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Ausgabe:

1960 Nr. 9

Spalte:

680-682

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kahle, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Begegnung des baltischen Protestantismus mit der russisch-orthodoxen Kirche 1960

Rezensent:

Rose, Karl

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679

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

680

Occamismus im großen und ganzen falsch bestimmt ist, so, daß
manches über den Occamismus Gesagte für den Scotismus zutreffend
ist. Daß der Glaube nicht eine Art von Erkennen, sondern
praktische Entscheidung ist (39), mag ehestens auf den Scotismus
zutreffen oder auf die frühe Franziskanerschule, kann aber
60 vom Occamismus keinesfalls gesagt werden, in dem der
Schwerpunkt sich wieder stark von der fides infusa nach der fides
acquisita hin verschoben hat. Daß es im Occamismus (bzw. in der
Franziskanertheologie) keinerlei Bindung an das logische Gesetz
gibt (vgl. 40), müßte übrigens auch noch bewiesen werden. Sogar
über Luther, der ausführlich zur Darstellung kommt, ist manches
gesagt, was sich so kaum halten läßt. Daß Luther so streng an der
Norm der Bibel festhalte, daß ihm selbst alttestamentliche Zustände
und Vorschriften zeitlose Gültigkeit besitzen und er niemals
zugeben wolle, daß auch die christliche Sittlichkeit eine Entwicklung
besitze (65), ist — man kann es kaum anders ausdrücken
— etwa das Gegenteil von Luthers wirklicher Sicht.
Dafür, daß Luthers Verständnis von Recht und Sitte ausgesprochen
historisch ist, lassen 6ich zahllose Belege anführen. Zu
sagen: ,,Es ist eine der großen Tatsachen der Geistesgeschichte,
daß Luthers Auseinandersetzung mit dem Mittelalter nicht ihren
Ausgang genommen hat von einer jener .revolutionären' Keimzellen
, die in der Taulerschen Mystik, in dem Ketzertum
Wiclifs, in der humanistisch gefärbten Laienfrömmigkeit des
15. Jahrhunderts zur Genüge bereitlagen, sondern daß sie eingesetzt
hat bei dem letzten großen theologischen Systematiker, bei
Occam" (40), bedeutet doch wohl eine Simplifizierung des Be-
ziehungsgefüges, in dem Luther zum Occamismus und zur
Taulerschen Mystik usw. steht.

Auch an Einzelstellen 6ind noch Fragen zu stellen: Sind die
Predigerstellen um der theologischen Bildung willen gestijftet?
(38). Im Occamismus Steigerung der Bedeutung der Bibel ins
Absolute? (39). Ist die mit dem Ablaßbrief gegebene Vollmacht
wirklich richtig beschrieben? (46). War Ludwig II. von Ungarn
und Böhmen Schwiegersohn Kaiser Maximilians? (56). Corpus
christianum bei Luther wirklich (in der Sprache von heute) die
Schicksalslage des Glaubens? (62). Hat Müntzer, der zweifellos
ein Taufverächter war, die Erwachsenentaufe vertreten? (80).
Was soll man sich unter einem merkwürdigen Faktotum
unserer Geschichte vorstellen? (99).

Trotz der nicht ganz wenigen und wohl nicht ganz belanglosen
Einwände, die der Rezensent zu erheben hat, muß er bekennen
, daß er das Buch mit Vergnügen und Gewinn gelesen hat.
Der Verfasser versteht lebendig darzustellen und zu veranschaulichen
. Eine Fülle treffsicherer Einzelbeobachtungen sind gemacht
. Die politischen und wirtschaftlichen Vorgänge der Zeit,
die die Reformation mit erklären und in ihrem Einzelverlauf verständlich
machen, sind je nachdem geschickt dargestellt oder angedeutet
. Marginalien, die Zwischenüberschriften ersetzen, gliedern
den Text zweckmässig, erleichtern die Lektüre und machen
das Dargestellte einprägsam. So wenig sich die Bedenken unterdrücken
lassen, so sehr versteht man doch bei der Lektüre, welche
positiven Vorzüge dazu veranlaßt haben, die Stadelmannsche
Darstellung der Reformationsgeschichte wieder abzudrucken.
Markkleeberg/Leipzig Franz Lau

Kocpp, Wilhelm: Johann Arndt und sein „Wahres Christentum".

Lutherisches Bekenntnis und Ökumene. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt
[1959]. 29 S. gr. 8° = Aufsätze und Vorträge zur Theologie
und Religionswissenschaft, hrsg. v. E. Schott und H. Urner, H. 7.
Kart. DM 1.80.

Wilhelm Koepp, dem wir eine grundlegende Untersuchung
über Johann Arndt, die 1912 erschienen ist, verdanken, legt hier
zu ihrer Ergänzung eine Schrift vor, die vor allem Arndts ökumenische
Bedeutung als eines der ersten großen Wegbereiter betont
. Nach einer knappen Charakterisierung des Werkes Arndts
als „eines Mannes der ödhärfsten Orthodoxie" geht er dessen
Einfluß auf die Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte nach, indem
er von den letzten großen Ausgaben des „Wahren Christentums
" im 20. Jahrhundert durch die Jahrhunderte bis auf dessen
„Werden und Geheimnis" (1555—1600) zurückgreift. Die Studie
erweist sich als ein warmes Bekenntnis zu dem Vermächtnis
Johann Arndts.

