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Ausgabe:

1960 Nr. 9

Spalte:

691-692

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Werner, Martin

Titel/Untertitel:

Glaube und Aberglaube 1960

Rezensent:

Benckert, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

692

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Werner, Martin: Glaube und Aberglaube. Aufsätze und Vorträge,
gesammelt aus Anlaß seines 70. Geburtstages. Bern/Stuttgart:
Haupt [1957]. 261 S., 1 Taf. gr. 8°. sfr./DM 20.—.

Der Kantonalvorstand des Vereins für freies Christentum
der bernischen Landeskirche hat diese Aufsätze und Vorträge
M. Werners zu dessen 70. Geburtstag (1957) gesammelt und
herausgegeben.

Neun Arbeiten sind bereits verstreut veröffentlicht:
Krieg und Christentum 1936.

Was stellt das Hostienmühlefenster des Berner Münsters dar 1941.
Das „apostolische Glaubensbekenntnis" 1942.
Die soziologischen und ethischen Grundlagen der Armenpflege 1946.
Erasmus und Luther 1946.

Die religiöse Bedeutung des Apostels Paulus 1947.
Psychologisches zum Klostererlebnis Martin Luthers 1948.
Konfuzianismus und Taoismus in Alt-China 1954.
Der Alkoholismus als ethisches Problem 1954.

Dazu kommen sechs noch nicht veröffentlichte Arbeiten:
Aberglaube und Glaube 1948.
Religion und Naturwissenschaft 1953.
Soziale Frage und Religion 19 53.

Christentum und Säkularisation als Problem der abendländischen

Geistesgeschichte 1955.
Der Sinn der Bergpredigt und die menschliche Gemeinschaft 1956.
Die Bedeutung der Theologie Albert Schweitzers für den christlidien

Glauben 1956.

Ein Geburtstagsbrief an den Jubilar von Albert Schweitzer, eine
vita Werners von P. Marti eingangs und eine Bibliographie (W. Schwarz)
zum Schluß vervollständigen das Ganze.

Es ist ein erstaunlicher Vorgang in der neuen Theologiegeschichte
, daß das universale Genie Albert Schweitzer durch
seine vor und unmittelbar nach dem ersten Weltkriege geschriebenen
Werke nach 20 Jahren und mehr eine richtige „Schule" gebildet
hat. Ihr Initiator ist Martin Werner, der in seinem Hauptwerk
„Die Entstehung des christlichen Dogmas" (1. Aufl. 1942,
2. Aufl. 1954) die dogmenhistorischen Konsequenzen aus der
„konsequent - eschatologischen" Auffassung des Urchristentums
durch A. Schweitzer gezogen hat. Die Wirkung dieses 1957 auch
in England und Amerika erschienenen Werkes wird vermutlich
bei uns noch beträchtlich verstärkt werden durch die eindrucksvolle
Kurzfassung von 1959 (Urban-Bücher Nr. 38, Kohlhammer -
Stuttgart. 192 Seiten). A. Schweitzer ordnet in seinem freundschaftlichen
Geleitwort zur Aufsatzsammlung diese Dogmengeschichte
weise als notwendige Ergänzung zu Harnacks klassischem
Werk in die Wissenschaftsgeschichte ein: „Du hast uns
eine Dogmengeschichte geschenkt, die in diejenige, welche Adolf
Harnack in seiner Genialität entworfen hat, neue Linien eingetragen
hat und ihr die Ergänzung zuteil werden läßt, deren sie
bedarf" (S. 8).

Auf die Frage nach der Konsequenz aus Schweitzers Auffassung
für die systematische Theologie, ob z. B. die
immanente Existenztheologie F. Buris zu einer solchen möglichen
Konsequenz gehört, scheint mir eine Antwort möglich zu sein,
wenn man Werners Vortrag „Die Bedeutung der Theologie Albert
Schweitzers für den christlichen Glauben" (S. 96—114) liest.
Statt einiger Bemerkungen über die gesamte Sammlung möchte
ich mich darum auf genauere Bemerkungen zu diesem einen Vortrag
beschränken. Nach ihm lernen wir von Schweitzer folgendes:

1. Der Glaube nimmt die historische Erforschung
der Geschichte des Christentums ernst. Von ihr aus ist der grundlegende
Gedanke der Offenbarung auf seine Wahrheit neu zu
überprüfen und von den offenkundigen Irrtümern der Lehr-
Offenbarungstheorie zu entlasten. So ergibt sich um der Wahrhaftigkeit
willen die Aufgabe der „Enteschatologisierung" (so
Schweitzer) des christlichen Glaubens.

