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Ausgabe:

1960 Nr. 6

Spalte:

450-454

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Aurora, oder Morgenröthe im Aufgang 1960

Rezensent:

Buddecke, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 6

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nicht mehr herauszukommen. Nimmt man dazu, daß die Interpretationen
selten über die Ebene des „gesunden Menschenverstandes
" hinausdringen, so erklärt sich da6 leise Unbehagen, mit dem
man das Buch schließlich aus der Hand legt. Daß es sich von
billigen Effekten, von Abenteuern und Extravaganzen fernhält,
wird man gewiß höchlich loben. Aber etwas mehr Sinn für die
mögliche philosophische Tragweite der alten Aussagen hätte
nicht geschadet.

In einzelnen Fällen freilich wird die große Behutsamkeit abgelöst
durch eine auffallende Zuversicht. Dies gilt vor allem für
den leidigen Komplex der Einflüsse des alten Orients auf die
frühgriechische Philosophie. Niemand wird leugnen, daß der alte
Orient bestimmte theogonische und kosmogonische Vorstellungen
besaß, die Griechischem teilweise parallel laufen und durch
die die Griechen da und dort angeregt sein mochten. Es kann
aber nicht dringend genug davor gewarnt werden, diese Kontaktstellen
zu überschätzen. Sie beschränken sich in jedem einzelnen
Falle auf sehr allgemeine Umrisse des Gedankens. Sie können
niemals von der grundsätzlichen Forderung dispensieren, griechische
Texte zunächst einmal durch griechisches Denken zu erläutern
. Zu Hesiods Theogonie und ihren Verwandten gibt es
gewiß Parallelen im ganzen Vorderen Orient. Sie mögen den
griechischen Theologen einzelne Namen und Vorstellungen geliefert
haben. Doch was wir faktisch an Theogonien der Griechen
besitzen und rekonstruieren können, hat seine Wurzeln im griechischen
Geiste.

Kirk und Raven achten in diesen Dingen zu wenig auf die
Nuancen und gelangen auf diese Wei6e zu Kombinationen, die
nur Verwirrung 6tiften können.

Auffallend ist auch einiges an der Gesamtanlage des Buches.
Sinnvollerweise wird ein erstes Kapitel den „Forerunners of
Philosophical Cosmogony" gewidmet. Doch wird man es bedauern
, daß die mannigfachen Reste theogonischen und ko6mo-
gonischen Denkens, die wir aus der Frühzeit haben (es muß neben
Hesiods erhaltenem Gedicht eine ganze Menge gegeben haben),
verhältnismäßig flüchtig abgetan werden, während die unerfreulich
undurchsichtige Figur des Pherckydcs von Syros 25 Seiten erhält
. Die Verfasser haben sich nicht recht klar gemacht, daß es
da einmal darum geht, die Überlieferungen zu sondern: die Ge-
schichtcr|| vom Wundermann, Urphilosophen und Lehrer des
Pythagoras scheinen von der Tradierung des Buches fast völlig
unabhängig zu sein. Wie weit man das Buch selbst mit seinen
bizarr altertümlichen (oder altertümelnden?) Erzählungen als
Zeugnis des frühgriechischen Denkens ernst nehmen soll, is*
eine Frage, die m. E. noch nicht endgültig beantwortet ist.

Sehr breit wird sodann Anaximander behandelt, mit vielen
beachtenswerten Interpretationen; bedenklich ist freilich, mit
Welcher Gewalttätigkeit S. 121 f. die Lehre von der unbegrenzten
Vielzahl der Welten einfach weginterpretiert wird. Umfangreich
ist auch der Abschnitt über Heraklit, in welchem Kirk die
Gedanken seines drei Jahre zuvor erschienenen trefflichen Hera-
klitbuchcs weiterführt. Relativ knapp, aber gut sind die Eleaten
behandelt, ausführlich Empedokles, während die Atomisten am
Ende erstaunlich kurz erledigt werden; das mag teilweise damit
zusammenhängen, daß wir von Empedokles recht viel originalen
Wortlaut besitzen, von den Atomisten dagegen über alle Maßen
wenig. Ihre LehTe muß zur Hauptsache aus den Zeugnissen der
Peripatctiker hier, Epikurs dort rekonstruiert werden. Und da
steht den Verfassern ihre übergroße Ängstlichkeit, die wir schon
hervorhoben, im Wege. Das blinde Vertrauen früherer Generationen
in Aristoteles weicht hier einem teilweise nicht weniger
hlinden Mißtrauen.

Schade ist endlich.daß auch Anaxagora6 nicht ganz hinreißend
zur Geltung kommt, obschon wir manches von ihm haben
und obschon sein Einfluß auf die Geist-Lehre des Aristoteles über
riaton hinweg ein 6chr großer gewesen ist.

Doch diese Bedenken hindern nicht die Feststellung, daß wir
es mit einer besonnenen, kultivierten und förderlichen Leistung
zu tun haben. Wer das Buch kritisch liest, wird es alj Kon-ektiv
zum alten Dicls dankbar benutzen und schätzen.