Ob mit der kurzen Fußnote auf Seite 23 den von Werner
Eiert vorgelegten Feststellungen zur Unio-mystica-Lehre der
Orthodoxie Genüge getan ist, erscheint fraglich. Wir hätten uns
hier eine gründliche Auseinandersetzung gewünscht. Auch ein
Eingehen auf die starken sozialethischen Anstöße, die von Johann
Arndt über Spener auf die von August Hermann Francke proklamierte
Generalreform der Welt aus den Kräften eines erweckten
Christentums reichen und die einen nicht unwesentlichen Beitrag
zur Vorgeschichte des sogenannten Preußischen Staatssozialismus
bilden, hätte man gern gesehen. Diese Seite an Johann Arndt,
der sich so stark sozialkritisch in seinem „Wahren Christentum"
äußert, vermißt man ungern in einer Gesamtwürdigung. Ungeachtet
dessen vermittelt die Studie einen starken Eindruck davon
, daß Johann Arndt tatsächlich eine „der wenigen Gestalten
im Luthertum, die Jahrhunderte mitbestimmt haben", darstellt.

Leipzig Erich Bey reuther

B a e p 1 e r, Richard: Scripture and Tradition in the Council of Trent.

Concordia Theological Monthly XXXI, 1960 S. 341—362.
Bouniii, Herbert J. A.: The Sixteenth-Century „Confessyon of the

Fayth of the Germaynes" in Twentieth-Century American English.

Concordia Theological Monthly XXXI, 1960 S. 363—370.
Hope, C: Martin Bucer und England. Sein Beitrag zur englischen

Reformationsgeschichte.

Zeitschrift für Kirchengeschichte LXXI, 1960 S. 82—109.
Kawerau, Peter: Die Homiletik des Andreas Hyperius.

Zeitscherift für Kirchengeschichte LXXI, 1960 S. 66—81.
Mülhaupt, Erwin: Herrschaft Christi bei Luther.

Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 1, 1959 S. 165—184.
Stupperich, Robert: Karlstadts Sabbat-Traktat von 1524.

Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 1, 1959 S. 349—375.

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

Kahle, Wilhelm: Die Begegnung des baltischen Protestantismus mit
der russisch-orthodoxen Kirche. Leiden-Köln: Brill 1959. XVI, 295 S.
gr. 8° = ökumenische Studien, hrsg. v. E. Benz, II. Lw. hfl. 30.—.

Die vorliegende Arbeit des derzeitigen Berliner Superintendenten
Kahle verdankt ihren Ursprung den ersten Eindrücken
während seines Studienaufenthaltes in Dorpat 1936/37 und
stellt das Resultat eines Jahrzehnte langen fleißigen Sammeins
und Auswertens von weitverstreutem Material dar, um uns ein
Bild über die Beziehungen des Protestantismus zur Orthodoxie
im baltischen Raum vom 16.—20. Jh. zu vermitteln. Mit dieser
Studie will der Verfasser einen Beitrag zu den heutigen ökumenischen
Bestrebungen liefern. Auf Grund des historischen
Materials versucht er an einem „Ausschnitt aus der Gesamtbegegnung
des deutschen Protestantismus mit der Ostkirche"
sachlich der Frage nachzugehen: wie weit man die gegebenen
Gelegenheiten und Möglichkeiten wahrgenommen hat, um zu
einer echten Begegnung zu kommen.

Was die Gesamtbegegnung anbelangt, so wertet sie der Verfasser
mit folgenden Worten: „Im Ganzen gesehen sind es nicht
viele Berührungspunkte in einer Geschichte von 400 Jahren. Die
evangelische Theologie und Kirche ist ihnen nicht nachgegangen
". Diesem summarischen Urteil kann man nicht beipflichten
. Evangelischerseits hat man im Laufe der Jahrhunderte immer
wieder nach Kontakten mit der russischen Kirche gesucht, und
die protestantischen Theologen haben viel Fleiß und Mühe angewandt
, um durch ihre Studien und Publikationen Verständnis
für die Ostkirche in der protestantischen Welt zu wecken. Es
würde sich lohnen und es wäre verdienstvoll, in einer besonderen
Arbeit alles das aufzuzeigen, was die protestantische Theologie
im Laufe der vier Jahrhunderte über die Ostkirche publiziert
hat. Was aber orthodoxerseits in dieser Beziehung geschehen ist,
so steht das Verhältnis wie 1:100. Trotzdem schlagen sich die
evangelischen Theologen, weil 6ie nun einmal Kinder von Dr.
Martin Luther sind, an die Brust und bekennen auch im Hinblick
auf die Ostkirche: mea maxima culpa!

Während wir Protestanten mit Paulus alles das, was dahinten
ist, vergessend, rastlos weiterjagen, ruht die Orthodoxie
in Selbstgenügsamkeit gleich Johannes an der Brust des Herrn.