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Ausgabe:

1960 Nr. 9

Spalte:

693-695

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Baillie, Donald M.

Titel/Untertitel:

Gott war in Christus 1960

Rezensent:

Voigt, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

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B a i 11 i e, Donald M.: Gott war in Christus. Eine Studie über Inkarnation
und Versöhnung. Mit einem Geleitwort v. J. Baillie. Göttingen:
Vandenhocck & Ruprecht 1959. 216 S. gr. 8° = Theologie der Ökumene
, Bd. 7. Lw. DM 18.50.

Verf., 1954 als Professor für Systematische Theologie in
St. Andrews gestorben, der (presbyterianischen) Kirche von
Schottland zugehörig, gleich seinem Bruder John B. in der ökumenischen
Arbeit hervorgetreten, hinterläßt uns in dem vorliegenden
Buche sein letztes Wort (das Vorwort zur deutschen
Ausgabe „ist wahrscheinlich das letzte, was er geschrieben hat",
Geleitwort von John B., S. 8). Es ist des Verfs. Wunsch, das Buch
möchte dem Austausch zwischen britischer und kontinentaler
Theologie dienen. So spricht es denn aus einer Vertrautheit besonders
mit der neuesten deutschen Theologie heraus, wie sie
für solchen Austausch vorbildlich ist. Die Übersetzung ins Deutsche
(Enno Fischer) verdient unseren Dank und sollte uns Ansporn
dazu sein.

Der Autor überschaut die Entwicklung der Christologie in
den letzten Jahrzehnten. Das liberale Jesusbild hatte für sich, daß
es Jesu volle Menschheit ernst nahm — bis hin zu Jesu seelischer
Entwicklung, zu den Grenzen seines Wissens, zu 6einer eigenen
Religion, auch zu seinen inneren Kämpfen. — Die theologische
Neubesinnung 6eit Barth und Bultmann führt in die entgegengesetzte
Richtung: der historische Jesus wird unwichtig gegenüber
dem Christus des Kerygma und des Glaubens; nur der Auferstandene
sei Gottes Offenbarung in Person. Dabei kommen sich
der äußerste historische Skeptizismus und ein neuorientiertes
dogmatisches Denken entgegen.

Die Absicht des Buches liegt darin, diese beiden divergierenden
Tendenzen des christologischen Denkens auf richtige Weise,
u. d. h. in ungemilderter Paradoxie zusammenzuhalten. B. weiß:
es kann keine Jesusbiographie geben; ein bloßer „Jesuskult"
ließe die Gottheit Christi außer Betracht; wir kommen nicht
ohne die „Christologie" (im spezifischen Sinne) aus. Aber er
widersetzt sich der im heutigen theologischen Denken so verbreiteten
Abwertung des „historischen" Jesus, nicht nur im dogmatischen
Interesse — Inkarnation! —, sondern auch vom neu-
testamentlichen Befund her. Er meint, er „habe ... den Nachweis
geführt, daß es möglich ist, ein zutreffendes Bild von dem
historischen Jesus zu gewinnen" (S. 95/96). Man wird dem Verf.
kaum zugestehen können, daß der kurze Abschnitt (S. 54 ff.), den
er diesem Thema widmet, der verwickelten Problematik gerecht
wird und Gegenargumente stichhaltig niederschlägt. Aber es werden
— bei aller Anerkennung der formgeschichtlichen Methode
ta Ganzen — doch eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die einfach
nicht zu unterdrücken sind. Auch B. weiß, daß es „Gemeindetheologie
" gibt (S. 188), daß Legenden hinzuwachsen können,
daß das kerygmatische Interesse einen starken auswählenden Einfluß
ausübt (S. 57). Aber schließt denn dieses aktuelle Interesse,
um dessentwillen eine Szene, ein Logion usw. überliefert wird,
die Treue der Berichterstattung aus? Bildet sich die Tradition
über Jesu Leben, Lehre und Passion nicht unter den kritischen
Blicken der Augenzeugen? Kann eine Geschichte nicht einfach deshalb
überliefert sein, weil sie — wir fügen hinzu: im historischen
Sinne — wahr ist (S. 57)? Bs. Buch stellt einer in ihren Denk-
gewohnheiten allzu sicher gewordenen ntl. Theologie Fragen,
die sie selbst gründlicher und umfassender sich auch künftig wird
bellen müssen.

c Bei alledem weiß B., „daß die eigentliche christologische
»■tage nicht einfach eine psychologische oder historische Frage
nach Jesus i6t, nach der Beschaffenheit seiner Seele, nach der
Art, wie sein Verstand arbeitete, nach seinem .Selbstbewußtsein'
Ur,d nach den Forderungen, die er stellte; sondern, daß sie grundsätzlich
eine Frage nach dem Wesen und Wirken Gottes ist"
^- 62). Dabei interessiert uns nicht eine Frage antiker Metaphysik
, sondern eine streng theologische: „Ist der erlösende
orsatz, den wir in Jesus finden, Teil des wahren Seins und Wesens
Gottes? Ist das Gott?" (S. 69). Von hier aus wird die In-
,.aJ'nation verstanden, und zwar so, daß Christus „ganz mensdi-
>ch und ganz göttlich" zu nehmen ist, „wobei keine Seite der
"deren irgendeine Grenze setzt" (S. 106). Letzteres würde nach
• geschehen, wenn man sich zur Lehre von der Anhypostasie
der auch zu der von der Enhypostasie bekennen wollte oder zu
en kenotischen Theorien. In diesen Fällen wäre die Menschheit

Christi geschmälert. Auch Karl Heims Gedanken über die
„Führerschaft Christi" werden als unzureichend gekennzeichnet
(wobei wohl übersehen ist, daß es sich bei Heim nicht um dogmatische
Letztaussagen handelt, sondern um apologetische
Vorhofserörterungen).

