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1960 Nr. 9

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Christliche Kunst und Literatur

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

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das kritisch alles gelebte Leben in Frage stellt mit dem Ziel, dadurch
eine Ahnung vom /wahren menschlichen Wesen' zu erzeugen
" (S. 60).

Aus dieser Haltung schuf Kafka mit seiner Dichtung, vornehmlich
mit seinen Romanen, abstrakte Modelle des Daseins,
in denen sich die Weltverhältnisse unserer Zeit spiegeln. Er
wurde dabei nicht zum Anwalt irgendeiner Seite, nicht zum
Künder einer Lehre, sondern zeigte die Notwendigkeit der inneren
und äußeren Erfahrungen des modernen Menschen. Weil
Kafkas Dichtung von umfassendem Charakter ist, weil es ihr um
das Ganze des Daseins geht, indem sie sich hütet, von besonderen
Inhalten zu handeln, kann Emrich sagen, sie gestalte „das Universelle
" und kann von ihrer „universellen Thematik" sprechen.

Mit der Art dieser universellen Thematik begründet Emrich
in einem zweiten Teil: „Jenseits von Allegorie und Symbol", daß
die dichterischen Bilder, aus denen jene Modelle des Daseins 6ich
aufbauen, nicht mehr im traditionellen Sinn als Parabeln, Allegorien
oder Symbole bezeichnet werden können. Da sie nicht vor
einem festen Hintergrund stehen, sind sie nicht in spezifischer
Weise zu beziehen, sondern vielfach auswechselbar. Kafka befindet
sich in der Lage, ,,da6 Universelle" mit Mitteln ausdrücken
zu müssen, die es nicht auszudrücken vermögen. Denn unsere
Sprache sowie sämtliche der Wirklichkeit entnommenen Bilder
zielen nicht auf das Universelle, sondern verdecken es in ihrer
Konkretheit. Dennoch enthalten sie es in ihrer Gesamtheit; es
steckt verborgen in ihnen. Um was es sich hier handelt, hat Kafka
mit seiner Dichtung ausgesprochen. Sie besitzt „einen Gleichnischarakter
, für den die seitherige Ästhetik und Poetik noch keinen
Namen bereitgestellt hat, weil eine derartige Gleichniswelt vor"
Kafka „noch nicht in Erscheinung getreten ist" (S. 81). Während
Goethe durch die Erforschung der Phänomene zum Urphänomen
zu gelangen trachtete und im Symbol auf das Wesen der Dinge
hinweisen wollte, weil die sinnlich erfaßbare Erscheinungswelt
und das Universelle für ihn unmittelbar zueinander gehörten, ist
für Kafka das „Universelle .. . nur zu erreichen durch Preisgabe
gerade der sinnlichen Erscheinungswelt" (S. 82). Emrich entwickelt
diese Vorstellungen Kafkas aus dessen geistesgeschichtlicher
Situation: Für den jungen Kafka waren die Naturwissenschaften
von großer Bedeutung, und er machte sich die Einsicht
zu eigen, „daß durch das Denken dieser Wissenschaft die Anschaulichkeit
der Dinge vernichtet, alle sinnlichen Qualitäten
auf abstrakte Quantitäten reduziert werden" (S. 82). Die wahre
Struktur der Dinge steht im gleichen Verhältnis zu der unabsehbaren
Reihe von Rechenoperationen, die sie erreichen soll, ohne
mit der sinnlichen Erscheinung der Dinge noch etwas zu tun
zu haben, wie bei Kafka das zu bestimmende Gesetz de6 Lebens
zu den unaufhörlichen Protokollen und Aktenstudien der Gerichtsbehörden
in seinem Roman „Der Prozeß" und der Schloßkanzleien
in seinem Roman „Das Schloß". Die Beamten jener
Einrichtungen haben keine Fühlung mit dem Leben der sichtbaren
Erscheinungswelt. Sie können sie nie erreichen und bilden doch
eine Einheit mit ihr. Ihnen gegenüber verteidigt K. (die Mittel-
punktsgestalt im Roman „Das Schloß") die konkrete Welt, indem
er für 6ich selbst kämpft. Damit repräsentiert er die Gegenrichtung
gegen das abstrahierende Denken, ohne das er dennoch
nicht auskommen kann, weshalb es unablässig nach Kontakt mit
den Beamten strebt. Das Wechselspiel, das sich hieraus her-
Jeitet, ist unendlich und kann seiner Natur nach nie zu einer
Lösung finden. Die Gleichniswelt, die Kafkas Dichtung ausmacht
, spiegelt dieses unendliche Wechselspiel, das niemals einen
eindeutig bestimmbaren Sinn enthüllt, niemals 6ich in eine
unsrer gegebenen Begriffssprachen übertragen läßt. Wollte der
Interpret dies versuchen, so würde es bedeuten, daß er die Ver-
rätselung, die den Gehalt der Bildersprache Kafkas bezeichnet,
zugunsten einer der ihm bekannten Teilbereiche des Lebens
ignorierte und damit die Tatsache, daß das dichterische Werk
Kafkas eine selbständige menschliche Äußerung ist.

