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Ausgabe:

1960

Spalte:

592-593

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Das Ende des Gesetzes : Paulusstudien 1960

Rezensent:

Michel, Otto

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soldien tesrimonia („Reflexionszitate"). Sie mögen vor Matthäus
schon in kleineren oder größeren Sammlungen umgelaufen sein.
Wie sich in der Folge zeigt, konzentriert sich das Interesse zunehmend
auf die Weissagung von Einzelheiten; daher sind testimonia
wie Matthäus 4, 14 ff.; 8, 17 etc., die Jesu Wirken mehr
allgemein im AT angekündigt finden, die älteren. Im Gleichnis-
Kapitel Matthäus 13 (XVIII) dürften die beiden Dreiergruppen
Vers 24—33 und 44—48 (49 f. zerstört das Gleichmaß und ist Zusatz
des Matthäus), die sich durch die Ähnlichkeit der Einleitung
als jeweils zusammengehörig erweisen, ebenfalls früheren Sammlungen
entnommen sein. Vielleicht hat auch erst Matthäus das
Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen 13,24—30 mit dem
Folgenden verbunden, um dadurch Markus 4, 26—29 (Selbstwachsende
Saat) zu ersetzen. Die kleine Kirchenordnung Matthäus
18, u_20 (XIX) gehört nach K. mit 5,47; 6, 7; 10, 5 f. 23 zu
einer nicht näher abzugrenzenden Quelle, die er als „bitterly
anti-Gentile" (S. 133) charakterisiert. Ferner erweisen sich die
drei Gleichnisse Matthäus 18,23-35; 20, 1 ff.; 25, 1 ff. dadurch
als wahrscheinlich zur gleichen Quelle gehörig, daß sie alle
das Himmelreich mit Personen vergleichen und jeweils eine
Sentenz voranstellen — vor 18,23 freilich verdrängt und vor 25,1
abgetrennt (24, 42) —, die am Schluß wiederkehrt. Ähnliches war
Lukas 18,1—8. 9—14; 19,11—27 zu beobachten. Dem dritten
Teil des Buches folgt noch ein Epilog, in dem K. (hier sine ira et
studio) das Verhältnis seiner Arbeit zu derjenigen der Formgeschichtlichen
Methode bestimmt und die Frage nach der geschichtlichen
Zuverlässigkeit stellt. Die von ihm nachgewiesenen
oder vermuteten tracts führen ja auf jeden Fall näher an die Ereignisse
heran. Was man überhaupt vom Selbstbewußtsein Jesu,
vom Sinn des Menschensohn - Prädikates, vom 6og. Messiasgeheimnis
wissen und ßagen kann, wird in großer Nüchternheit
und Besonnenheit dargelegt. Ein Anhang untersucht die Bedeutung
der Oxyrhynchus-Logia: 6ie erweisen sich inhaltlich als
hellenistisch bestimmt, während ihre Form als solche ein unseren
Evangelien voraufliegendes Stadium der Tradition widerspiegeln
könnte. Zur Zeit der Niederschrift dieses Anhangs war der Fund
von Nag-Hammadi zwar bekannt, aber noch nicht zugänglich.

Im einzelnen erheben sich, wie schon beim ersten Band, eine
ganze Reihe von Fragen. Gänzlich unhaltbar erscheint mir z. B.
die Beweisführung auf Seite 86 f., wo die Originalität von
Matth. 10, 37 f. gegenüber Lukas 14, 26 f. dadurch begründet
wird, daß er den Parallelismus bewahrt habe. Als ob nicht auch
die Tradition solche Stilisierungen nachträglich hätte anbringen
können! Derartige Argumente kehren auch sonst wieder. Gelegentlich
meldet sich ein handfester Rationalismus zu Worte.
Matthäus 13, 24—30 z.B. soll 6ich u.a. dadurch als von Matthäus
erweitert erweisen, daß Landarbeiter kaum so dumm (foolish)
fragen würden, wie sie es nach V. 27b tun (S. 130). Ebenso ist
doch wohl die Erzählungsweise der Evangelien an einem fremden
Maßstab gemessen, wenn Lukas 19, 25, weil der Einwurf „rather
pointless" und „gauche" sei, als Einschub betrachtet wird. Eine
kritische Stellung gegenüber Zuwüchsen innerhalb der Tradition
wird einmal so umschrieben, daß man annehme, heidenchristliche
Gemeinden und Kirchenführer hätten viel von den Erzählungen
der Evangelien aus ihrem eigenen Kopf erfunden (S. 139). Vor
allem eine Frage erhebt 6ich immer wieder: Welche Umstände
konnten und mußten zum Entstehen und Weitergeben solcher
tracts, wie K. sie annimmt, führen? Genügt es wirklich, auf die
von den kirchlichen Zentren ausgesandten Missionare hinzuweisen
? War ihnen damit gedient, wenn sie eine Trias von drei
großen Parabeln schriftlich mit sich führten oder auch mehrere
solcher kleinen Sammlungen? Es wird auch nicht deutlich genug,
in welchem Verhältnis beim Entstehen der tracts die formalen
und die sachlichen Gesichtspunkte zu denken sind.

