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Ausgabe:

1960 Nr. 9

Spalte:

682

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Kirchliches Jahrbuch für die deutschen Alt-Katholiken 1960 1960

Rezensent:

Spuler, Bertold

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

682

Die Protestanten werden vom Bewußtsein geplagt: unzulängliche
Knechte des Herrn zu sein, die Orthodoxen dagegen
werden vom Bewußtsein getragen: Habende und Besitzende zu
sein. Protestantischerseits ist es durchaus richtig, daß man mit
dem Bisherigen nicht zufrieden sein darf, und daß man weiter
forschen und um ein tieferes Verständnis der Geschichte
und des Wesens der russischen Kirche ringen muß. Daher ist
auch die Arbeit von Wilhelm Kahle nur zu begrüßen, denn sie
will auf einige Versäumnisse in der Vergangenheit hinweisen
und zu neuen besseren Begegnungen mit der orthodoxen Welt
ermutigen.

Es ist richtig, wenn der Verfasser bemerkt, daß die Bedingungen
zu einer echten Begegnung da gegeben seien, „wo die
Fragen zwischen den Konfessionen nicht bloße Kathederfragen
bleiben, sondern in das alltägliche Leben hineinreichen", wenn
er aber gleich weiter schreibt: „Es gibt nur eine Landschaft, wo
es in einem längeren Zeitraum zu einer solchen Begegnung zwischen
Protestantismus und Ostkirche, hier der russisch-orthodoxen
Kirche gekommen ist — der baltische Raum", so ist das
nur zum Teil richtig. Solche Räume gab es auch in anderen Gebieten
Rußlands: so z.B. die deutsche Voretadt in Moskau seit
Iwan IV im 16. Jh. bis zum Ausgang des 18. Jh., das Gebiet der
Wolga-Deutschen, die deutschen Kolonien in der Ukraine, auf
dem Kaukasus, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Wie
bedeutend und weitverzweigt die evangelische Diaspora in Rußland
war, darüber kann man anschauliches Material in A. Fech-
ners „Chronik der evangelischen Gemeinden in Moskau" und in
Eduard Winters Werk „Halle als Ausgangspunkt der deutschen
Rußlandkunde im 18. Jh." finden. Im Baltikum dagegen bildete
die russische Kirche lediglich eine Dia6porakirche. Das Baltikum
bildete einen Schicksalsraum einer deutschen Minderheit vom
12.—20. Jh., deren Zahl zwischen 2%—10% geschwankt hat.
Um diesen Raum kämpften die Normannen, Finnen, Russen,
Deutsche, Schweden und Polen. Das, was die Balten nach der
Zerstörung Wendens 1 577 schrieben: „Kein verlassener volk
mucht auf dieser weldt erfunden werden, als wir arme Liff-
lender", stand auch über ihnen geschrieben, als sie während des
2- Weltkrieges ihre Heimat verließen und in dem sogen. Wartegau
angesiedelt wurden. Damit wurde ihr Schicksal endgültig
besiegelt.

Die Lage der Balten war besonders in den letzten Jahrhunderten
zwiespältig: sie gehörten äußerlich zu Rußland, gefühlsmäßig
und geistig aber wußten sie 6ich mit Deutschland
verbunden. Einerseits versuchten sie deutscher als Deutsche zu
sein, anderseits aber standen die Adligen im Dienste der Krone
und galten als die zuverlässigsten Stützen de6 Thrones.

Die Geschichte der Deutschen im Baltikum ist voller glänzender
Leistungen, aber auch voller Tragik und Schuld. Wilhelm
Kahle berücksichtigt in seiner Arbeit auch das äußere Schicksal
der Deutschen im Baltikum. Denn er stellt seine besondere
kirchliche und konfessionelle Frage in einen breiteren historischen
Rahmen und versucht die politischen, gesellschaftlichen
und nationalen Momente herauszustellen. Er weist darauf hin,
daß man viel Schaden durch Standesdünkel angerichtet hat nicht
nur auf dem gesellschaftlichen Gebiete, sondern auch in kirchlicher
Hinsicht. Man nannte die Esten und Letten einfach als
»Undeutschc", man bezeichnete ihre reichen Volkslieder als
„alberne" Lieder, man versäumte, auf ihre berechtigten Forderungen
nach Landreform einzugchen. Auf diese Weise wurde die
evangelische lutherische Bauernbevölkerung der Esten und Letten
vielfach dazu veranlaßt, Verständnis und Trost in den Gebets-
Versammlungcn der Hcrrnhuter zu suchen, oder durch den Übertritt
zur Orthodoxie zu dem ersehnten Stück Land zu kommen,
yie Versuche, die junge lettische und estnische Intelligenz zu
deut6chifizieren, führten zu nichts. In ihrem erwachten Nationalbewußtsein
sahen die Esten und Letten in den Deutschen ihre
Unterdrücker, und sie wandten sich immer stärker den Russen,
vor allem aber den russischen Sozialrevolutionären zu. Der
Verfasser hebt auch die Tatsache hervor, daß das Verhältnis
zwischen dem Protestantismus und der russischen Kirche nicht
"ur dadurch stark belastet wurde, daß die orthodoxe Kirche als
^taatskirche in allen Fragen der Mischehe und der Kindererziehung
rechtlich ganz anders dastand, sondern vor allem durch
die Russifizierungsbestrebungen, bei denen Orthodoxie, Volkstum
und Zarentum als eine untrennbare Dreieinigkeit galten.
Als die neue Zeit mit ihren Revolutionen aber anbrach, sahen
sich 6chon 1905 evangelische und orthodoxe Geistliche gezwungen
, mit den Aufständischen am 1. Mai — in Berson, Lettland
— mitzumarschieren, und als 1917/18 der russische orthodoxe
Bischof Piaton mit dem deutschen evangelischen Professor
Traugott Hahn im Dorpater Gefängnis das gleiche Schicksal teilte
, da kam erst der Bischof zu der Erkenntnis, daß die Mauern,
die zwischen den Christen bestehen, menschlich und nicht göttlich
sind.

