Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1960 Nr. 7

Spalte:

535-537

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lackner, Martin

Titel/Untertitel:

Geistfrömmigkeit und Enderwartung 1960

Rezensent:

Koepp, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

535

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 7

536

L o h s e. Bernhard: Melanchthon als Theologe.

Luther — Mitteilungen der Luthergesellschaft 1960 S. 14—23.
Stakemeier, Eduard: Das Konzil von Trient über die Tradition.

Zu einer Untersuchung von Henry Holstein.

Catholica 14, 1960 S. 34—48.
S t ö h r, Martin: Luther und die Juden.

Evangelische Theologie 20, 1960 S. 157—182.
Stupperich, Robert: Melanchthons Weg und Wirkung.

Kirche in der Zeit 15, 1960 S. 111-113.
— Melanchthon — der Mensch und 6ein Werk.

Luther — Mitteilungen der Luthergesellschaft 1960 S. 1—13.

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

L a c k n e r, Martin: Ceistfrömmigkeit und Enderwartung. Studien zum
preußischen und schlesischen Spiritualismus, dargestellt an Christoph
Barthut und Quirin Kuhlmann. Beiheft zum Jahrbuch „Kirche im
Osten" Bd. I. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk [1959]. 145 S.
8°. Kart. DM 9.80.

Quirinus Kuhlmann war der große seherische
Eschatologe des Hochbarock. Wie ein
feuriger Komet zog dieser bizarre, genialische Sektengründer in
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über den ganzen Himmel
Europas und verlosch nach schnellem Lauf fast ohne Nachwirkung
im fernen Osten. Sein Auftritt dauerte nur 20 Jahre, die
zwischen seiner visionären Ersterleuchtung in seinem 19. Jahr,
1669, und seiner russisch-kirchlichen Brenna in einem kleinen
Häuschen aus Pechtonnen und Stroh am 4. 10. 1689 in Moskau
liefen. Sein Lebensgang führte ihn aus der schlesischen Heimat
(geb. 1651 in Breslau) und dem Kulturkreise Ostdeutschlands
ziemlich schnell in die Zentren der damaligen europäischen Welt,
nach den Niederlanden (Antwerpen 1673) und England (London
1674) in deren erregteste und zukunftssichtigste Kreise; unruhig
pendelte er hier umher. Sein Ausdehnung6trieb ging zwischendurch
bis nach Konstantinopel, 1681, und zuletzt über Norddeutschland
bis zum Zaren. Es war nur ein halbes und ein vergebliches
Leben; aber er war der vollendete Barockmensch. So
fesselte seine geschichtliche Erscheinung immer wieder. Die
LiteratuTgeschichtler zog seine übersteigerte barocke dichterische
Genialität an; die Theologen lehnten den bizarr übersteigerten
Phantasten mit Verachtung im Vorübergang ab (so schon vernünftig
-orthodox G. Wernsdorf 1713 und I. C. Harenberg 1732;
beide bei La nicht erwähnt). Beide Betrachtungen zu vereinen,
wurde bisher kaum versucht. La sieht hier eine Aufgabe.

In La's minutiös sorgfältiger Arbeit erscheint aber neben
Kuhlmann ein zweiter Mann, der aus Insterburg stammende gebildete
Ostpreuße Christoph B a r t h u t, begegnend um 1672
al6 Amtsschreiber in Labiau, Zeitgenosse und bleibender Adept
Kuhlmanns. Er war, im Amt und sonst, eine penible Querulantennatur
, seit 1685 privat, ging auch nach Holland, gest. 1693 in
Berlin. La's ursprüngliche Absicht scheint überhaupt eine Dar-
«tellung des ostpreußischen Spiritualismus im 17. Jahrhundert
gewesen zu sein. Dann führte die Verbindung von diesem zu
Kuhlmann nach Schlesien. Die Gestalt Barthuts scheint dabei bis
zuletzt etwas überschätzt, zumindest ist sie neu. Die Gestalt
Kuhlmanns, die neu bearbeitet wird, führt überhaupt vom deutschen
Osten fort.

So ist wohl auch der Aufbau der Arbeit zu verstehen:

Teil A bringt die Grundlagen im 16. Jahrhundert,
den preußischen Spiritualismus und seine Beziehungen zu Schlesien Der
Überblick über den östlichen Schwenkfeldianismus, über die allmähliche
Festigung der lutherischen Kirche ihm gegenüber, manche Einzelschwärmer
, sowie die Rolle der Reformierten ist, im Anschluß an
Tschackert, ausgezeichnet. — Teil B behandelt nach einem guten allgemeinen
Bild des ostpreußischen 17. Jahrhunderts die Gestalt
Barthuts, breit und eingehend sein dienstliches Verhalten, seine
Anfänge für das Wahre praktische und innere Christentum (sehr vordringlicher
Einfluß Joh. Arndts; mein neues Heft über Arndt, EVA 1959,
kennt La noch nicht), seinen Übergang zur reformierten Konfession
1684. Seine Kuhlmannjüngerschaft folgt später. — Teil C bringt hier
eine gute und wissenschaftlich weiterführende Darstellung Kühl-
m a n n s und seines Jakob-Böhmeschen Spiritualismus nach. Sie soll ihm
jenen Platz unter den zahlreichen andern Schwärmern des 17. Jahrhunderts
zuweisen, der ihm bisher noch vorenthalten war (S. 53).
Kuhlmanns eschatologische Gegenwarts- und Selbstdeutung, ebenso

seine theosophischen und heilsgeschichtlichen Konzeptionen werden
eingehend erläutert. —Teil D enthält noch die Geschichte der wenigen.
Jahre Barthuts und der Anhängerschaft Kuhlmanns nach Kuhlmanns
Tod. Man hoffte eine Wiederbelebung des Profeten (die
Kuhlmann nicht geweissagt hatte). Barthut kehrt etwas zu Arndt zurück
und gewinnt auch hier weder durch seine Schriften gegen die
Kirchenverhärtung noch durch seine Unionsbestrebungen eine größere
Bedeutung. Man lernt aber diese Nachgeschichte ganz gern kennen.

