Werk des Menschen sein
und zur Selbstgerechtigkeit führen (ebd). „Das Gesetz, nicht
das Evangelium offenbart die Sünde .... aber das Gesetz
kann nicht die Sünde offenbaren, wenn es vom Evangelium
getrennt ist" (ebd). Der Glaube empfängt die Erkenntnis
des Gesetzes nicht aus den Schriften, sondern im Lichte der
Schriften in der Reflexion auf die konkrete Wirklichkeit der
Lebenssituationen (100). Das Gesetz erscheint niemals in Form
abstrakter Normen und Ordnungen (weswegen der Gedanke der
lex naturae abgelehnt wird) (99), sondern in konkreter geschichtlicher
Gestalt, wahrgenommen im usus civilis legis, als die
„Forderung der Situation, die gekennzeichnet wird durch den
Einbruch einer ewigen Forderung in diese bestimmte Zeit" (253).
Und statt von „Schöpfungsordnungen" möchte Prenter lieber
von „Bünden" sprechen, in denen die durch die Schöpfung gesetzte
Forderung Gottes geschichtliches Dasein gewinnt.

Die rechte Verbindung und Unterscheidung von Gesetz und
Evangelium wird weiterhin bei der Entwicklung der dogmatischen
Themen immer wieder zum Leitmotiv. Rechte Verbindung heißt:
Nur geleitet durch die biblische Verkündigung des Evangeliums
wird die Wirklichkeit der Schöpfung recht wahrgenommen.
Prenter bejaht daher den autoritativen Charakter der dogmatischen
Überlieferung, die durch keine Entmythologisierung etwa
in bloße Existentialien umgesetzt werden darf. Rechte Llntcr-
scheidung aber heißt: Gerade im vollen Ernstnehmen der in der
Erfahrung gegebenen Todeswirklichkeit der Schöpfung wird das
Evangelium als das ganz andere Wort vernehmbar, daß diese
Welt des Todes und Zornes Gottes im Glauben um Christi willen
als Verheißung des Lebens und der Vergebung empfangen werden
kann.

Gesetz und Evangelium bestimmen zunächst das Verhältnis
der Dogmatik überhaupt zur philosophischen Weltoricnticrung
(§ 9, S. 136 ff.). Sie legen sich aus auf das Verhältnis von Offenbarung
und Vernunft. Die philosophische Metaphysik kann bejaht
werden, solange die Vernunft im radikal kritischen Denken
dem Menschen das Sein unter dem Gesetz erhellt: als Bezogen-