Am problematischsten werden Bs. Ausführungen, wo er die
Christologie von dem „zentralen Paradox der Gnade" ableitet.
Alles Gute vollbringt Gott, und doch wird die menschliche Person
in ihrer Verantwortung dadurch nicht aufgehoben (S. 125 ff.).
Die Tatsache, „daß Gott unsere arme menschliche Natur in die
Vereinigung mit 6einem eigenen göttlichen Leben aufnimmt und
uns dadurch noch mehr zur echten Person, aber auch geneigter
macht, alles ihm zuzuschreiben", ist für B. Schlüssel zum Verständnis
der „vollendeten Vereinigung von Gott und Mensch in
der Inkarnation" (S. 128). Er will „die Verbindung und die Analogie
zwischen dem Paradoxon der Gnade, wie ich es genannt
habe, und dem Paradoxon der Inkarnation . . . verfolgen" (S. 135).
Christus erscheint so „in gewissem Sinne" als „der Prototyp des
christlichen Lebens" (S. 139), und man kann von da aus sagen,
„daß in dem vollkommenen Leben dessen, der immer ,das tat,
was Gott gefällt', dieses göttliche Zuvorkommen nichts Geringeres
als die Inkarnation war" (S. 141). B. meint, dieser Zugang
zum Mysterium Christi erlaube uns, „die transzendentesten"
— auf S. 136 wird terminologisch falsch von der „transzendentalen
Christologie" des 4. Evangeliums gesprochen — Behauptungen
einer vollen und starken Christologie mit der offensten Anerkennung
der Menschheit des historischen Jesus zu vereinen"
(S. 141). Man muß dann freilich von Jesus Christus sagen, „daß
die Inkarnation des Wortes Gottes in ihm durch seine ständige
Empfänglichkeit bedingt war", und wenn das so ist, „dann war
sie in gewisser Weise von seiner freien menschlichen Entscheidung
von Augenblick zu Augenblick abhängig" (S. 158).

Daß Ritsehl hier Pate gestanden hat, läßt auch die Versöhnungslehre
erkennen, die B. entwickelt. Wir können nicht die
Einzelheiten darstellen. Gut, wie versucht wird, die Lehre von
Christi Pereon und Werk einheitlich durchzuzeichnen. Vergebung
allein — das kann nicht genügen. Es bedarf der Versöhnung. Sie
wird mit Nachdruck als Gottes eigene Tat dargestellt. Freilich
nicht etwa im Sinne einer satisfactio vicaria. „Gott muß unseren
Sünden gegenüber unerbittlich sein, nicht um seiner Gerechtigkeit
, sondern um seiner Liebe willen, nicht trotz, sondern wegen
seiner Liebe, nicht weil seine Liebe begrenzt, sondern weil sie unbegrenzt
ist und weil ,nichts außer der Liebe unerbittlich ist' "
(S. 180). „Er trägt meine Schande, als ob es seine eigene wäre,
weil er mich so lieb hat" (S. 181). „Keine Spur irgendeines Gegensatzes
zwischen dem Zorn Gottes und der Liebe Christi, keine
Spur der Vorstellung, daß Gottes Haltung gegenüber den Sündern
durch das Opfer Christi aus Zorn und Gerechtigkeit in
Liebe und Barmherzigkeit umgewandelt werden mußte" (S. 193).
So hat das Heilswerk Jesu Christi nicht den Sinn, eine neue Situation
zu schaffen, wie denn — unter Berufung auf die neuerdings
gern zitierte, m. E. aber auch gern überinterpretierte Stelle
Apok. 13, 8 — Christi Versöhnungstat seit aller Ewigkeit in alle
Ewigkeit vor sich geht (S. 196 ff.), denn „sein Sühnopfer und sein
fürbittendes Eintreten sind identisch" (S. 201). Von da aus ist
es nicht weit zur römischen Meßopfertheorie, die (wenn auch mit
gewissem Vorbehalt, S. 202) von hier aus abgeleitet wird. Man
sieht: es mehren sich die Zeichen für eine unterirdische Verbindung
zwischen dem römischen Denken und einem calvinistischen
Supralapsarismus. Inkarnation ist — das wundert nach dem bisher
Gesagten niemanden mehr — das „Zutagetreten der göttlichen
Versöhnung in der menschlichen Geschichte" (S. 206); sie hat,
so könnte man sagen, kognitive Bedeutung.

Dem hier gegebenen Bericht eine explizite Kritik hinzuzufügen
, erübrigt sich; die Meinung de6 Rezensenten wird ohnedies
erkennbar sein. Auch über Einzelheiten soll nicht weiter verhandelt
sein (wie etwa die dem Verf. nicht deutlich gewordene
Unterscheidung von „geschichtlich" und „historisch", S. 72, und
ähnliche Feinheiten, die dem Manne anderer Zunge nicht ganz
leicht zugänglich 6ein dürften). Der Satz, daß die Offenbarung in
der Inkarnation weniger als irgendwo sonst verhüllt ist (S. 49),
deutet auf eine Unklarheit an zentraler Stelle. Aber das alles
soll uns nicht weiter beschäftigen. Was an dem Buche wirklich
wohltut, ist m. E. zweierlei. Einmal, daß das Buch sich als das