Eine wirklich erregende und noch immer rätselhafte Gestalt
bleibt auch bei La's theologiegeschichtlichem Schlußausblick
Quirinus Kuhlmann. Zwei große Wissenschaften, Literaturgeschichte
und Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte haben
6ich bis heute jede für sich um diese hochbarocke Erscheinung
gekümmert, ohne die Ergebnisse wirklich einen zu können (S. 52
Mitte). Kuhlmann, sich zum Juristen vorbereitend, war mit 21
Jahren gekrönter Dichter des Barock. Er hat nie zum theologischen
Studium herübergesehen, wuchs aber vom poeta laureatus
zum gottinspirierten Dichter-Seher. So ist er ak Gestalt aus der
Barockdichtung nicht wegzudenken und kam mit dieser auch in
den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts sofort wieder in den
Blick. 1929 bringen etwa Käte Eschrichs fleißige und umsichtige
„Studien zur geistlichen Lyrik Quirin Kuhlmanns" sau-
bere Analysen zu Inhalt wie Form; letztere sind sehr gelungen;
inhaltlich findet E. zuletzt, trotz mancher Züge schlichter Frömmigkeit
, nur exzentrische Abnormität (S. 37 ff.). Noch schwerer
werden die Frömmigkeits- und Geistesgeschichtler fertig. Dieser
poetisch fast geniale Jüngling war ansonsten unlustiger Jurist,
lebte irgendwie in Machtsphären, sein Hauptinteresse war die-
Dichtkunst der großen Welt; das vereinte sich nicht gleich. Seine
erste größere Gedichtsammlung zeigt ihn ganz am extremsten
Rande der noch kirchlichen neuen Gläubigkeit des Luthertums
jener Tage: 1671 „Himmlische Liebesküsse ... vornehmlich des
Salomonischen Hohenliedes . . . Arndts-Poeti6ch abgefasset". Es
ist erster hochbarock überschäumender Frühpietismus nach dem
dreißigjährigen Krieg. Schon im nächsten Jahr kommt ein erster
Umbruch, die Hinkehrung zu J. Böhme, im „Neubegeisterten
Böhme" 1674 dokumentiert. Zugleich beginnt der Kometenzug
durch Europa. Kuhlmann bekennt sich zum ganzen Böhme, dem
Theosophen, dem Pansophisten, dem Mystiker, vor allem aber
dem Profeten. Und dieser Geist beschäftigt ihn mit den großer»
Machtverhältnissen seiner Tage und treibt ihn um. Fast mit allen
Schwärmern in Europa hat er Begegnungen und Verbindungen,
mit allen geeigneten Mächten 6ucht er Beziehungen; er anerkennt
dabei keine Grenzen, kann aber eigentlich nur in den freidenkenden
zentralen Weltstädten Europas, in Amsterdam und London,
bei reichen Gönnern sich halten. Er ist durchaus eine hochbarocke
Existenz. Er deutet dabei Böhmes Weissagungen eschatologi6ch
auf die eigene Weltgegenwart (S. 62); er hat selbst das Geheimnis
der Jesusmonarchie; die andern Schwärmerweissagungen seiner
Tage zieht er mit bei. Auch seine offenbare Liebenswürdigkeit
gewinnt viele immer neue Anhänger. Schnell vollendet sich
abschließend die barocke Selbstübereteigerung: er sieht sich
selber als den Profeten der Endzeit, als den von Paracclsus
verkündeten neuen Menschen, den Elias Artista, den Vorboten
Christi selbst (69), den künftigen Weltherrscher (78). Er ist sich
gleichsam die Abschlußlaterne des göttlichen Kuppeldomes der
Menschheit. Ein Heer aus dem Osten wird zu Hilfe kommen
(daher die Reise nach und das Ende in Moskau). Kuhlmann hat
zuletzt in seinem „Kühlpsalter", 8 Bücher 1684—86, dem Er-
bauungs- und Gesangbuch seiner Anhänger, auf die6 Endziel hin
ein ganzes theosophisches Welt- und Heilsgeschichts - System aufgetürmt
, eine Allzusammenfassung Böhmes und der Schwärmer-
ideen und seiner eigenen Gedanken, die Botschaft von dem Ewigen
Evangelium, mit einer heilsgc6chichtlichen Typologie von
Zeichen, Figur und Wesen (93).

Die Materialien zu diesem Bild scharf herausgearbeitet zu
haben, dürfte ein lebhaftes Verdienst Lackners sein. Wenn er
freilich meint, daß uns sonst ein derartig „entartetes Selbstbewußtsein
" „wohl nicht ein zweites Mal" begegne, so irrt er sich
ja sehr. Man muß hier nur die hochbarocke Frühauftürmung desselben
Geistes 6ehen, der später abgeklärt und säkularisiert in
der Philosophie Hegels die eigene Weltsicht als das Ziel und das
Ende der ganzen Selb6tentwicklung des Absoluten Geistes 6icht.
So uralt schwärmerisch und barock unabgeschliffen die Bilder und