Der Verfasser erwähnt wohl die Tätigkeit de6 Herder-
Instituts in Riga, aber gerade dieses Institut diente mehr der
Pflege der Beziehungen mit Deutschland und weniger oder überhaupt
nicht der Begegnung mit der orthodoxen Kirche. Dagegen
hat die lettische evangelische Fakultät an der Universität in
Riga ein Abkommen mit der orthodoxen Kirche abgeschlossen,
wodurch auch den orthodoxen Studenten das Theologiestudium
ermöglicht wurde. Die gleichen Möglichkeiten bestanden auch
an der estnischen evangelischen Fakultät zu Dorpat.

In der Arbeit sind manche Gebiete stark überlichtet, während
andere dunkel bleiben. So z. B. schenkt der Verfasser den
Vorgängen in Estland mehr Aufmerksamkeit als denen in Lettland
. Schade, daß das vorzügliche Bildmaterial nur dem estnischen
Raum entnommen worden ist, während z. B. von Riga, wo
doch eine Fülle von großen Denkmälern der deutschen Vergangenheit
vorhanden ist, wie der Dom, die Petri- und Jakobi-
kirche, das Schwarzhäupterhaus usw., kein einziges Bild gebracht
wird.

Trotz mancher Mängel ist die Arbeit wissenschaftlich verdienstvoll
. Besonders wertvoll und aufschlußreich ist das Belegmaterial
, das teils im Text, teils in den Fußnoten erscheint.
Statistische Daten, Zeittafel der wichtigsten historischen Ereignisse
und Begegnungen, sowie Sach-, Namen- und Ortsverzeichnisse
ermöglichen eine schnelle Orientierung. Der Verfasser hat
vieles im baltischen Raum besser gesehen und beurteilt als mancher
Balte. Denn das Verhältnis des Balten den Esten und Letten
und besonders den russischen Fragen gegenüber ist 6tets 6tark
emotionell geprägt. Die Arbeit wirft neue Fragen auf, und sie
regt zu neuem Erforschen des ganzen Fragenkomplexes an. Die
evangelische Welt ist um ein neues Werk, das zur echten ökumenischen
Begegnung ruft, reicher geworden.

Berlin Karl Rose

Jahrbuch, Kirchliches, für die deutschen Alt-Katholiken 1960 mit

Jahresweiser, kirchlichem Behördenverzeichnis und Verzeichnis der
Autonomen Katholischen Kirchen. Im Auftrag des katholischen Bistums
Bonn der Alt-Katholiken in Deutschland hrsg. v. Benno Schöke,
Karlsruhe; 59. Jahrg. Bonn, Gregor-Mendel-Str. 25: Verlag des Bistums
Bonn [1959]. 96 S. m. Abb. gr. 8°. Kart. DM 2.50.

Das Jahrbuch, diesmal unter neuer Redaktion, enthält wie
stets einen liturgischen Kalender, ein Behörden- und Gemeindeverzeichnis
und dazu eine Übersicht über „Die autonomen katholischen
Kirchen der Welt": darunter werden neben den Alt-
Katholiken die anglikanische Kirchengemeinschaft (mit der Inter-
kommunion besteht), die Orthodoxie und die morgenländischen
Nationalkirchen verstanden. — Daneben bilden den Schwerpunkt
der diesjährigen Ausgabe Schilderungen aus der bischöflichen
Kirche in Amerika (die zur anglikanischen Kommunion gehört),
eine Vorschau auf das von Papst Johannes XXIII. einberufene
Konzil, ferner ein Bericht über „Das alt-katholische Kirchenverständnis
" (von Prof. W. Küppers, Bonn) und eine Darstellung
der Gespräche zwischen Alt-Katholiken und Orthodoxen seit
1874 (von D Dr. E. Hammerschmidt, Mannheim). Weiterhin findet
man Betrachtungen zu kirchengeschichtlichen Einzelfragen.
Berichte (darunter ein „Dem Gedächtnis der Gemordeten'' gewidmeter
), Erzählungen, Beschauliches und Erbauliches. - Das Jahrbuch
enthält zahlreiche Abbildungen und darf für eine Reihe
seiner Beiträge auch ökumenisches Interesse beanspruchen.

Hamburg, z. Zt. Bordeaux Bertold Spul er

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