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Ausgabe:

1960 Nr. 6

Spalte:

437-439

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haufe, Christoph

Titel/Untertitel:

Die sittliche Rechtfertigungslehre des Paulus 1960

Rezensent:

Molnár, Amedeo

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 6

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vielen anderen weithin an der Weiß-Schweitzerechen These von
der apokalyptischen Naherwartung Je6u fest (vgl. S. 58 ff.; 203;
206 u. ö.). Schwer begreiflich, wenn man sich klar macht, wie
schmal und problematisch die Quellengrundlage für jene These
ist. In Mt 6, 10 p fehlt das entscheidende Kennwort der Naherwartung
(raxicot). Mt 23, 35—36 p ist vermutlich von Haus
aus ein Täuferwort, jedenfalls in Geist und Formulierung völlig
palästinajüdisch. M 9, 1 und 13, 30 stehen (trotz aller Vermittlungsversuche
) in unauflöslichem Widerspruch zu dem anerkannt
echten Herrenwort M 13, 32. Mt 10,23 stammt genau
wie Mt 10, 5 und die Gesamtkonzeption von Mt 9, 35 — 10, 42
aus dem Matthäuskreis. In summa, wenn man überhaupt von
Gemeindetheologie in den Evangelien sprechen will, dann ist die
Naherwartung 6icher die älteste und populärste Gemeindedoktrin
— eine (durch das Osterereignis hervorgerufene und determinierte
) Variante der jüdischen Naherwartung jener Tage, eben jener
Naherwartung, gegen die Jesus von Nazareth vergeblich angekämpft
hat.

e) Im übrigen ist die Gemeindetheologie vor allem Schrifttheologie
, ihr Lieblingsthema (gut qumranisch!) der Schriftbeweis
. Mit Recht betont B. den ungeheuren Einfluß des Schriftbeweises
auf die Ausgestaltung der Passionsgeschichte, mit Recht
auch die große Schwierigkeit, die biblizistischen Sekundärmotive
von den historischen Primärelementen zu sondern (S. 143—145).
Sollte man bei diesem diakritischen Verfahren nicht den rechtsgeschichtlichen
Überlieferungen des Judentums ernstere Beachtung
schenken, als es gemeinhin, als es auch bei B. geschieht?
Mrr scheint, Rechtsvorgang und schrifttheologische Deutung verhalten
sich in der urchristlichen Jesusüberlieferung ungefähr
wie Kette und Schuß. Erst durch ihre Verflechtung ist das Gewebe
entstanden, das uns in den Evangelien vorliegt, in den
Traditionen über die monatelange Strafverfolgung Jesu, über die
dunkle Rolle des Judas, über die beiden Prozesse, über Kreuzigung
und Begräbnis. Die juristischen Kettfäden waren zuerst da,
aber 6ic sind weithin überdeckt von den biblizistischen Schußfäden
, die das theologische Webmuster bestimmen und darum
die ,,Optik" der Evangelien beherrschen. Ohne Bild gesprochen:
Zwei reziproke Tendenzen begegnen sich in der urchristlichen
Jesusüberlicferung: juristischer Präzisionsverlust und biblizisti-
sche Hypertrophie. Wenn man das einmal erkennt und daraus
die methodologischen Konsequenzen zieht, dann wird, so meine
•ch, die traditionsgeschichtliche Analyse und Diakritik ein
wenig aussichtsreicher.

Noch einmal, das alles möchte weder eine Bewertung noch
viel weniger eine Kampfansage sein, sondern ein Versuch zur
Verständigung um der gemeinsamen Sache willen. Die Theologie
hat bekanntlich die Eigenschaft, die Menschen zu entzweien.
Es wäre 6chön, wenn die Jc6Usforschung sie zusammenführte.

Ein kleines Schlußwort ad neminem. Es wird neuerdings Mode,
den Stil wissenschaftlicher Bücher schulmeisterlich zu benoten. Auch B.
tut das: Auf S. 110 spricht er von dem „pathetischen Generalthema:
Christus und die Cacsaren" und zitiert dazu (S. 188) mein gleichnamiges
Buch. Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, daß dieser
Titel 71 Jahre älter ist als die erste Auflage meines Caesarcnbuches,
und ich gestehe gern, daß mir z.B. der Titel der holländischen Ausgabe
sympathischer ist: De Koning en de Kcizers. Aber deutsch kann man
das nicht so 6chön sagen. So wird es denn wohl bei jenem Titel bleiben
müssen, der den freundlichen Leser immerhin darauf hinweisen mag,
daß es in der Geschichte der Alten Kirche manchmal etwas dramatischer
und wohl auch pathetischer zuging als in einer westdeutschen Studier-
stubc. Soll ich mich nun revanchieren und bekennen, daß ich z. B. die
Stelle von dem „unheimlichen Katarakt schauerlicher Konsequenzen"
(Bi S. 166) auch ein bißchen pathetisch finde? Aber ich tue so etwas
nicht gern. Denn schließlich schreiben und zensieren wir keine Schulaufsätze
. I

Erlangen Ethclbert ij ta u ff e t.

Haufe, Christoph: Die sittliche Rcchtfcrtigungslehre des Paulus.

Hallc/S.: Niemeyer 1957. 172 S. gr. 8°. Hlw. DM 9.80.

