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Ausgabe:

1960 Nr. 7

Spalte:

516-517

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel eines Lebens 1960

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 7

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seien. — Zuletzt sei die Veröffentlichung eines Briefwechsels
zwischen Lagarde und Hilgenfeld aus den Jahren 1862—1887 erwähnt
, dessen wissenschaftsgeschichtlicher Ertrag mir unbedeutend
zu 6ein scheint.

2. Die Religionswissenschaft im engeren Sinn ist überraschenderweise
nur mit einem Artikel vertreten: Cl. M.
Bruehl, .Herakles Charops', ein Versuch zum Nachleben der Antike
. Der gewählte Ausgangspunkt wirkt romanhaft, — es ist das
dichterische Fragment „Die Einkehr des Herakles" aus der Feder
de6 C. P. de la Fourniere, „eines sonst unbekannten französischen
Dichters aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts". Einer
Fußnote entnimmt man, daß das Manuskript kurz vor dem Ausbruch
des zweiten Weltkrieges in Paris entdeckt sei. Dieser moderne
Text wird religionswissenschaftlich behandelt, als Beispiel
eines „Einkehr-Berichtes", wie 6ie seit Plutarch immer wieder
aufgetaucht sind. Das religionspsychologische Problem ist das
des magischen Blicks, des Auges. „Herakles spricht nie"; im Gegensatz
zum Alten und Neuen Testament als den .Religionen des
Hörens' könne man die griechische Religion fast als .Religion der
Augen und des Sehens' definieren. „Charops" wird als leuchtend
, 6trahl-, funkeläugig gedeutet.

3. Ein starkes Schwergewicht ruht auf zwei Beiträgen zur
jüdischen Frage. Marion Schwarze-Nordmann schreibt über Aime
Palliere, einen „Noachiden". Unter Noachismus versteht jüdische
Theologie die Anerkennung des einen Gottes und den Gehorsam
unter die sittlichen Grundgebote nach Gen. 9 v. 1—9
jenseits des mosaischen Judentums. „Ein Nichtjude, der sich von
dem Geist der jüdischen Religion angezogen fühlt, braucht nicht
zum Judentum überzutreten" (79). Palliere, der 1875 in Lyon geboren
war, hatte als siebzehnjähriger Priesterzögling die erste
eindrucksvolle Begegnung mit der Synagoge, aus der später eine
Konversion zum Noachismus wurde, unter Führung eines Oberrabbiners
, der einer der letzten Vertreter der Kabbala war. Der
Noachide lebte zwischen Judentum und Christentum, zog ak
Wanderprediger umher und beschloß sein Leben im Jahr 1949 nach
einer Rückkehr in die katholische Kirche in einer bescheidenen
Bleibe der Abtei St. Michel von Frigoleit. Mönche gaben ihm das
erbetene katholische Begräbnis, gleichzeitig wurde auf seinen
Wunsch in der Synagoge das Kaddisch der Toten für ihn gesprochen
. — Hans Lamm, Kulturreferent des jüdischen Zentralrates
in Deutschland, steuert Bemerkungen zur Entwicklung und Wandlung
des deutsch-jüdischen Lebensgefühls bei. Der Aufsatz dürfte
für die Mentalität jener Juden sehr aufschlußreich sein, die trotz
der Greuel der letzten Vergangenheit weiter ihren Weg als
Deutsche und Juden gehen wollen. Man sollte sehr ernst nehmen,
was der Verf. schreibt: „Wir legen weder auf Schuldbeteuerungen
noch auf Selbstbezichtigungen Wert — aber ebenso wenig darauf
, daß man uns stets versichert, daß man selbst a) nichts gewußt
und b) immer schon dagegen gewesen sei" (238).

4. Eine letzte Gruppe von Arbeiten gilt der Theologie und
Geistesgeschichte. Die Auseinandersetzung H. Speckners mit
Benedetto Croce sei wieder nur registriert; über Croce s. RGG F
1883 und in dem bereits genannten Philosophischen Wörterbuch
S. 88! — Starke Beachtung dürften zwei Arbeiten verdienen.
G. H. Huntemann schreibt über das Verständnis der Geistesgeschichte
in der zeitgenössischen evangelischen Theologie. Hier
finden sich harte Worte über die Entleerung der Geistesgeschichte
durch die evangelische Theologie der Gegenwart, durch welche
die Geschichte der Profanität preisgegeben sei. „Zu einer eindeutigen
Bejahung geistesgeschichtlicher Arbeit ist die moderne
Schultheologie an keinem Punkt gekommen" (69). Als Einziger
schiene Dietrich Bonhoeffer den Ernst der Lage begriffen zu haben
. Alle Späthegelianer, d.h. die heutigen Vertreter der Geistesgeschichte
, hätten sich allerdings von der evangelischen Theologie
daran erinnern zu lassen, daß da, wo die Frage nach dem
Geist gestellt würde, auch die nach der Dämonie zu stellen sei,
was am tiefsten P. Tillich begriffen hätte. .„Der Gott der Theologen
droht ein immer kleinerer Gott zu werden, dem man im
Grunde nichts mehr zutraut, weder Geist noch Geschichte" (73). -
Dieter A. Oberndorfers Beitrag heißt „Das jüdisch - christliche
Arbeitsethos und der Wandel der Einstellung zur Arbeit im 19.
und 20. Jahrhundert", In einem ersten Teil wird W. Bienert, Die
Arbeit nach der Lehre der Bibel, 1954, 6tark zu Rate gezogen,

