Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1960 Nr. 8

Spalte:

622-623

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ermecke, Gustav

Titel/Untertitel:

Zur ethischen Begründung der Todesstrafe heute 1960

Rezensent:

Althaus, Paul

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

621 Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 8 622

ist wertbestimmt. Wir sind nur 60 füreinander da, daß wir gemeinsam
Werte sehen und anerkennen. Ihre Seinswei6e ist aber
schwer definierbar. Sie haben keine eigene Existenz, weshalb es
auch keine „Wesenschau" der Werte gibt. Sie sind da, aber nur
in den konkreten Lagen, wo wir uns entscheiden müssen. Sie begegnen
uns, wo wir einen Widerstand zu überwinden haben, um
etwas „Wertvolles" zu verwirklichen. Wo scheinbar neue Werte
geschaffen werden (wie die marxistische Gerechtigkeit scheinbar
etwas ganz Neues gegenüber der bürgerlichen war), ist schließlich
doch ein gegenseitiges Verständnis möglich, d. h., daß das
„Neue" doch potentiell, ja latent schon da war. Die Werte fordern
uns für 6ich. Letzten Endes existieren sie aber doch nur für
uns, für unsere Wahl, und können im eigentlichsten Sinn nicht
befehlen. Sie bilden auch für unsere Erkenntnisse kein einheitliches
Reich. Eher befehden sie bisweilen einander; ein Wert ruft
einen Gegenwert hervor. Wir sind auch nicht imstande, einen
höchsten, absoluten Wert, ein summum bonum, festzustellen.

Das hängt damit zusammen, daß die Werte keine ewigen
Wesenheiten sind. Sie machen nicht die eigentliche Substanz der
Welt aus. Sie 6ind keineswegs übersinnlich, göttlich, ewig, weder
eine Art von platonischen Ideen, noch göttliche Attribute. Sie gehören
der geschaffenen und deshalb auch der gefallenen Welt
an. Weder für die Erkenntnis noch für die ethische Wahl bilden
sie eine Brücke zwischen Geschöpf!ichkeit und Transzendenz. Sie
ermöglichen keine natürliche Theologie. „Ich steige nicht aus der
Geschichte der Sünde heraus, dadurch daß ich mich den Werten
unterwerfe" (S. 267). Sie haben zwar eine Autorität, aber keine
letztgültige. Sie sind gottgegebene Schranken für unser irdisches
Dasein, weshalb sie aber auch uns Aufgaben auflegen. „Falls ein
Humanismus möglich ist, dann eben deshalb, weil die Aktualisierung
der Werte uns offenbart, daß ein Sinn, und zwar ein unerschöpflicher
Sinn, sich in der Schöpfung wie in der Humanitas
findet" (S. 254). „Die Erkenntnis der Werte macht uns zu ethischen
Subjekten, d. h. zu Subjekten, für welche die Wahl unent-
gehbar ist, Menschen, die jede Situation in ihrer Vieldeutigkeit
durchleben, und die die Forderung einer Entscheidung erkennen"
(S. 226). Wären die Worte ewige, endgültige „Ideen", Offenbarungen
der übersinnlichen Welt, dann wäre eigentlich die
menschliche Wahl dahin und somit auch seine Persönlichkeit
nichtig. Dann hätte der Mensch die gegebene und klar definier-
barc Aufgabe, sich diesen normativen Wesenheiten konform zu
machen.

Man wird verstehen, daß Mehl der Versuchung erliegt, die
Werte mit dem schöpfungsmäßig gegebenen Gesetz praktisch zu
identifizieren. Ohne Christus vermögen die Werte in ihrer Vielfältigkeit
uns eigentlich nur der Sünde zu überführen. „Das Licht,
das von den Werten kommt, macht uns unentschuldbar" (S. 225).
Die platonische Weisheit fand die Sünde in der Unwissenheit.
Paulus hat tiefer gesehen: Erkenntnis des Gesetzes bringt die
Sünde hervor. Ohne Christus können die Werte, ganz wie das
pharisäische Gesetz, ein Fluch, ein unerträgliches Joch, sein.

In Christus werden wir freigemacht, nicht von den Werten,
sondern gerade für eine echte Wahl in dieser Welt der Werte.
Wir verstehen sie jetzt als Gottes Gabe an uns, eine gnadenreiche
Schranke für unsere Freiheit und gerade 60 als die eigentliche
Ermöglichung dieser Freiheit. „Der Mensch versteht, daß
die Schöpfung gut ist, daß die seinem Wollen durch die Werte
auferlegten Grenzen gut sind, und er findet Freude daran, innerhalb
dieser Grenzen das Gute zu tun. Wenn dem sündigen Menschen
die Werte ein Hindernis für das, was er seine Freiheit
wähnte, waren und sich wesentlich als Schranken und Verbote
ausdrückten, definieren diese selben Werte dem gerechtfertigten
Menschen die freudige Endlichkeit seiner Lage" (S. 230). Und
Mehl behauptet dann auch direkt, daß, wie es keine metaphysischen
Werte, so auch keine christlichen gebe. Gott bekennt sich
jn seiner Offenbarung zu den Werten, die der natürliche Mensch
in der geschaffenen Welt entdecken kann und tatsächlich entdeckt.
Mittels einer sehr gekünstelten Exegese findet Mehl dies bestä-
J'gt in Röm. 10,16 in seiner Verbindung mit Deut. 30 (S. 232f.).
Und so behauptet er dann auch, daß Paulus in dem „ethischen"
Teil des Römerbriefcs die Gläubigen hinweist auf alle diejenigen
Werte, welche er den Katalogen der Heiden entlehnt hat, und
welche die Christen deshalb sehr wohl kannten, ohne ihre wirkliche
Autorität feststellen zu können. Als ob das nun gerade bei
Röm. 12—15 deT Fall wäre!