Bern OlofG'«0"

Böhme, Jacob. Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudruck der Ausgabe
von 1730 in elf Bänden. Begonnen v. August Faust f, neu hrsg. v.
Will-Erich Peuckert. I: [1955]. 466 S., 4 Taf. 11: [1942]. 526 S., 1 Taf.
III: [1942]. 565 S., 4 Taf. IV: [1957]. 604 S., 12 Taf. VI: [1957].
610 S., 5 Taf. VII: [1958]. 473 S., 2 Taf. VIII: [1958]. 449 S., 1 Taf.
IX: [1956]. 457 S., 6 Taf. Stuttgart: Frommann. 8°.

Die letzte Ausgabe der Werke Jacob Böhmes besorgte Karl
Wilhelm Schiebler. Sie erschien im Verlag Barth zu Leipzig in den
Jahren 1831—1847 und danach noch zweimal, unverändert und
zumeist im anastatischen Neudruck, ebenda von 1860 bis 1922.
Sie sollte die früheren Gesamtausgaben ersetzen, die nur wenige
Bibliotheken besaßen, und die antiquarisch höchst selten zu haben
waren. Der Wissenschaft aber war mit ihr nicht gedient;
denn der Herausgeber hatte den vorhandenen Text nicht etwa
revidiert, sondern, um ihn „lesbar" zu machen, vielfach willkürlich
geändert und außerdem die wichtigen Berichte über Böhmes
Leben und Schriften sowie die Register fortgelassen. Die
Frage nach einer wissenschaftlich brauchbaren Böhme-Ausgabe
erhob sich daher bei der dreihundertsten Wiederkehr des Todestages
des Theosophen im Jahr 1924 aufs neue und dringlicher.
Als die beste und vollständigste Edition galt die von Johann
Wilhelm Ueberfeld, die 1730 in vierzehn Oktavbänden und
Supplementen zu Leiden erschienen war. Sie fußt auf den von
Johann Georg Gichtel 1682 in Amsterdam erstmals herausgegebenen
und von Johann Otto Glüsing 1715 in Hamburg wieder
aufgelegten Werken Böhmes. Diese Ausgaben waren auf Grund
eines reichen Handschriftenmateirials hergestellt worden, das der
Amsterdamer Kaufmann Abraham Willemszoon van Beyerland
etwa in den Jahren 1630 bis 1642 gesammelt hatte. Als Ueberfeld
es übernahm, bestand es aus sechs Originalschriften, einundvierzig
Originalbriefen Böhmes und über hundert Abschriften.
Ueberfeld und seine Mitarbeiter verglichen die älteren Texte noch
einmal sorgfältig mit den Autographen und den zuverlässigsten
Abschriften, wodurch „viele wichtige Änderungen, die einen
gantz andern Sinn des Geistes geben", vorgenommen und „nicht
wenig mangelhafte Stellen ergäntzet" werden konnten. Dies war
die letzte kritische Bearbeitung der Werke Böhmes. Allein auch
sie genügte dem wissenschaftlichen Anspruch nicht völlig; denn
wie in den früheren Ausgaben waren Sprachform und Schreibung
Böhmes nicht erhalten geblieben, sondern unbedenklich dem
Gebrauch der Zeit angepaßt worden. Wenn auch die Texte inhaltlich
nicht mehr viel zu wünschen übrig lassen mochten, 60 war
doch Böhmes Ausdrucksweise ihrer urwüchsigen Kraft und Un-
geschliffenheit beraubt. Eine neue authentische Böhme-Ausgabe
erforderte also unabweislich, wieder auf die Handschriften zurückzugreifen
.

Aber die Handschriften waren, seit Ueberfeld sie zuletzt
benutzt hatte, als privater Besitz aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit
entschwunden und galten schließlich als verschollen. Man
war auf jene nicht sehr zahlreichen Böhme-Manuskripte angewiesen
, die sich in der Wolfenbütteler Landes- und der Breslauer
Stadtbibliothek befanden. Ihnen gegenüber bestand zudem die
Schwierigkeit, daß etwa vorhandene Originale nicht von Abschriften
zu unterscheiden waren; denn mit der Zeit war auch
die Kenntnis der Schriftzüge Böhmes verlorengegangen. Richard
Jecht, der 6chlesische Geschichtsforscher in Görlitz, der im Jahr
1924 die Manuskripte auf die Frage der Urhandsdhrift hin untersuchte
, konnte zu keiner Entscheidung kommen. Später jedoch
gelang e6 dem Rezensenten, durch eine die Korrekturen beachtende
Methode im Wolfenbütteler Bestand drei Originale festzustellen
. Das verfügbare Handschriftenmaterial bot indes keine
ausreichende Grundlage für eine neue Böhme-Ausgabe. An eine
solche konnte erst gedacht werden, als der Rezensent im Jahr
1934 bei der Suche nach dem ältesten Böhme-Druck auf die einst
von Ueberfeld gebrauchte, noch vollständig erhaltene Handschriftensammlung
gestoßen war. Von den „Stillen im Lande",
den kleinen Gemeinden, die in Böhme, Gichtel und Ueberfeld
ihre geistlichen Väter sahen, war sie treulich bewahrt und von
Generation zu Generation als kostbarstes Vermächtnis weitergegeben
worden. Allein die wiedergefundenen Handschriften
durften lange Zeit nicht benutzt werden. Und als sie schließlich
zur Verfügung standen, trat bald darauf ein Ereignis ein, das alle
Hoffnung zunichte machte. Durch unglückliche Umstände war die