Es ist wohl bekannt, wie tief in der Geschichte der theologischen
Ethik die Denkart vom jeweiligen Paulusverständnis bestimmt
wurde. Seit Luthers Aufkommen wird meistens, wenn
auch oft zu Unrecht, jede christliche Verwirklichungsethik als
Werkgcrcchtigkcit in entschiedener Anlehnung eben an Paulus

abgewiesen. Im Nachdruck auf das Ethische befürchtet man eine
Abschwächung der von der Reformation neuentdeckten paulini-
schen Rechtfertigungslehre. So kann die Sorge um reine Lehre
leicht zur Hemmung neuer Entscheidungen im Sinne sittlicher
Verantwortung der Christen werden. Den Weg zu 6uchen, um
dieser verhängnisvollen Sackgasse entgehen zu können, ist das
Verdienst der vorliegenden Arbeit. Sie stellt die Rechtfertigungslehre
des Paulus als eine bereits sittliche dar, indem sie energisch
ablehnt, die Botschaft des Apostels als ein Nebeneinander von
einzigartigen losen Gedankenreihen anzuschauen, und im Gegenteil
bei Paulus eine einheitlich theologisch-ethische Konzeption
findet.

H. beginnt seine Untersuchung unter der neutestamentlichen
Voraussetzung des „Gesetzes Christi" mit einer kurzen Problemstellung
des Verhältnisses zwischen diesem Gesetz und der Vergeltung
(S. 11—19). Nach Paulus stimme das Gesetz Christi mit
dem Dekalog überein, im „du solkt" der Forderung, in seiner
ethischen Inhaltstiefe, in der Berücksichtigung des Gehorsams bezüglich
dieser Forderung bei der Vergeltung Gottes, im esdhato-
logi6chen Zeitpunkt der Vergeltung, die keine innergeschichtliche
sein kann und in dem Motiv: „etwas zu tun, um vor Gott bestehen
zu können und dessen Lohn zu erhalten . .., wenn auch
die das Motiv begleitende und stärkende Hoffnung, vor Gott
bestehen zu können, über den Dekalog hinausweist" (S. 19).
Grundlegend ist die Erkenntnis, daß nach Paulus die positiv zu
würdigende Beziehung der sittlichen Handlungsweise zur göttlichen
Vergeltung als Motiv für das Handeln dienen darf. Daß das
Heil im paulinischen Sinne auch vom sittlichen Handeln abhängig
ist, veranschaulicht der Verfasser durch einen Gang durdi
den Galaterbrief (S. 20—30). In Auseinandersetzung mit der
heutigen Exegese schlägt er vor, einerseits den von Paulus oft
nicht bestimmten Gesetzesbegriff auf das Kultgesetz und die
Kultwerke zu deuten, anderseits die prinzipielle, durch Christus
errungene Freiheit von der Heilsnotwendigkeit der kultischen
Handlungen nicht auf das sittliche Gebiet zu übertragen. Hier soll
im Gegenteil das Gesetz Christi gelten, d. h. Gottesdienst zum
Dienst am Nächsten werden. Hierin erweist sich Paulus dem Verf.
als durchaus mit den Synoptikern einig. Die Hauptproblcmatik
des gestellten Themas liegt also im richtigen Begreifen des gegenseitigen
Verhältnisses zwischen der Rechtfertigungslinic und der
Vergeltungslinie. In gründlicher Auseinandersetzung mit Vertretern
bisheriger typischer Lösungen dieser Frage (S. 31—68) gelangt
H. zu dem Ergebnis, daß bei Paulus die Rechtfertigungslehre
nie so weit geht, daß sie die Vergeltungslinie vergewaltigen
würde. Dank der Vergegenwärtigung der Vorwegnahme der
Wiederkunft Christi ruft Paulus vom Kultus hin zur Sittlichkeit.
Diese wird zu einem Weiterkämpfen „nicht nur um den gegenwärtigen
Heilsstand zu erhalten, sondern um ihn Wirklichkeit
werden zu lassen im Gericht" (S. 67). Die Rettung der Rechtfertigung
muß dann natürlich als ein vor allem futurisches Ereignis
aufgefaßt werden. Was die dritte Linie betrifft, die sog. mystische,
die von einer gTatia-infusa-Theorie getragen wäre und den Ursprung
des Sittlichen im Sakramentsempfang und einer qualitativen
neuen Natur des Christen 6ehen möchte, wird sie vom Verf.
mit Recht als exegetisch unsachgemäß abgelehnt. Sie scheitert am
häufigen Vorhandensein der sittlichen Ermahnung bei Paulus
(S. 69-108). H. legt allen Nachdruck auf die Beweisführung, daß
beim Apostel das sittliche Ringen ein konstitutives Teilmomcnt
der Gemeinschaft mit Gott darstellt (S. 109-119). Im Sinne des
Evangelium-Gesetzes, das als eine für alle Menschen gültige Forderung
der überindividuellen Bergpredigtethik gewertet werden
soll, ist nicht der gerecht, der eine sittliche Qualität erreicht hätte,
sondern jener, der der Forderung soweit nachkommt, wie er in
der Lage ist. Die Forderung des Evangelium-Gesetzes stellt eben
nicht die Bedingung der Sündlosigkeit. Insofern es die alte Vergeltungsordnung
überwindet, ist das Evangelium - Gesetz ein
Gnadengesetz (S. 116-119). Es schließt nach Paulus keine Ablehnung
, sondern nur eine besondere Wirkungsweise des Vergeltungsprinzips
ein. Der Lohn wird durch Christus aus Gnaden
und nicht aus Schuldigkeit angerechnet. Der Tod und die Auferstehung
Christi bedeutet dann (S. 120-139) Befreiung von der
Knechtschaft der Engelmächte, des Kultgesetzes und Engeldienstes
und Veranlassung zum Gehorsam gegenüber dem Evangelium
-Gesetz, in dem eine neue Vergeltungsweise zur Gültig-