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Ausgabe:

1960 Nr. 5

Spalte:

387-388

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schuster, Hermann

Titel/Untertitel:

Martin Luther heute 1960

Rezensent:

Franz, Erich

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Seite 1

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387

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 5

388

Mitteln einer disziplinierten, genauen Denkbemühung durchgeführte
Erörterung der Frage nach der letztgründigen Bedeutung
des Wirklichkeiteganzen" (34). Wenn der Blick auf die Gesamtheit
des Begegnenden gerichtet werden muß, ist ein prinzipieller
Ausschluß der Überlieferungsinhalte aus dem Vollzug
des Philosophierens unphilosophisch. Insbesondere scheint aber
für den Verf. die Frage nach der letztgründigen Bedeutung
des Wirklichkeits ganzen, also die Frage nach den
äpxai, nicht ohne das Vernehmen der Kunde beantwortet werden
zu können, die von den &Q%aioi durch Überlieferung zu
uns kommt.

Ein unbestreitbares Verdienst dieser gedankenreichen Abhandlung
besteht darin, daß sie die Frage nach dem Verhältnis
des platonischen Philosophierens zu den tradita mit neuer
Dringlichkeit stellt. Joachim Ritter hat in 6einem Beitrag eine
der Intention Piepers entgegengesetzte Deutung gegeben: „Es ist
nicht zweifelhaft, daß sich für Piaton und Aristoteles die philosophische
Theorie in der Zuwendung zum Göttlichen als Wissenschaft
grundsätzlich an die vernünftige Einsicht und die vom
Erkennenden je selber zu vollziehende Erkenntnis wendet" (46).
Nach Ritter vollzieht sich bei Piaton und Aristoteles gerade die
Ablösung von einer „heiligen" Überlieferung, die ihre Tragfähigkeit
verloren hat, und ihr Ersatz durch eine „Tradition der
Vernunft" als des Mittels für die Weitergabe des Wissens um
das Göttliche.

Die zweite wichtige Frage, die der Vortrag des Verfs. aufgibt
, ist grundsätzlicher Art, steht aber mit dieser Interpretationsfrage
der platonischen Philosophie in engem Zusammenhang.
Wir stimmen dem Verf. darin zu, daß die christliche Offenbarung
nie durch Erfahrung und Vernunft eingeholt werden
kann. Aber wir fragen: Gilt das Gleiche für die Erkenntnis jener
äg%ai, auf die eine philosophische Bemühung notwendig gerichtet
sein muß? Ist der göttliche Logos von jenem Letztgründigen
nur zugänglich in einer Kunde, die alle Erfahrung und Vernunft
grundsätzlich übersteigt? Gerade vom Standort des Theologen
aus müssen wir fragen: Bezeugt sich nicht jenes Letzt-
gründige gerade in dem wesentlichen Sein der Kreaturen, wie es
durch Gottes Schöpferwort gesetzt ist, und soll dieses wesentliche
Sein grundsätzlich nicht durch unmittelbaren Hinblick erkannt
werden, wenn dabei auch jene Überlieferungen, die Verf.
im Auge hat, richtungweisende Hilfsdienste leisten mögen? Wir
sehen hier von der Frage ab, was es für das Philosophieren bedeuten
muß, wenn es sich in einem verantwortlichen Gegenüber
zur christlichen Offenbarung vollzieht. Unsere Frage bezieht sich
gerade auf das Hauptanliegen des Verfs., auf die Einbeziehung
jener aus „Ur-offenbarung" uns zukommenden Überlieferungsinhalte
in das philosophische Nachdenken. Wenn man freilich
unter diesen tradita „Nachklänge" und „Restbestände" der
paradiesischen Einsichten des Menschen im Urstande verstehen
wollte, dann wäre ohne worthafte Offenbarungskunde aus der
Urgeschichte der Menschheit nicht auszukommen. Aber überspannt
man nicht die Aufgabe auch einer „christlichen" Philosophie
, wenn man sie auf die Erkenntnis des Urstandes zurückbezieht
? Muß die philosophische Bemühung unter dieser Hochspannung
nicht zerbrechen? Gewiß wird Verf. uns versichern,
daß er das hauende Schwert des Cherub durchaus respektiert.
Aber könnte es dann nicht so sein, daß an unserem Ort das in
den Kreaturen allgegenwärtige Schöpferwort, das durch Gottes
Treue sich in aller Zeit durchhält, der für das Philosophieren hinreichend
tragende göttliche Logos ist?

Neckargmünd Peter Brunner

Schuster, Hermann: Martin Luther heute. Zeitbedingtes und Bleibendes
. Theologie und Glaube. Stuttgart: Ehrenfried Klotz 1958.
129 S. 8°. Kart. DM 7.80.