aber nach der soziologischen Seite hin ergänzt. Das Schwergewicht
liegt auf Teil II „Die Autonomie der Arbeit im Liberalismus
und Marxismus". Wichtig war uns unter anderem der Hinweis,
daß die Entwicklung zur Religion der Arbeit im 19. Jahrhundert
mit der Entkirchlichung breiter Volksmassen zusammenfällt. Die
religiöse Ideologisierung aber werde heute durch die wachsende
Freizeit abgebaut, was in unsern Tagen immer sichtbarer werden
würde.

Alles in Allem: ein ideenreiches anregendes Buch, welches
das Studium lohnt!

Rostock Gottfried Holtz

Hessen, Johannes, Prof. DDr.: Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel
eines Lebens. Nürnberg: Glock & Lutz [1959]. 277 S. 8°.

Der bekannte Kölner Philosoph schildert in diesem Buch sein
geistiges Werden, sein wissenschaftliches Wirken mitsamt den
Kämpfen und Leiden, die ihm aus der Treue zu 6ich selber erwuchsen
. Ich werde ihn kaum mißverstehen, wenn ich meine, er
habe dies Buch zunächst für sich selber geschrieben, um sich seine
geistige Entwicklung und sein wissenschatfliches Wollen und Wirken
klar bewußt zu machen. Eben dadurch aber ist das Buch auch
für andere, die diese Leistung von außen betrachten, außerordent lich
lehrreich. Wir beobachten an immer neuen Beispielen, in
welche Schwierigkeiten ein katholischer Gelehrter, der die
Priesterweihe empfangen hat und von der Theologie ausgegangen
ist, notwendigerweise geraten muß, wenn er seiner wissenschaftlichen
Überzeugung treu bleiben will. Dem Buch ist das Motto
von Pascal vorangesetzt: „Man kann Gott nur in der Wahrheit
dienen." Dieser Dienst der Wahrheit aber wird dem katho
lischer. Priester, auch wenn er seiner innersten Neigung entsprechend
philosophischer Forscher und Professor der Philosophie ist,
von seiner Kirche außerordentlich schwer gemacht. Darüber berichtet
er, nach seinen eigenen Erlebnissen und denen seiner
Freunde, mit merkwürdiger Offenherzigkeit.

Unter dem Einfluß von Ernst Troeltsch schreibt er ein
Buch über „Die Absolutheit des Christentums", als Auseinandersetzung
mit Troeltsch, und muß erleben, daß dies Buch trotz des
bischöflichen Imprimatur nicht erscheinen darf!

Dramatisch liest sich, was auf S. 69 ff. berichtet wird: Im Juni
1928 trifft er zufällig einen Freund und hört von ihm als größte
Neuigkeit, daß zwei seiner Bücher verboten sind: „Die
Weltanschauung des Thomas von Aquin" und eine „Erkenntnistheorie
". Das hat der Freund im Kirchenblatt gelesen, ohne daß die
Hierarchen von Köln und Münster es für nötig hielten, Hessen
wenigstens persönlich Mitteilung davon zu machen. Vergebens bemüht
sich dieser auch um eine Audienz beim Kardinal in Köln. Auch
der ihm befreundete Rektor der Kölner Universität, der den
Kardinal ohnehin aufzusuchen hatte, hat ihm diese Audienz nicht
erwirken können. Mit dem Bischof von Münster aber gab es eine
lebhafte Auseinandersetzung; als der Bischof von Münster ihm
erklärt: „Sie sind suspendiert ex informata conscientia", erwidert
er ihm: „Hochwürdigster Herr, ich kenne fromme und 6treng
kirchlich gesinnte Priester, die diese suspensio ex informata conscientia
als eine Erfindung des Teufels bezeichnen." Und da6 Ergebnis
dieser Unterredung? Der Antimodernisteneid wird von
neuem geleistet; daraufhin wird von Münster und Köln das Verbot
zurückgezogen. Bei dieser Gelegenheit hören wir auch das
Urteil: „Wer die Zustände im katholischen Lager kennt, weiß,
daß es für einen Theologen immer sehr gefährlich ist, wenn eines
seiner Werke von einem Mitglied der Gesellschaft Jesu verri66en
wird." Hessen bekennt ohne Scheu seine innere Verbundenheit
mit den Gedanken de6 Modernismus und schildert die
widersinnige Lage, daß der Papst aufgrund sehr ernster Vorstellungen
der deutschen Regierung die an den Universitäten wirkenden
Theologieprofe66oren von der Eidesleistung dispensierte,
während die in der Seelsorge stehenden Geistlichen, die von der
ganzen modernistischen Bewegung nur eine schwache Vorstellung
hatten, dem Modernismus abschwören mußten. Ein von ihm hochverehrter
, dem Modernismus nahestehender Religionslehrer
Wilhelm W i 1 b r a n d schreibt ein Buch „Kritische Erörterungen
über den katholischen Religionsunterricht an höheren Schulen