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Ausgabe:

1960 Nr. 9

Spalte:

657-661

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Von der Mythologie zur mystischen Philosophie 1960

Rezensent:

Schenke, Hans-Martin

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 9

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Das erwartete Ende aber kam nicht. Und so muß nach einem
gewissen Zeitraum dieser Kalender von den Essenern als unhaltbar
wieder aufgegeben worden sein. Und deswegen wissen dann
auch weder Philo noch Josephus etwas von ihm, obwohl er sicher
einmal bei den Essenern, und zwar in der F r ü h z e i t der Gemeinde
, etwa zwischen 150 und 100 v.Chr., in Gebrauch war. Und
damit stimmt wieder überein, daß diejenigen Schriften, in denen
der essenische Kalender vorkommt, lQS, Jubiläen, astronomisches
Henochbuch, alle schon im 2. Jahrhundert v. Chr. abgefaßt sind,
wie wir oben gesehen haben.

Es dürfte heute wohl allgemein anerkannt sein, daß die berühmte
Stelle im Habakukkommentar, Kol. 11, 4—8, wo von dem
Konflikt des „Frevelpriesters" mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit
" die Rede ist, den Sinn hat, daß der amtierende Hohepriester
in Jerusalem nach Qumrän kam, um die Feier des Versöhnungstages
nach dem essenischen Kalender dort zu verhindern
und die Durchsetzung des Jerusalemer Kalenders zu
erzwingen. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Kalenderdifferenz
der eigentliche Grund dafür gewesen ist, daß der
„Lehrer der Gerechtigkeit" mit seinen Anhängern vom Tempel
in Jerusalem weg ins Exil gehen mußte. Denn an einem Tempel
kann nur e i n Kalender gelten.

Dann wird es aber nicht so gewesen sein, wie A. Jaubert
und J. T. Milik meinen, daß der „Frevelpriester", d. h. der
Makkabäer Jonathan, die Einführung des „weltlichen", babylonischen
Kalenders am Tempel in Jerusalem erzwungen hat, statt
des bis dahin geltenden „alten", „priesterlichen"
Sonncnjahrkalenders, und daß er damit Erfolg hatte. Das Umgekehrte
ist wahrscheinlich: Der „Lehrer der Gerechtigkeit"
hat versucht, anstelle des geltenden babylonischen Kalenders am
Tempel, um der besseren Sabbatheiligung willen seinen
neuen (essenischen) Kalender einzuführen. Er ist damit aber
gescheitert, und so mußte er ins Exil gehen.

Noch ein kurzes Wort zu den neutestamentlichen Konsequenzen
, die A. Jaubert zieht'0. Sie meint, Jesus habe gemäß dem
essenischen Kalender das Passamahl mit seinen Jüngern am
Dienstagabend als 14. Nisan gefeiert. Gekreuzigt wurde er aber
nach dem offiziellen, babylonischen Kalender am Freitag,
14. Nisan. Damit gewinnt sie nun anstelle der gedrängten 24
Stunden für den Ablauf der Passionsereignisse, wie sie alle vier
Evangelien bieten, einen Zeitraum von drei Tagen, in denen sie
nunmehr bequem alle Ereignisse unterbringen kann. Vor allem beseitigt
sie damit den alten Anstoß, daß der Verlauf der Syne-

Auch die relativ am nächsten 6tehende Stelle im slawischen Henochbuch
(ed. A. Vaillant. Paris 1952, S. 71) spricht nur den allgemeinen
Gedanken aus, daß die Natur ebenso wie die Menschenwelt auf das
Ende zu völlig in Unordnung geraten werde. Von Erde und Pflanzen
heißt es da (nach der Übersetzung von Vaillant a. a. O.): Toute la terre
changera son ordre, et tout fruit et toute herbe changeront leurs temps:
car ils attendront le temps de la destruetion. Also nur die Unordnung
'"gemein, gerade nicht speziell die Verzögerung wird hier ausgesagt
.

10) S. dazu auch den sorgfaltigen, die neutestamentlichen Konsequenzen
von A. Jaubert widerlegenden Aufsatz von Josef Blinzler,
Qumrän-Kalcndcr und Passionschronologie, ZNW 49, 1958, S. 238-251.
Ebenso Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 3. Aufl. 1960,
S. 18-19.

driumsitzung zur Verurteilung Jesu dem jüdischen Recht widerspricht
, nach dem bei Halsgerichtsprozessen mindestens zwei
Sitzungen notwendig waren, die eine für Verhör, die andere für
Verurteilung — beide am Tage —, und zwar getrennt durch mindestens
eine Nacht. Nun hat A. Jaubert Zeit für zwei Sitzungen,
die erste am Mittwoch, die zweite am Donnerstag. Nun hat sie
auch am Donnerstag noch Zeit genug, das lukanische Sondergut
über die Vorführung Jesu vor Herodes auf Veranlassung des
Pilatus (Lk. 23, 6—12. 15) unterzubringen.