Ein liebenswürdiges und inhaltsreiches Buch, das der gelehrte
Kirchenhistoriker und Religionspädagoge, hochbetagt, aus der
Fülle seines Wissens wie seines persönlichen Gefühls geschrieben
hat, nicht streng wissenschaftlich, aber doch so, daß man übera'l
die kundige Hand hindurchspürt. Der Verf. berührt viele Fragen,
so, wenn er Bedeutung wie Gefahr der altehrwürdigen Dreieinigkeitslehre
und der Zwei-Naturen-Lehre Christi sichtbar macht,

wenn er im Kirchenlied den Unterschied zwischen dem Auferstc-
hungsglauben und der Ewigkeitshoffnung, dem jubelnden Aufschwung
der Seele in der Sterbestunde — „Jerusalem, du hochgebaute
Stadt" — hervorhebt; auch wenn er die Laien durch markante
Beispiele in die Probleme und Aussprachen der Theologen
der Gegenwart einführt oder die ewig neuen lapidaren Lutherworte
von der Macht des Glaubens aufklingen läßt. Denn das ist
der Sinn und die Absicht des ganzen Buches: Der Verfasser
möchte suchenden Seelen, die sich mit einer veralteten Dogmatik
nicht abfinden können, „ein klärendes und stärkendes Wort sagen
", ihnen in ihrem „undogmatischen" Christentum ein gutes
Gewissen bestätigen. Das große Beispiel aber, an dem das Recht
dieser Auffassung nachgewiesen wird, ist Martin Luther,
wie er in der Frühzeit seines großen Kampfes zu der befreienden
Einsicht durchbricht, daß es sich im Evangelium um eine Gnadenverkündigung
Gottes und nicht um gesetzliche oder kultische
Erläsungsmittel handelt. Und ferner ist für ihn der klassische
theologische Repräsentant einer solchen „undogmatischen"
Religionsauffassung Adolf von Harnack, dem von altgläubiger
Seite zwar der Titel eines großen Gelehrten, nicht aber
der eines Theologen zugebilligt wird (S. 104).

Damit hängt endlich zusammen die Frage nach dem, was den
Theologen zum Theologen macht. Der Verf. ist geneigt, in Übereinstimmung
mit dem Urteil des Amerikaners Kräling — S. 14 —
Luther weniger als systematischen Theologen, mehr als erbaulichen
Bibelausleger und Prediger gelten zu lassen. Indes, wer ist
Theologe wenn nicht Luther? Er ist religiöser Denker von hohem
Format. In doppelter Hinsicht: Einmal in der Neugestaltung, der
Ausrichtung alles Übrigen auf den einen Mittelpunkt, das Vertrauen
auf Gottes vergebende Gnade. Sodann aber auch in einer
kühnen Übersteigerung der altgriechischen Dogmen, wie sie den
Vätern dieser Lehren wohl als Ketzerei erschienen wäre. Zu beachten
ist auch der Hinweis A. v. Harnacks auf die Unterscheidung
der beiden in Philosophie wie Theologie auftretenden
Denkertypen, der „Genien der Summation" wie z. B. Origenes
oder Thomas, und andererseits der „Genien der Reduktion" wie
Luther oder Kierkegaard (vgl. Fr. Heiler in der Sammelschrift
„Luther in ökumenischer Sicht". Stuttgart: 1929, S. 184).

Hamburg Erich Franz

Neuenschwander, Ulrich: Glaube. Eine Besinnung über Weser»
und Begriff des Glaubens. Bern: Stämpfli & Cie. 1957. VIII, 338 S.
gr. 8°. Lw. DM 29.—.

„Dogma vincit historiam". Ulrich Neuenschwander, der bereits
195 3 durch sein gestrafftes Werk „Die Neue Liberale Theologie
" eine „Standortbestimmung" der freisinnigen Theologie
unternahm, hat durch sein neues großes Werk die Umkehrung
des obigen lateinischen Satzes in einer glänzenden und
tiefschürfenden Weise vollzogen. Eine Theologie, die 6ich zur
konsequenten Selbstentfaltung des protestantischen Prinzips bekennt
, kann dem Verfasser nur in tiefster Weise dankbar sein,
gerade zur gegenwärtigen Zeit uns diese Darlegung geschenkt zu
haben.

Neuenschwander stellt zu Beginn fest, welches Glaubensverständnis
allein der evangelischen Kirche angemessen sein
dürfe. Tatsache sei jedenfalls, daß das Wort „Glaube" nicht nur
verschiedenartige, sondern geradezu gegensätzliche Glaubensbegriffe
einschließe, wobei hauptsächlich an die Verwendung des
Wortes im protestantischen Umkreis gedacht ist.

Neuenschwander ist Schüler Martin Werners. Um dem Verfasser
bei seiner Besinnung „über Wesen und Begriff des Glaubens
" sachgerecht folgen zu können, ist die eingehende Kenntnis
der ungeheuren Materialkammer seines verehrten Lehrers Werner
wünschenswert, wobei an die Standardwerke „Entstehung des
Dogmas" und „Der protestantische Weg des Glaubens" gedacht
ist.

Mit großer Eindringlichkeit werden die beiden Grundanschauungen
vom Wesen des Glaubens immer wieder einander gegenübergestellt
: der doktrinäre und der existentielle Glaube.

Das Buch zerfällt in zwei fast gleich große Hauptteile, nachdem
einige unerläßliche Vorfragen über Sache, Wort und Ort des