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Ausgabe:

1960 Nr. 1

Spalte:

19-32

Autor/Hrsg.:

Engelland, Hans

Titel/Untertitel:

Schrift und Tradition 1960

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19

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 1

20

Irenik des 20. verdrängt werden." Koepgen sieht im Johannesevangelium
und seiner Theologie eine Brücke zwischen den Konfessionen
. Jedenfalls kann eine Verständigung nicht bei den
Streitpunkten des 16. Jahrhunderts beginnen. Haben Petrus und
Paulus kirchenspaltend gewirkt, so möchte jetzt das Zeitalter
des Johannes gekommen sein, auf das einst ein Schelling schon
ahnungsvoll hingewiesen hat. Daß dabei die großen orthodoxen
Kirchen des Ostens, welche sehr viel Gut der Urkirche gewahrt

haben, den Kirchen des Westens viel zu sagen haben, steht außer
Frage. Es ist anzunehmen, daß in dieser Entwicklung, welche sich
schon deutlich abzeichnet, die bisherige Verwendung von „ökumenisch
" und „katholisch" 6ich als unzulänglich erweisen wird,
zumal sie in dem heute üblichen Sprachgebrauch konfessionell
festgelegt ist. Man wird gut tun, an den Begriff des Kosmos im
NT wieder anzuknüpfen, weil er am ehesten auch da6 heutige
Weltverständnis einzuschließen vermag.

Schrift und Tradition1

Von Hans E n g e 11 a n d, Hamburg

Niemand wächst ohne Tradition in 6ein Leben hinein, d.h.
ohne eine vorgegebene, überlieferte Art zu denken und zu handeln
. Das Kind atmet die geistige Atmosphäre der Familie unmittelbar
ein, in die es hineingeboren wird, und vollzieht ihre
Lebensweise unwillkürlich nach, bis eines Tages — aus der Spannung
zwischen Tradition und Freiheit' — eine kritische Besinnung
erwachen kann, die zu einem neuen, bewußten Ja oder zu einer,
vielleicht sehr schmerzhaften Lösung führt. Doch auch dann, wenn
der Mensch das Band zerschneidet, kann er die überkommene
Tradition nicht abstreifen wie ein Kleid oder sie einfach vergessen
, sondern sie bricht aus seiner Vergangenheit immer wieder
in seine Gegenwart ein, so daß die Auseinandersetzung nie ganz
aufhört. Und er kann auch nicht ohne eine neue Tradition leben,
die er an ihrer Stelle übernimmt oder neu schafft, denn er vermag
nicht gleichsam punktuell zu existieren, von Augenblick zu
Augenblick ohne einen Zusammenhang*. Wie ein Inhalt nicht
ohne Form sein kann, so vermag er nicht ohne Tradition zu sein.
Sie gehört zu seinem Leben*.

Tradition will gestalten. Darum ist sie der Erzfeind des
Chao6. Auch eine böse Tradition will gestalten. Selbst eine
Gangsterbande existiert nur durch eine Lebensordnung und einen
Ehrenkodex, die streng eingehalten, überwacht und weiterüberliefert
werden. Und zwar lebt in jeder Tradition die Tendenz,
das Denken und Handeln in einer universalen Weise zu gestalten.
Sie will dem Menschen zu einer Heimat werden, von der er sich
in allen Fragen 6eines Lebens geführt und in der er 6ich geborgen
weiß. Um dieses universalen Anspruches willen ringen die Traditionen
miteinander um die Zukunft und steht auch das Evangelium
in diesem Kampf. Es ist 6eine Existenzfrage, daß es aus
seiner Vergangenheit immer neu in die Gegenwart hinein überliefert
wird und hieT lebengestaltend wirken und sich gegenüber
anderen — religiösen und weltlichen — Traditionen durchsetzen
kann. Mit der Möglichkeit 6einer Tradierung und mit seiner Kraft
zur Lebensgestaltung steht und fällt 6eine Zukunft und damit
auch die Zukunft der Kirche5.

Darum ist die Besinnung über die Tradition und ihr Verhältnis
zur Heiligen Schrift in der evangelischen Theologie nicht
nur durch die vorwärtsdrängende Bewegung auf katholischer
Seite neu in Fluß gekommen, sondern i6t vor allem im Wesen
der Kirche begründet, darin, daß sie aus der Tradition lebt. In
dieser Erkenntnis streben wir heute über die altprotestantische

*) Diese Untersuchung war ursprünglich als Beitrag zu einer Festschrift
der Theologischen Fakultät Hamburg für Kurt Dietrich Schmidt
zu seinem 60. Geburtstag gedacht, die jedoch nicht in Buchform erschienen
ist.

Ausführliche Angabe der neueren katholischen und evangelischen,
auch ausländischen Literatur bei K. E. Skydsgaard, Schrift und Tradition.
Kerygma und Dogma. 1955, S. 161, Anm. l und S. 168, Anm. 19. Vgl.
auch E.Kinder, Schrift und Tradition. In: Die Katholizität der Kirche.
1957, S. 28, Anm. 13.