2. Die Konsequenzen für den Glauben heute sind, (a) daß
nun, nachdem die Botschaft Jesu und die Lehre des Paulus durch
die konsequent-eschatologische Interpretation erst recht verständlich
geworden sind, die innere und bleibende Wahrheit des
Glaubensinhaltes erfaßt werden kann. Ferner (b) wird aus der

Einsicht in die geschichtlich notwendige Enteschatologisierung
verständlich, daß es in der geschichtlichen Entwicklung zu konfessioneller
Zersplitterung und damit zu Verwirrung und Unsicherheit
des christlichen Glaubens kommen mußte; denn es bedeutete
verwirrenden Selbstwiderspruch, wenn der Glaube am
ursprünglichen Sinn festzuhalten behauptete, ihn aber faktisch
ständig veränderte, und es brachte Unsicherheit, wenn man solchen
Glauben vor der Vernunft und der Erfahrung rechtfertigen
wollte. Schließlich aber (c) und vor allem: In allen Wandlungskrisen
wird die eigentliche christliche Wahrheit „zutiefst stets
gesucht als die Wahrheit, die dem Menschen die Frage nach der
Sinnerfüllung seiner Existenz, seines Menschseins zuverlässig
beantwortet" (S. 104). Ohne Frage kann man hier bereits deutlich
den sachlichen Ansatzpunkt für Buris Theologie sehen. Auch
wird in diesem Zusammenhang die Herkunft der „Neu-liberalen
Theologie" aus der alten liberalen Dogmatik sichtbar. Denn es
geht um die alte Aufgabe, in der dauernden Veränderung des
zeitbedingten und unwesentlichen Ausdruckes die — natürlich
zeitlose — tiefere Wahrheit zu finden, die in einem letztlich positiven
Verhältnis zu den tiefsten Erfahrungen menschlichen
Selbsterlebens steht.

3. Inhaltlich weist Schweitzer nach Meinung Werners folgenden
Weg: Der beherrsende christliche Grundgedanke ist die
Idee des Reiches Gottes, welche, entesdiatologisiert, besagt, Änderung
der Gesinnung gewähre Teilnahme an diesem Reich.
Nicht mehr geht es um einen übernatürlichen Einbruch des Reiches
, sondern um Sinnerfüllung der menschlichen Existenz. So ist
die entscheidende Frage: Wie kann ich mein Leben so leben, daß
es wahrhaft wert ist, gelebt zu werden? Antwort: Durch die
„ethische Mystik der Ehrfurcht vor dem Leben". Daraus entfaltet
Werner als Kern des Schöpfungsgedankens unsere Ursprungsbeziehung
, d. h. die Grundhaltung, in der und durch die das Verhältnis
des Menschen zu sich selbst, zur Welt und zum Geheimnis
der göttlichen Schöpfung eindeutig in Ordnung kommt, — eine
Existenz, die das „Sein dem Nichtsein vorzieht". Da aber der
Sinncharakter der Welt „Sinnzwiespältigkeit" ist, bleibt die
Frage, wie der Glaube in solcher Sinnzwiespältigkeit bestehen
kann. Er vermag sich seiner Bestimmung entsprechend auch und
gerade in Belastung durch Sinnzwiespältigkeit oder gar Sinnlosigkeit
sinnhaft zu verhalten. Den immer geheimnisvollen Tod
z.B. erkennt er in Ehrfurcht „irgendwie" als das Geheimnis einer
Seinsverwandlung. Schuld i. e. S. wird für ihn „sich selber schuldig
bleiben": „In der Haltung des Glaubens nimmt der Gläubige
den verlorenen Sohn, den er in sich selber findet, ohne Selbsthaß
und Ungeduld wieder an und auf" (S. 112). Erlösung ist aber
Erwecktwerden zum Glauben und Bewährung des Glaubens.

Kann es noch deutlicher werden, daß hier die Theologie
schon zur religiösen Anthropologie geworden ist? Wenn selbst
„Vergebung", die doch nie aus mir, sondern immer nur auf mich
zukommt, den Menschen mit sich allein läßtl Ist es Zufall, daß
— im Unterschied zu Schweitzer — von „Gott" nicht mehr geredet
wird? Erledigt ist der Glaube an die hereinbrechende Erlösung
. Aber steht das Kommen des erlösenden Gottes in
offenbarer Herrlichkeit als Wirklichkeit nicht jenseits der
anschaulichen Vorstellung eines übernatürlichen Machtgeschehens
und einer abstrakt-mystischen Begrifflichkeit ideeller
Art?

Und wenn zuletzt die Christlichkeit der „Ehrfurcht vor
dem Leben" in dem „Ergriffensein durch den Christusgeist"
(S. 114) gesehen wird, dann liegt die Einsicht nahe, daß nun in
der Tat Buris Existenztheologie auf der gleichen Linie denkt,
indem auch in ihr die Geschichte der Christologie — vom Neuen
Testament an! — zur Geschichte verschiedenartiger Existenzauslegungen
(christlicher Selbstverständnis6e), Christus zum
„Christusgeist" wird. Wieder sind wir vor die unsagbar schwierige
Frage nach der „Wirklichkeit", der Wirklichkeit Gottes
wie der Welt und des Menschen gestellt. In der Zeit supra-
natural-orthodoxer Gefahr bedeutet die neu-liberale Warnung
ein nötiges Korrektiv.

Rostock Heinrich Beockert