Freigemacht durch die Rechtfertigung kann der ethische Akt,
weil er in einer fundamentalen Freiheit verwurzelt ist, eine freie
Wahl zwischen den Werten werden, das Subjekt braucht nicht
mehr zu fürchten, weder den Fanatismus, der aus einem Vorrang,
den man einem bestimmten Wert gibt, kommt, noch die subtile
Knechtschaft, die einer Treue gegen einen einzigen Wert entstammt
, noch daß seine Freiheit gebunden werde an den Dienst
objektiv gegebener Werte.

Selbstverständlich weiß Mehl, daß der Mensch den letzten
Sinn seines Lebens nicht in der Wahl der verschiedenen Werte
finden kann. Das eigentliche Band zwischen Gott und Mensch ist
nicht der Dienst an den Werten, sondern das persönliche Wort
Gottes. „Die Werte sind fern davon, ein ontologisches Band zwischen
dem Subjekt und Gott bilden zu können; wenn aber der
Mensch in der Rechtfertigung 6ein normales Verhältnis zu Gott
findet, ist er befähigt, den Werten zu dienen als Ausdruck des
ontologischen Bandes, des Bandes der Sohnschaft, das ihn, im
Glauben, mit Gott einigt. Jede Anthropologie hat zwar eine
ontologische Sicht, sie kann sie aber nicht durch die Vermittlung
der Werte verwirklichen, im Gegensatz zu dem, was der Sokrates
des Phaidon meinte, wenn er behauptete, die Seele sei „Schwester
der Ideen!" (S. 266).

Wo Karl Barth sich darauf rüstet, die Probleme der konkreten
Ethik anzugreifen, redet er von der vertikalen und der
horizontalen Linie: das Wort Gottes und die Gegebenheiten dieser
Welt. Das Problem ist ihm zunächst, woher man dieses Letztere
kennt. Bekanntlich antwortet er selber mit seiner Lehre von der
analogia relationis. Mehl dagegen bringt hier seine der Philosophie
entlehnte, aber gründlich domestizierte, ja christlich zurechtgelegte
Lehre von den Werten. Andere reden bekanntlich von
den „Ordnungen" der Welt oder verwenden modernere Ausdrücke
wie etwa Mandate.

Ist ,,alle6 hier erlaubt"? Doch wohl nicht. Und „nicht alles
nützt", weder die Barthsche Analogielehre, noch die altbekannte
Lehre von den Schöpfungsordnungen und doch wohl auch nicht
die Mehlsche Wertphilosophie. Man versteht Mehls Kampf gegen
eine Existenzphilosophie ä la Sartre, und man wertet seine klare
Abgrenzung gegen den Piatonismus sehr hoch. Kann aber eine
Wertphilosophie ohne „Piatonismus" das leisten, worauf Mehl
aus ist? Kann ein Feststellen solcher Werte (wenn ein solches
Feststellen möglich wäre) das Leben begrenzen, ihm Sinn geben,
Sartres Existentialismus überwinden? „Nur im Augenblick beginnt
die Geschichte eines Menschen", sagt Kierkegaard. Der
„Augenblick" ist hier der Moment, wo Gottes Ewigkeit unserem
an sich leeren Dasein begegnet. Mehl weiß, daß das nicht in der
Begegnung mit den „Werten" geschieht. Gott kommt in seinem
Wort an uns heran. Ist es nicht so, daß erst dann die Gesdiichte
eines Menschen anfängt und ein Sartre überwunden wird?

Wichtiger, als diese Randanmerkungen anzuhören, ißt es
aber, Mehls Buch gründlich zu studieren und nicht zu schnell mit
seiner Lösung fertig zu werden.

Kopenhagen N. H. Soe

E r m e c k e, Gustav. Prof. Dr. theo]. Dr. phil. Dr. jur. utr.: Zur ethischen
Begründung der Todesstrafe heute. Vortrag. Paderborn:

Schöningh 19 59. 41 S. gr. 8°. Kart. DM 7.—.

Diese an der Erzbischöflichen Philosophisch-Theologischen
Akademie zu Paderborn gehaltene Rektoratsrede will „einen
wissenschaftlichen Beitrag zur Lehre vom ethischen Beweis im
allgemeinen und zur (philosophisch-) ethischen Begründung der
Todesstrafe im besonderen liefern" (so im Vorwort S. 7). Die
heutige Diskussion um die Todesstrafe leidet an „schweren methodischen
und sachlichen Mängeln" (10 f.). Daher sucht Ermecke
zuerst die Methodenfrage zu klären und dann eine moralphilosophische
Lösung des Problems der Todesstrafe zu geben, eine
„christlich-philosophische oder naturrechtliche" Begründung der
Todesstrafe. Der Gedankengang gliedert sich in drei Abschnitte.
Zuerst ist die Rede von methodischen Irrwegen in der Diskussion
über die Todesstrafe heute. Dabei will der Verf. die Fragen nach
der sittlichen Erlaubtheit der Todesstrafe und die nach ihrer prak-