*) Vgl. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung
als theologisches Problem. 1954, S. 3 3 f.

') „Auch Revolutionen haben um der geschichtlichen Selbstbehauptung
willen die Tendenz, in Tradition überzugehen und konservativ zu
werden." G. Ebeling a. a. O., S. 36.

*) „Geschichtliches Leben ist unmöglich ohne Tradition." G. Ebeling
a. a. O., S. 35; H. R. Müller-Schwefe, Tradition in der Zeit. 1957, S. 7f.

s) „Es geht in dieser Frage ganz einfach um das esse der Kirche."
K. E. Skydsgaard a. a. O., S. 17Sf.

Haltung hinaus, die „nicht viel mehr als eine einzige, herbe und
höchst einförmige Antithese"" gegenüber der Tradition war.

I. Die biblische Überlieferung

Die letzte Quelle der Frage nach der Heiligen Schrift und
der Tradition ist die Verborgenheit Gottes, in der uns sein Zorn
über den Abfall des Menschen begegnet. Es stand darum in seiner
souveränen Freiheit, verborgen zu bleiben und den Menschen seinen
Weg unter einem verschlossenen Himmel zuendegehen zu
lassen oder sich ihm in einer bestimmten Weise kundzutun. Er
hat die Weise des Reden6 gewählt und 6ich in das menschliche
Wort herabgelassen. Diese Form des Redens bringt uns seine
Ferne zum Bewußtsein, daß wir die Unmittelbarkeit zu ihm verloren
haben, und zugleich seine Konde6zendenz, denn durch das
Reden läßt er sich in die Umgangsform herab, in der wir Menschen
einander geistig suchen, uns begegnen und uns verstehen.
Dadurch setzt er sich der Ohnmacht des menschlichen Wortes und
allen Möglichkeiten des Mißverstehens aus, bis hin zu dem Mißverständnis
, der hier redende Gott sei nur der mit sich selbst
redende Mensch. So ist schon die Form des menschlichen Redens
für Gott eine Selbstentäußerung, aber gerade sie macht die Tiefe
seines Ja mitten in seinem Nein offenbar.

Es gibt nur eine einzige Form des Redens Gottes, das nicht
6chon selbst ein Überliefern ist: 6ein Reden in seinem ursprünglichen
Vollzug, also etwa sein Zwiegespräch mit Jeremia in der
Stunde der Berufung oder die Bergpredigt Jesu. Dieses Reden in
seinem ursprünglichen Vollzug ist Offenbarung im eigentlichen
Sinn, ihre Urgestalt. Wir nennen sie die Erst-Offenbarung. Außer
den Menschen, die Gott oder Jesus in diesem ursprünglichen
Vollzug angeredet hat, ist sie niemandem zuteil geworden. Sobald
Jeremia seine Berufung erzählt oder ein Jünger ein Wort der
Bergpredigt weitersagt, wird die Erst-Offenbarung überliefert,
geschieht ihre mündliche Tradition. Darum ist jedes Reden von
Gott oder von Jesus ein tradierendes Reden. Das gilt für alles
mündliche Reden von der Erst-Offenbarung als die Urform ihrer
Weitergabe und vollends für ihren literarischen Niederschlag.
Das Alte und Neue Testament tradieren darum nicht nur selbst,
sondern sind 6chon aus einer — der mündlichen — Tradition
hervorgegangen7, und zwar aus einer sehr mannigfaltigen Tradition
".

Für unseren Zusammenhang ist die historische Frage nicht
wichtig, in welchem Umfang die schriftliche Überlieferung schon
in der apostolischen Zeit neben die mündliche Tradition trat
(2. Thess. 2, 15) und welche Gründe zur schriftlichen Fixierung
der mündlichen Tradition geführt haben, inwiefern die Naherwartung
der Parusie auf die schriftliche Fixierung zunächst
hemmend gewirkt und wieweit das Motiv der Reinheit der Verkündigung
in der Mission und in der Auseinandersetzung mit der
Irrlehre die Entwicklung dann gefördert hat. Es geht uns vielmehr
um die endgültige Gestalt, in der sich die Erst-Offenbarung auf
dem Wege über die mündliche Tradition im Alten und Neuen

") G. Gloege, Offenbarung und Überlieferung. ThLZ 1954, Sp. 217;
K. E. Skydsgaard a. a. O., S. 169.

„Bevor es Schrift gab, gab es Tradition." K. E. Skydsgaard
a. a. O., S. 170.

8) Es begegnen uns als Traditionsformen „das Urkerygma und seine
Entfaltung in der Evangelientradition, seine Anwendung in Lehr- und
Bekenntnisformeln und in der Paränese". L. Goppelt, Tradition nach
Paulus. Kerygma und Dogma. 1958, S. 228.