Das Wesen der Interpretation, die Kafkas Werk durch Emrich
in den den beiden grundsätzlichen Kapiteln folgenden Teilen
fernes Buches erfährt, besteht in der Umgehung einer solchen
Gefahr. Emrich führt den Leser durch die Deutung der gesamten
ßijderwelt Kafkas schrittweise zu intensiverem Verstehen dieser
Kilderwelt, wobei er die Bilder als solche nicht auflöst, sondern

von ihren Funktionen her faßbar werden läßt, so daß sie verstanden
werden können wie eine Sprache, die nicht mehr übersetzt
werden muß, ja nach deren Übersetzung man nicht mehr
verlangt, weil man sich in sie eingelebt hat und von ihrer Unübersetzbarkeit
überzeugt ist.

In seinem dritten Kapitel behandelt Emrich die „fremden
Dinge und Tiere", die bei Kafka als „geheimnisvolle poetische
Welt" „offenbar eine dem Menschen unzugängliche Sphäre beschwören
" (S. 92). Bei ihrer Betrachtung wird handgreiflich
sichtbar, inwiefern man sich, wenn man den Dichtungsstil Kafkas
erfassen will, von den überkommenen Vorstellungen von Allegorie
und Symbol lösen muß. Die merkwürdigen Dinge, die durch
Kafkas Werke spuken (wie die springenden Zelluloidbälle in
„Blumenfeld, ein älterer Junggeselle" oder „Odradek", die auf
zwei Stäbchen gehende sternartige Zwirnspule in „Die Sorge des
Hausvaters" und viele andere), die Tierverwandlungen (wie z. B.
in der bekannten Erzählung „Die Verwandlung"), die Tiererzählungen
(„Der Bau", „Forschungen eines Hundes", „Josefine, die
Sängerin, oder das Volk der Mäuse"), das überraschende Einbrechen
der Tiere in die Menschenwelt (so u. a. in „Ein Landarzt
", in „Der Dorfschullehrer") und all die vielen unbegreiflichen
Erscheinungen, die im Bereich Kafkascher Dichtung hingenommen
werden müssen, können nicht als Ausdruckszeichen
für bestimmte Gehalte gewertet werden, zu denen sie in deutbarer
Beziehung stünden, sondern sie durchbrechen gerade alle
zu bestimmenden Bezüge und sind lediglich von den Funktionen
her zu erfassen, die sie in der jeweiligen Dichtung haben, in der
6ie als Aussage 6tehen. Durch die sorgfältige, vom Text ausgehende
, oft Satz für Satz durchleuchtende Interpretation Emrichs
öffnet sich dem Leser jene vielfältige rätselhafte Welt, die die
Welt der Erzählungen Kafkas bildet. Das Kapitel gipfelt in der
Auseinandersetzung mit der Späterzählung „Der Bau". An Hand
dieser eindrucksvollen, reifen Dichtung zeigt Emrich auf, inwiefern
es Kafka um den Aufbau des wahren „Selbst" des Menschen
in einer sich in ständigem Vernichtungskampf befindenden Umwelt
geht und wie er seine künstlerischen Mittel in den Dienst
dieses Grundproblems seines Lebens stellt.

Das vierte Kapitel: „Der Bau der objektiven Welt und das
verbindliche Gesetz" führt in einen andern Bereich. Emrich interpretiert
hier die Erzählung „Beim Bau der Chinesischen Mauer"
und damit im Zusammenhang stehende Geschichten und Abschnitte
sowie die Erzählung „In der Strafkolonie". Die letzten
drei Kapitel (d. h. die zweite Hälfte) von Emrichs Buch dienen
der Interpretation der drei großen Romane Kafkas: „Der Verschollene
" („Amerika"), „Der Prozeß", „Das Schloß". Daß es
hier um die Gesamtsituation des Menschen und zugleich um die
moderne Welt des 20. Jahrhunderts geht, ergibt sich aus der Natur
der Sache. Der Reichtum, den Emrich dabei durch sowohl dem
Einzelmotiv wie der Gesamtstruktur nachspürende Arbeit zu Tage
fördert, ist erstaunlich. Mag man da und dort manches anders
sehen — wie es bei Auseinandersetzungen mit Dichtung, d. h. im
Bereich der Literaturwissenschaft zu sein pflegt — man wird dennoch
nicht umhin können, die Fülle der Erkenntnisse, die den
Leser überströmen, zu bewundern; sie treiben ihn wie eine Flut,
gegen die sich schwer zu wehren ist, ständig von neuem zu dem
Werk Kafkas hin; denn die Ausführungen Emrichs stellen sich
ohne Eitelkeit und Prätension nur in seinen Dienst.

Greifswald Hildegard E m m e 1

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