Und so löst sie auch spielend das Problem, daß Johannes
(12, 1—8) die Salbung in Bethanien „6 Tage vor dem Passa" ansetzt
, Markus (14,3—9; ihm folgend Matth. 26,6—13) dagegen
die Zeitangabe hat (Mk. 14,1) „nach zwei Tagen war das Passa".
Für sie hat Johannes gezählt vom „offiziellen" Passa an rückwärts
, d. h. vom Freitag, 14. Nisan, ohne den Freitag selbst mitzuzählen
. Die Salbung in Bethanien war also am vorhergehenden
Samstagabend. Markus dagegen zählt nach dem „priesterlichen"
(essenischen) Kalender vom Dienstag als 14. Nisan an rückwärts,
ohne den Dienstag mitzuzählen. Zwar kommt man dann, wenn
man ebenso zählt wie bei Johannes, auf den Sonntag und nicht
auf den Samstag. Aber so genau braucht man das juerd dvo
fjfiEQas (Mk. 14, l) nicht zu nehmen; es ist nicht Sonntag, sondern
der gleiche Samstagabend wie bei Johannes, — und so paßt
alles harmonisch. Wozu hat eigentlich die neutestamentliche
Wissenschaft nun wirklich recht schlüssig erarbeitet, daß die ursprüngliche
Einzelgeschichte der Salbung in Bethanien erst sekundär
hier in den Ablauf der Passion eingeordnet wurde, da ja
Mk. 14, 1—2 seine eigentliche, unmittelbare Fortsetzung in Mk.
i 14, 10—11 hat. Diese literarkritische und traditionsgeschichtliche
Überlegung kostet Fräulein Jaubert nur zwei Anführungsstriche:
II y a lä une difficulte qu'on a resolue en general en disant que
Mc./Mt. avaient „transfere" l'onction dans le contexte du recit
de la Passion".

Bs ist hier nicht der Ort, sich im einzelnen mit all den exegetischen
Schwierigkeiten, ja Unmöglichkeiten einer solchen Konstruktion
auseinanderzusetzen. Hier geht es mir darum, grundsätzlich
festzustellen, daß man wissenschaftlich-methodisch nicht
so arbeiten kann, daß man die ganze Forschungsarbeit der letzten
Generationen zur Passionsgeschichte beiseiteschiebt, die ganze
literairkritische Analyse, die ganze formgeschichtliche und traditionsgeschichtliche
Arbeit, und statt dessen zurückfällt in die
wissenschaftlich schon längst überholte Methode der harmonisierenden
Kombination.

Das gilt nicht nur in diesem Falle, sondern überhaupt für
die gesamte Arbeit der Auswertung der Qumräntexte für die
neutestamentliche Forschung. Sie kann grundsätzlich nur geschehen
, indem sie hineingestellt wird in die Gesamtproblematik
der neutestamentlichen Arbeit über den jeweiligen, in
Frage stehenden Sachverhalt. Leider sind hier die Kinderkrankheiten
, wie sie bei jedem solchen neuen Forschungszweig begegnen
, noch keineswegs überwunden, aber immerhin im Abklingen
, und in wachsendem Maße erscheinen sorgfältige Arbeiten
, die ihrem wissenschaftlichen Wert nach von Dauer sein
werden.

") a.a.O., S. 112.

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Jonas, Hans: Gnosis und spätantiker Geist. II, 1: Von der Mythologie
zur mystischen Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1954. XIV, 223 S. gr. 8° = Forschungen z. Religion u. Literatur
des Alten und Neuen Testaments, hrsg. v. R. Bultmann, N. F.
H 4 5. DM 18.-.

Der zweite Teil (erste Hälfte) des Werkes von Hans Jonas
Vpn°sis und spätantiker Geist" mit dem Teil-Titel „Von der
Mythologie zur mystischen Philosophie" zielt auf eine Interpretation
der Gedanken des Philo, des Origenes, des Plotin und der
Mönchsmystik ak Äußerungen des spätantiken gnostischen Geistes
, auf die im ersten Teile1 wiederholt vorverwiesen war. Dabei
reicht die Darstellung selbst in II 1 nur bis zu Origenes;
Plotin und die Mönchsmystik bleiben dem noch ausstehenden
Bd. II 2 vorbehalten. Trotzdem durchzieht der Ansatz und die
Tendenz der Behandlung des Plotin und der Mönchsmystik
natürlich schon den ganzen Bd. II 1. Die Gedanken eines Philo,
eines Origenes, eines Plotin und der Mönchsmystik werden als
gnostisch aufgefaßt und gedeutet, weil und insofern als sie
Objektivationen derselben Daseinshaltung sind, die sich auch in
den mythologischen Systemen der eigentlichen Gnostiker Ausdruck
verschafft. Nun stehen aber die Gedanken der genannten
Denker als Objektivationen der durch die Entweltlichungstendenz

') Vgl. die Besprechung von dessen 2. Aufl. in ThLZ 1959, Sp. 813
- 820.