Alle diese Einwendungen können aber nicht leugnen, daß
hier eine höchst notwendige, anregende und förderliche Arbeit
vorgelegt wird. Die Frage nach den Lukas bereits vorliegenden
Quellen ist durch Lukas 1, 1—4 gebieterisch gestellt und mit
der Feststellung, daß zwischen 9, 50 und 18, 15 eine „große Einschaltung
" vorgenommen ist, nur zum geringsten Teil beantwortet
. Es kommt zunächst nicht darauf an, wie E. Hirsch und
H. Hembold (in der Besprechung des ersten Bandes, ThLZ 1956,
442, war die Nichtbeachtung der Helmbold'schen Arbeit K. zu

Unrecht vorgeworfen worden; sie ist erst nach seinem Tode erschienen
) einen Gesamtabriß der synoptischen Literaturgeschichte
zu entwerfen, sondern gerade auf die Kleinarbeit an den
Texten, wie K. sie tut. Man wird seinen — übrigens vielfach ausdrücklich
als Vermutung bezeichneten — Ergebnissen oft widersprechen
müssen. Aber man bewegt sich bei solcher Diskussion
wohl ohnehin ständig nahe an der Grenze dessen, was man überhaupt
wissen kann. Jedenfalls darf, neben der erfreulich in
Gang gekommenen Erforschung der Theologie der Evangelisten,
eine Literarkritik, wie K. sie betrieben hat, nicht abreißen, wenn
die Arbeit der Formgeschichte nicht um einen wesentlichen
Teil ihres Ertrages gebracht werden soll.

Kiel Heinrich Greevcn

Bornkamm, Günther: Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien. Gesammelte
Aufsätze Bd. I. München: Kaiser, l. Aufl. 1952, 2. Aufl.
1958. 216 S. 8° = Beiträge z. evang. Theologie. Theol. Abhdlgn.,
hrsg. v. E. Wolf. Bd. 16. Kart. DM 13.50.

— Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammeitc Aufsätze Bd. II.
Ebda 1959. 257 S. 8° = Beiträge z. evang. Theologie. Theol. Abhdlgn.
Bd. 28. Kart. DM 15.-.

In zwei Bänden hat G. Bornkamm zunächst Paulusstudien,
dann aber auch andere Arbeiten aus der neutestamentlichen
Wissenschaft, schließlich auch Veröffentlichungen allgemeiner
Art vorgelegt. Teilweise waren sie 6chon früher erschienen und
der Öffentlichkeit wohlbekannt, teilweise handelt es sich um
Meditationen und Vorträge, die einem größeren Kreise nicht
zugängig waren. Theologie und Kirche sind in beiden Bänden
angesprochen. Wenn in beiden Bänden auch die Überwindung des
Atheismus als Aufgabe gestellt wird, dürfte an die Nachkriegssituation
gedacht sein. G. Bornkamms wissenschaftliche Exegese
versteht sich nicht nur historisch, sondern als Beispiel der exi-
stentialen Interpretation. In diesem Sinn gehört sie auch in die
gegenwärtige theologische Problematik. Hat man gelegentlich
uns Neutestamentlern vorgeworfen, daß wir zu historisch orientiert
und systematischen Aufgaben nicht genügend aufgeschlossen
seien, so wird man in G. Bornkamm einen Exegeten finden,
der diesen Anspruch immer erfüllt hat. Davon zeugen auch die
beiden Bände.

Ein ernsthaftes Bemühen um die Auslegung des Römerbriefes
ist hier zu spüren. Der Verfasser sieht Paulus vor allem
von der hellenistisch-jüdischen Theologie her. Die Ausdrücke
ihrer Missionspredigt werden verwandt, Sinn und Bedeutung dagegen
verwandelt. Vernunft und Gewissen haben nicht primär die
Funktion, dem Menschen das Sein und Wesen Gottes sowie des
Gesetzes zu erschließen, sondern wollen den Menschen in seiner
Verlorenheit festhalten. Die Umwandlung der Apologetik in Polemik
ist dann auf das Konto des Evangeliums zu setzen. Auch in
dem stark kontroverstheologischen Aufsatz: „Gesetz und Natur"
(über Rom. 2, 14—16), der auf die griechisch - philosophischen
Traditionen eingeht, stellt G. Bornkamm zum Schluß vorsichtig
fest, daß diese Lehre vom Gewissen weite Verbreitung in der
heidnischen Popularphilosophie und im hellenistischen Judentum
gefunden hat (Bd. II 115). Nun soll der Hellenismus des Apostels
gewiß nicht gering geachtet werden; er wird von uns allen
anerkannt. Das Problem besteht aber darin, welche Bedeutung er
für das Paulusbild haben soll. Die Paulusforschung einerseits und
die Geschichte des Hellenismus im palästinisch-syrischen Raum
mahnen doch zu einiger Vorsicht.

Soviel ich sehe, begegnet das vielbehandelte Problem der
Gnosis bei G. Bornkamm in abgegrenzten Bezirken. Grundsätzlich
spricht er darüber in dem Aufsatz: „Mensch und Gott in
der griechischen Antike" (Bd. II 1). Der orientalisch - synkreti-
stische Charakter der Gnosis wird deutlich unterschieden vom
griechischen Lebensempfinden und Denken. Von besonderer
Wichtigkeit scheint mir der Aufsatz: „Die Häresie des Kolosser-
briefes" (Bd. I) zu sein. Hier weitet sich der Blick des Verfassers
auf das Feld der Orientalistik aus, und er kommt zu dem Ergebnis
, daß wir in diesem Brief eines Paulusschülers es mit einer Abart
jüdischer Gnosis zu tun haben. Die gleiche Front des gnosti-
sierenden Judentums findet 6ich im Galaterbrief, im Hebräerbrief
und in den Pastoralbriefen.